E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Hersey Hiroshima
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-99027-196-4
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-99027-196-4
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
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geboren 1914 in Tianjin, China, war ein US-amerikanischer Schriftsteller, Reporter und Journalist (Time, Life Magazine, The New Yorker). Für seinen ersten Roman A Bell for Adano erhielt er 1945 den Pulitzer-Preis, 1946 sorgte er mit Hiroshima weltweit für Aufsehen (von diversen Buchausgaben seiner Reportage wurden bis heute mehr als 3 Millionen Exemplare verkauft). Als Kritiker des New Journalism, den er selbst wesentlich geprägt hat, veröffentlichte er danach v.a. Romane (u.a. The Wall, 1950; The Algiers Motel Incident, 1968). Er starb 1993 in Key West, Florida.
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Zwei
DAS FEUER
Unmittelbar nach der Explosion schloss sich Reverend Kiyoshi Tanimoto, nachdem er in überstürzter Flucht das Grundstück der Matsui verlassen und mit Staunen die blutenden Soldaten erblickt hatte, die aus dem Unterstand herausgekommen waren, an dessen Aushebung sie arbeiteten, teilnehmend einer alten Dame an, die, mit der linken Hand den Kopf stützend, mit der rechten einen Knaben von drei oder vier Jahren auf ihrem Rücken haltend, betäubt daherkam und unaufhörlich schrie: »Ich bin verwundet! Ich bin verwundet! Ich bin verwundet!« Tanimoto nahm das Kind auf seinen Rücken und führte die Frau an der Hand die Straße entlang, die von einer Staubsäule in der Nähe verdunkelt schien. Er brachte die Frau zu einer Volksschule nicht weit weg, die schon vorher für den Notfall zum Reservespital bestimmt worden war. Diese Fürsorgetätigkeit befreite Tanimoto mit einem Mal von seinem Schrecken. In der Schule sah er zu seiner Überraschung den ganzen Fußboden mit Glassplittern übersät; 50 bis 60 Verletzte warteten bereits auf Behandlung. Tanimoto überlegte, es müssten, obgleich das Entwarnungssignal ertönt war und er keine Flugzeuge gehört hatte, mehrere Bomben abgeworfen worden sein. Es fiel ihm ein, dass sich im Garten des Kunstseidefabrikanten ein Hügel befand, von dem aus er einen Überblick über ganz Koi – eigentlich über ganz Hiroshima – gewinnen könnte, und so lief er zu dem Grundstück zurück.
Von der Erhebung aus erblickte Tanimoto ein erstaunliches Panorama. Nicht nur ein Teil von Koi, wie er erwartet hatte, sondern alles, was er durch die Rauchwolken von Hiroshima sehen konnte, entwickelte dichte, grauenvolle Giftschwaden. Durch den allgemeinen Staubnebel stießen nah und fern Rauchballen empor. Tanimoto fragte sich, wie es möglich war, dass derart ausgedehnte Schäden aus heiterem Himmel hatten kommen können; nur wenige Flugzeuge in großer Höhe waren hörbar gewesen. In der Nähe brannten Häuser, und als mächtige Wassertropfen in der Größe von Marbeln zu fallen begannen, dachte Tanimoto, sie kämen von den Schläuchen der Feuerwehrleute, die die Brände bekämpften. (In Wirklichkeit waren es Tropfen kondensierter Feuchtigkeit, die aus dem brodelnden Turm aus Staub, Hitze und Spaltungsfragmenten niederfielen, einem Turm, der sich bereits meilenhoch in den Himmel über Hiroshima erhoben hatte.)
Als Tanimoto Matsuos Stimme hörte, der nach ihm rief und wissen wollte, ob er unverletzt sei, wandte er die Augen von dem Anblick ab. Matsuo war in dem einstürzenden Haus durch das Bettzeug in der vorderen Halle geschützt gewesen und hatte sich nun den Weg ins Freie gebahnt. Tanimoto antwortete kaum. Er war mit seinen Gedanken bei Frau und Kind, seiner Kirche, seinem Heim, bei seinen Pfarrkindern, alles dort drunten in diesem grauenvollen Düster. Wieder begann er vor Angst zu laufen – in Richtung der Stadt.
