E-Book, Deutsch, Band 5, 256 Seiten
Reihe: Karin Krafft
Hesse / Wirth Die Eule
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-86358-009-4
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Niederrhein Krimi
E-Book, Deutsch, Band 5, 256 Seiten
Reihe: Karin Krafft
ISBN: 978-3-86358-009-4
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Lkw-Fahrer rast in eine Pilgergruppe. Was nach einem tödlichen Unfall aussieht, entwickelt sich zu einem aufsehenerregenden Mordfall - und was wie die Folgen eines Machtkampfs innerhalb einer Sekte wirkt, hat seinen Ursprung 30 Jahre zuvor in deutsch-deutscher Geschichte und führt Kommissarin Karin Krafft, unterstützt von der klugen "Eule", aus dem tiefen Westen geradewegs ins thüringische Erfurt. Dort verriet einst die Tochter ihren größten Feind an die Stasi - es war ihr eigener Vater. Raffinierte Rache, Verrat am Verräter oder späte Sühne - am Niederrhein zwischen Wesel und Xanten, Kevelaer und Moers, Dinslaken und Hamminkeln findet sich die Lösung eines ebenso bewegenden wie bemerkenswerten Falls.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
ZWEI 5. Mai 2010 Cornelia Garowske drückte auf den Türöffner, ohne über die Sprechanlage zu erfragen, wer geklingelt hatte. Das schlichte Mehrfamilienhaus mit dem Flachdach befand sich im Weseler Ortsteil Feldmark in unmittelbarer Nähe zum Berufskolleg, auf den Klingelschildern dominierten die fremdländischen Namen. Das Treppenhaus wirkte unwirtlich und kahl. Das offene Lächeln der älteren Dame hingegen, die in der geöffneten Tür wartete, lud zum Verweilen und Plaudern ein. »Sie schätzen Pünktlichkeit, Frau Krafft. Das gefällt mir.« »Ich bemühe mich, das klappt nicht immer. Wir konnten die Pressekonferenz heute Morgen pünktlich beenden, und Ihr Haus ist nicht weit von der Kreispolizeibehörde entfernt. Ihnen geht es heute besser als gestern, das freut mich.« Die Hauptkommissarin betrat nahezu minimalistisch eingerichtete Räume. Ihre Jacke wirkte an der Garderobe wie ein Fremdkörper. Freundlich dezente Farben herrschten vor, nichts, kein Möbelstück, kein Gegenstand tat sich hervor. Ebenso gab es keinerlei Symbole, die auf eine Glaubensgemeinschaft schließen ließen. Karin dachte an ein Buch, das sie letztens in Händen gehalten hatte, eine Anleitung, sein Leben von unnötigem Ballast zu befreien. Simplify your life. Frau Garowske war dies anscheinend geglückt. Zufrieden und ausgeglichen wirkte sie in ihrer Umgebung, die einfach, jedoch keineswegs ärmlich war. Die Dinge standen an ihrem Ort, wirkten für sich. Eine Vase auf einem schlichten Sideboard, eine Topfpflanze auf der Fensterbank, ein Gemälde über dem alten Zweisitzersofa, ein längliches, schmales Bild, die Momentaufnahme eines Meersaums mit lebendig dargestellten, sich brechenden Wellen. Zwei schlichte Tassen standen auf dem Couchtisch. »Nehmen Sie Platz, ich hole uns den Kaffee.« Karin Krafft setzte sich auf das Sofa, stand vor dem Problem, ihren Rucksack unterzubringen, ohne dass er wie ein Gegenstand von einem anderen Stern wirkte. Rechts neben die Lehne auf den Boden, in Griffnähe stellte sie ihn ab. Cornelia Garowske brachte ein kleines Tablett herein, goss Kaffee ein, fragte nach Milch und Zucker, trug es wieder zurück in die Küche. Alles muss seine Ordnung haben, dachte Karin, während ihre Gastgeberin sich kerzengerade in den einzelnen Sessel ihr gegenüber setzte, Untertasse und Tasse hochnahm, kurz und geräuschlos umrührte. Sie wirkt wie ein Fels in der Brandung, dachte Karin. Nach einem bedächtigen Nippen stellte sie die Tasse wieder ab und legte ihre sehnigen Hände entspannt in ihren Schoß. »Ich habe mir gedacht, dass Sie sich exakt dort hinsetzen würden.