E-Book, Deutsch, Band 17, 272 Seiten
Reihe: Karin Krafft
Hesse / Wirth Der Wolfshund
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98707-249-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Niederrhein Krimi
E-Book, Deutsch, Band 17, 272 Seiten
Reihe: Karin Krafft
ISBN: 978-3-98707-249-9
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thomas Hesse, Jahrgang 1953, lebt in Wesel, ist gelernter Germanist, Kommunikationswissenschaftler und Journalist. Er war bis Ende 2014 in leitender Position bei der »Rheinischen Post« am Niederrhein tätig. Heute ist er freier Autor, Journalist und Publizist. Bekannt wurde er u.a. durch Niederrhein-Krimis zusammen mit Thomas Niermann und Renate Wirth.
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ZWEI
Jess Coster verließ das Haus in Richtung Sackgasse, dort standen all die neuen Häuser, von den Zugezogenen, wie man hier sagte. Ein Haus war schicker als das andere. Während der Bauphase war sie mit Maik immer wieder zu den Rohbauten gelaufen, sie hatten sich vorgestellt, wie es sei, in solch einem Palast zu leben, statt in ihrer baufälligen Kate. Im Endeffekt gehörten die Häuser und die Menschen, die sie bewohnten, zusammen, und keiner dieser protzigen Bauten hätte zu ihnen gepasst.
Gerade starteten die Mertens, Petra und Heinz, zur Arbeit nach Wesel. Maik nannte sie die Sesselfurzer, weil sie bei der Stadt angestellt waren. Man grüßte sich distanziert mit einem angedeuteten Nicken. Gegenüber, in einem der ersten fertiggestellten Neubauten, wohnten Peggy und Gerald Kleinschulte. Man sah die Frau nur selten, aber man hörte ihre schrille, stets meckernde Stimme. Wie so oft warf sie auch an diesem Morgen ihrem Gatten verletzende Grobheiten an den Kopf. Furchtbar, dachte Jess, während sie das Grundstück passierte, wie der das nur aushält.
Gerald Kleinschulte wurde für alle nur dann sichtbar, wenn er etwas durch die Gegend transportierte. Päckchen zur Post, Getränkekästen in den Kofferraum oder zurück ins Haus, ein stummer Diener seiner keifenden Gattin. Die Dörfler nannten ihn den »Sherpa von Krudenburg«.
Dort, wo die Tibetfähnchen munter im Vorgarten flatterten, wohnten Jutta und Astrid Weihers, zwei Lehrerinnen mit ihren Töchtern Helen und Sina. Sie sprachen offen über ihre künstlichen Befruchtungen und die Schwangerschaften, die ihnen den ersehnten Nachwuchs gebracht hatten. Jutta wurde von den Mädels Mutti genannt, Astrid war die Mama. Sie umschwirrte die Kinder wie ein Helikopter, versuchte, alle Gefahren von ihnen abzuhalten. So durften die zwei nur zu Liam, um mit ihm zu spielen, wenn Jutta es ausnahmsweise erlaubte. Die vielen Tiere und, o Gott, jetzt der riesige Hund, das ging in Astrids Augen gar nicht, alles viel zu gefährlich. Dafür genoss Liam manchmal die Vorzüge von überbordender Mütterlichkeit, wenn er zu den Mädels ging, hielt es jedoch nie lange dort aus. Immerhin grüßten sie freundlich, und man konnte sich über den Zaun hinweg über das Wichtigste austauschen.
Ebenso, fast schon hysterisch, verhielt sich Jennifer Tackenberg, die junge Frau, deren Tätowierungen auf dem Körper sich durch ihre Schwangerschaft gerade in einem Dehnungstest befanden. Lauthals verkündete sie, man solle den Kontakt zu den irren Iren und dem ganzen Viehzeug meiden, die würden nur Krankheiten übertragen. Als Grace ausgebüxt war und schnatternd mit ausgeweiteten Flügeln die Straße entlanglief, hatte ihr Ricardo plötzlich mit einer Pistole schützend vor seiner Frau gestanden, und wäre es Maik nicht gelungen, die Gans rechtzeitig einzufangen, hätte dieser hirnlose Muskelprotz den Vogel auf offener Straße mitten in einem Wohngebiet erschossen. Seitdem ging Familie Coster diesem Paar aus dem Weg. Die Tackenbergs verließen selten das Haus, ließen sich mit allem Möglichen beliefern und arbeiteten seit Corona im Homeoffice. Ricardo musste zweimal in der Woche zu seiner Firma in Geldern, man sah ihn dann aus dem Haus schleichen, seinen Tesla auf die Straße rollen und abends flott wieder die Tür hinter sich schließen.