Frau Hatsuyo Nakamura, die Schneiderswitwe, arbeitete sich aus den Trümmern ihres Hauses heraus und erblickte Myeko, das jüngste ihrer drei Kinder, bis zur Brust verschüttet und unfähig, sich zu bewegen; sie kletterte über den Schutt, zog Balken heraus und schleuderte Ziegel zur Seite, alles in angestrengter Hast, um ihr Kind zu befreien. Dann hörte sie aus der Tiefe, es kam wie aus einer Höhle, zwei weinende Kinderstimmen: » Hilfe! Hilfe!«
Sie rief die Namen ihres zehnjährigen Sohnes und ihrer achtjährigen Tochter: »Toshio! Yaeko!«
Aus der Tiefe antworteten die Stimmen.
Frau Nakamura verließ Myeko, die nun wenigstens atmen konnte, und schleuderte in rasender Eile die Trümmer über der Stelle weg, von wo das Weinen zu kommen schien. Die Kinder hatten etwa drei Meter voneinander entfernt geschlafen, aber jetzt schienen die Stimmen von der gleichen Stelle zu kommen. Toshio, der Junge, hatte offenbar einige Bewegungsfreiheit, denn Frau Nakamura spürte, dass er, während sie sich von oben her hinunterarbeitete, den Holz- und Ziegelhaufen untergrub. Schließlich erblickte sie seinen Kopf, und hastig zog sie ihn daran heraus. Seine Füße waren, als hätte jemand sie sorgsam umwickelt, in ein Moskitonetz verstrickt. Er sagte, es habe ihn quer durchs Zimmer geschleudert und er sei unter dem Schutt auf seiner Schwester Yaeko gelegen. Diese sagte nun von unten her, sie könne sich nicht bewegen, weil etwas auf ihren Beinen liege. Frau Nakamura grub noch etwas tiefer, machte über dem Kind ein Loch frei und begann, es am Arm zu ziehen. » Es tut weh!«, wimmerte Yaeko. »Jetzt ist keine Zeit zu sagen, ob es weh tut oder nicht!«, schrie Frau Nakamura sie an und zog ihre jammernde Tochter mit einem Ruck heraus. Dann befreite sie Myeko. Die Kinder waren schmutzig und voll blauer Flecken, aber keines hatte auch nur einen einzigen Schnitt oder Kratzer.
Frau Nakamura führte die Kinder auf die Straße hinaus. Sie hatten nichts an als ihre Unterhosen, und obgleich der Tag sehr warm war, machte sie sich in ihrer Verwirrung Sorgen, es könnte ihnen kalt sein. Also ging sie zurück in den Trümmerhaufen und grub darin herum, bis sie ein für den Notfall bereitgelegtes Bündel Kleider fand, zog den Kindern Hosen, Blusen, Schuhe und die mit Baumwolle ausgepolsterten Luftschutzhelme an – die sogenannten –, und sogar, völlig widersinnig, Überröcke. Die Kinder waren still, ausgenommen die fünfjährige Myeko, die unaufhörlich Fragen stellte: »Warum ist es schon Nacht? Warum ist unser Haus eingestürzt? Was ist geschehen?« Frau Nakamura, die ja nicht wusste, was geschehen war (hatte man denn nicht das Entwarnungssignal gegeben?), schaute sich um und sah im Dunkeln, dass alle Häuser der Nachbarschaft eingestürzt waren. Das Haus direkt daneben, mit dessen Abriss der Nachbar beschäftigt war, um eine Feuergasse freizumachen, war jetzt sehr gründlich, wenn auch auf rohe Weise, niedergerissen. Der Besitzer, der sein Heim der Sicherheit der Gemeinschaft geopfert hatte, war tot.