An ordentlichen Vorgärten vorbei, wo es mehr Stein als Leben gab, steuerte Jess das Haus von Bert Tankfort an, das neben diesen verhuschten Tackenbergs und den glücklichen Wertheims lag. Letzteren gehörte eine kleine Kette mit Outdoorprodukten, und sie benahmen sich stets, als könnten ihnen neue Kunden begegnen, die es zu gewinnen galt. Ihre Begrüßungen und ihr Lächeln wirkten aufgesetzt, sie stellten sich als eine mustergültige Familie in Szene, ähnliche Kleidung und Haarschnitte, sportliches Schuhwerk. Ihr Sohn Finn Maximilian war im gleichen Alter wie Ava. Er wirkte immer wie ein Model aus einem Jugendmagazin, ein strebsamer Gymnasiast, der sich das perfekte Outfit und geschäftsmäßige Lächeln bereits von seinen Eltern abgeschaut hatte.
Bert Tankfort war anders. Alleinstehend, eine Art Lebemann, von dem niemand so genau wusste, womit er eigentlich sein Geld verdiente. Jess interessierte das nicht, für sie war er ein zuverlässiger Arbeitgeber, der immer pünktlich und gut zahlte. Sie putzte regelmäßig bei ihm, und manchmal übernahm sie den Service, wenn er Gäste hatte, eine Party feierte, auf der auch echte Promis erschienen. Jedenfalls hatte Jess schon den einen oder anderen Sänger, Politiker, auch bekannten Maler bei ihm aus der Nähe gesehen.
Sie traute sich nicht, nach Autogrammen zu fragen, machte aus der Hüfte heraus Fotos mit ihrem Smartphone, die verwackelte, kryptische Details zeigten, welche sie stolz präsentierte: »Wisst ihr, wen ich gestern ganz aus der Nähe gesehen habe? Ihr werdet es nicht glauben!«
Dann nannte sie einen Namen und zeigte die Rückenansicht oder einen verwackelten Arm mit einem Glas in der Hand.
»Is wieder mal Promialarm«, war Maiks regelmäßiger Kommentar.
Jedenfalls profitierte ihre ganze Familie von Bert, und Jess war darauf bedacht, diesen Job nicht zu verlieren. Und jetzt sollte niemand mehr Einblick in Berts Garten haben. Er freute sich darauf, nackt seine Bahnen zu ziehen. Jess musste Maik nicht zu dem Auftrag, eine Mauer um den Bereich mit dem neuen Pool zu bauen, überreden.
Berts Geheimnisse, zum Beispiel wie er sein Geld verdiente, das er gern wieder unter die Leute brachte, gingen Jess nichts an. Wenn die Tür zu seinem Arbeitszimmer geschlossen war, wünschte er nicht gestört zu werden. Oberstes Gebot! Niemals auch nur klopfen, keine Geräusche in Türnähe. Ansonsten konnte sie sich die anfallenden Arbeiten im eigenen Rhythmus vornehmen und fand stets auf dem meterlangen Esstisch das Geld für die letzten Stunden.
»Eine richtige Spießersiedlung ist das geworden«, hatte Maik eines Abends mit Blick auf die bezogenen Neubauten resümiert und einen großen Schluck Bier genommen.