Frau Nakamoto, die Frau des Vorsitzenden der lokalen Luftschutzvereinigung, kam mit blutendem Kopf über die Straße gelaufen und sagte, ihr Baby habe böse Schnittwunden erlitten, ob Frau Nakamura etwas Verbandzeug habe? Frau Nakamura hatte zwar keines, kroch aber wieder in die Überreste ihres Hauses und zog aus dem Schutt etwas weiße Leinwand hervor, die sie als Näherin bei der Arbeit verwendete, riss sie in Streifen und gab sie Frau Nakamoto. Als sie nach der Leinwand suchte, bemerkte sie die Nähmaschine; sie ging nochmals zurück und schleppte sie heraus. Selbstverständlich konnte sie die Maschine nicht mitnehmen, weshalb sie das Symbol ihrer Lebensgrundlage in dem Behälter versenkte, der über Wochen das Symbol ihrer Sicherheit gewesen war: in die zementierte Wasserzisterne vor dem Haus, wie sie jede Familie für den Fall eines Brandbombenabwurfs auf behördlichen Befehl herstellen lassen musste.
Eine nervöse Nachbarin namens Hataya rief Frau Nakamura zu, sie solle mit ihr in das Wäldchen des Asano-Parks flüchten, eines nicht weit entfernten Besitzes der Familie Asano am Fluss Kyo, der vormals die Toyo-Kisen-Kaisha-Schifffahrtslinie gehört hatte. Der Park war zum Evakuierungsgebiet für die Bewohner der nächsten Umgebung bestimmt worden. Als Frau Nakamura in einer nahe gelegenen Ruine Feuer ausbrechen sah (abgesehen vom eigentlichen Zentrum, wo die Bombe selbst einige Brände verursachte, entstanden die meisten Feuersbrünste im Stadtgebiet von Hiroshima dadurch, dass entzündliches Trümmerwerk auf Kochherde und stromführende Drähte fiel), schlug sie vor, man solle hingehen und den Brand zu löschen versuchen. »Machen Sie keine Dummheiten!«, sagte Frau Hataya. »Was, wenn neue Flieger kommen und wieder Bomben abwerfen?« Frau Nakamura machte sich also mit ihren Kindern und mit Frau Hataya nach dem Asano-Park auf. Sie trug einen Rucksack mit Reservekleidern, eine Decke, einen Schirm und ein Köfferchen mit Sachen, die sie im Luftschutzkeller versteckt hatte. Aus vielen Ruinen hörten sie im Vorübergehen erstickte Hilferufe. Das einzige Gebäude an ihrem Weg, das noch stand, war das Missionshaus der Jesuiten, dicht neben dem katholischen Kindergarten, in den Frau Nakamura ihre Tochter Myeko eine Zeitlang geschickt hatte. Als sie vorbeikamen, sahen sie Pater Kleinsorge in blutiger Unterwäsche, ein Köfferchen in der Hand, aus dem Haus laufen.
Gleich nach der Explosion, während Pater Wilhelm Kleinsorge, S. J., in Unterwäsche im Gemüsegarten umherwanderte, kam in der Dunkelheit Pater Superior LaSalle um die Ecke des Gebäudes. Sein Körper, vor allem der Rücken, war blutig. Infolge des Lichtblitzes hatte er sich vom Fenster abgewandt und wurde von Glassplittern getroffen. Pater Kleinsorge, der sich noch nicht zurechtgefunden hatte, brachte die Worte hervor: »Wo ist der Rest?« Im gleichen Augenblick tauchten die beiden anderen im Missionshaus wohnenden Priester auf: Pater Cieslik, selbst unverletzt, stützte den sehr bleichen Pater Schiffer, der von Blut überströmt war, das aus einer Schnittwunde oberhalb des linken Ohres hervorschoss. Pater Cieslik...