Jess nahm ihm die Flasche aus der Hand, ließ das dunkle, leicht perlende Getränk die Kehle hinunterlaufen, nickte und erwiderte: »Aber alle ziehen die Hose vor den Schuhen an.«
***
Jennifer Tackenberg stand seitlich neben dem langen Flurfenster und beobachtete, wie sich Jess Coster noch einmal das Haar ordnete und einen leicht rosafarbenen Labello aus der Jackentasche holte, um sich die Lippen nachzuziehen. »Da ist sie wieder, diese Frau aus dem verkommenen Haus.«
Ricardo trat zu ihr, gemeinsam schauten sie zu Jess, die stehen geblieben war, um in ihrem Stoffbeutel nach dem Schlüssel zu suchen. »Du weißt doch, dass die mehrmals in der Woche da putzt.«
»Ich verstehe einfach nicht, dass der Bert sie ins Haus lässt. Schau dir an, wie deren Bleibe aussieht, putzen kann die doch bestimmt nur oberflächlich. Ich bin so froh, dass wir den Vertrag mit den Putzperlen haben, die riechen frisch und machen einen guten Job.«
Ricardo wandte sich ab, zog sein Sakko über, schulterte seine Laptoptasche und küsste Jennifer drei Mal, Wange, Wange, Mund. »Es wird bestimmt spät heute. Und du musst jetzt langsam an den Rechner und dich einloggen. Pass gut auf euch auf.«
Er streichelte sanft über den Babybauch, den seine Frau stolz vor sich hertrug, wartete noch einen Moment, bis Jess Coster die Tür hinter sich geschlossen hatte, und verließ das Haus.
Smarthome, kurze Kommandos vereinfachten das Leben. »Tür zu. Das Garagentor öffnen. Den Wagen vorfahren.«
Die Garage öffnete sich wie von Geisterhand, Ricardo blieb stehen und wartete darauf, dass sein Tesla sich ausparkte und exakt neben ihm zum Stehen kam.
»Das Garagentor schließen.«
Blass waren die beiden, die winkende Frau hinter der Scheibe und der Mann, der nun hinter dem Steuer des E-Autos saß. Jennifer wollte sich bis zur Geburt des Kindes nicht mehr von daheim wegbewegen, außer zu den Vorsorgeuntersuchungen verließ sie das Haus nicht mehr, zu viele Gefahren, unbekannte Viren und Bakterien lauerten da draußen. Ricardo war klar, dass er nach seiner Rückkehr am Abend erst mal ganz flott unter der Dusche verschwinden müsste, während seine gesamte Kleidung gleich in der Wäsche landete. Bevor er nicht frisch gekleidet war, brauchte er seiner Frau nicht vor die Augen zu treten, geschweige denn sie zu berühren oder gar zu küssen.
Manchmal ging ihm dieses ganze Gehabe gehörig auf den Sack und er wünschte sich einen Hauch Normalität, während seine Frau stolz auf ihn war, weil er ihre Regeln befolgte.
An der Kreuzung Dinslakener Straße und B 58 im Weseler Ortsteil Drevenack überzog ein vielsagendes Lächeln sein Gesicht. Nach Geldern, zu seinem Firmensitz, müsste er links abbiegen. Ricardo Tackenberg blinkte nach rechts.
Ein bisschen Freiheit musste sein.
***
Jess wusste sich genauestens zu verhalten, um ihren Arbeitgeber nicht zu verärgern. Ein verhaltenes »Hallo?« blieb ohne Antwort. Mit einem Rundumblick nahm sie wahr, dass die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen war, die Terrassentür offen stand und ihr Geld auf dem Tisch lag. Bert war also beschäftigt und wollte nicht gestört werden.
Sie zog ihre Jacke aus, hängte sie über eine Stuhllehne im Esszimmer, stellte ihre Schuhe daneben. Sie nahm das Smartphone zur Hand und schaltete den Ton auf lautlos, nicht einmal das kleinste Geräusch würde sie verursachen. Den Flur, an dem die Tür zum Arbeitszimmer lag, würde sie als Erstes wischen, sich dann im oberen Geschoss dem Schlafzimmer und dem Bad widmen, die Treppe zum Keller wischen, schauen, ob bei den Vorräten alles in Ordnung war und ob Wäsche in der Maschine lag, die sie in den Trockner packen musste. Und wie immer zum Schluss würde sie sich die Küche vornehmen, diese wundervolle...