« Karin schaute sich verwundert um. »Sie sitzen in der rechten Ecke, den rechten Arm auf die Lehne gelegt. Sie sind bereit für konzentrierte Arbeit, haben gleichzeitig als Rechtshänderin ihren Rucksack in greifbarer Nähe. Wir denken mit rechts und fühlen mit links.« Karin nickte anerkennend. »Bestimmt haben Sie Ihr Handy stumm geschaltet, damit wir ungestört bleiben.« So, sie hat genug Überlegenheit bekundet, jetzt reicht es, dachte Karin. »Sie haben eine hervorragende Beobachtungsgabe. Das bestätigt meinen Eindruck, den ich gestern von Ihnen gewonnen habe.« »Und Sie stehen wieder mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Ihre Irritation hat Ihnen zu schaffen gemacht. Sie sind hart im Nehmen, gehen dabei über Grenzen. Ihre eigenen und die anderer Menschen.« Karin Krafft schwankte innerlich zwischen dem blinkenden Rotlicht für gebotene Vorsicht und Anerkennung. Frau Garowske, diese unscheinbare Frau mit kurzen grauen Haaren, hellwachen graublauen Augen und dem Hauch von Lippenpflege, der sich fettend in die Lippenfalten zog, diese Frau fesselte sie. »Leider muss ich auf die gestrigen Ereignisse zurückkommen. Sehen Sie sich in der Lage, heute auf meine Fragen zu antworten?« »Ich bin aufmerksam, wach und stehe in Demut zur Verfügung.« Sie senkte ihren Blick und wartete auf die Fragen. »Schildern Sie mir bitte den Ablauf des gestrigen Morgens. Von wo aus sind Sie gestartet?« Für einen Moment schloss sie die Augen, begann nach einem tiefen Atemzug mit fester Stimme zu berichten. »Im Xantener Gästehaus haben wir übernachtet, hatten den Fluss am Nachmittag des Freitags mit dieser Fähre Keer Tröch von Bislich aus überquert. Sehr hübsch da. Um sechs in der Früh begann unser Tag mit einem gemeinsamen Gebet. Wir konnten einen der Tagungsräume in Ruhe nutzen. Früher, als es noch Norberthaus hieß, gab es dort eine Kapelle, modern, aber ein gesegneter Ort der Besinnung. Jetzt ist an dieser Stelle der Schankraum, eine Schande. Wir beteten in der Morgendämmerung für einen guten Weg, gute Gedanken und die Erleuchtung unserer Herzen auf dem Pilgerweg. Alle waren hellwach und bereit, den Tag willkommen zu heißen. Ein reichhaltiges Frühstück erwartete uns im Speiseraum. Um sieben stand unser kleines Gepäck bereit, um in das Begleitfahrzeug geladen zu werden. Wir begaben uns planmäßig auf den stummen Weg.« »Darf ich Zwischenfragen stellen?« »Bitte.« »Was bedeutet das, ›stummer Weg‹?« »Innere Einkehr bedarf keiner Worte. Wortlos und stumm miteinander zu beten sind wir gewohnt, unsere Ebene ist die geistige. Wir hatten uns vorgenommen, bis Kevelaer zu schweigen. Unser Bruder Theodor übernahm das Banner von mir, mir war der Arm zu schwer nach den Kilometern des Vortages. Am Landhaus Röschen bogen wir auf die Xantener Straße ab, ein strahlender Tag öffnete unsere Herzen, der Weg zur Anhöhe der Sonsbecker Schweiz lag vor uns, wir hatten gutes Tempo. An der Kreuzung nach Labbeck kam Unruhe in der Gemeinschaft auf, da reichte auch ein strenger Blick nicht mehr aus. Der Lkw stand oben auf der Anhöhe, kaum ein anderes Fahrzeug war auf der Straße. Das einzige Geräusch kam von diesem Kraftwagen, der Fahrer spielte mit dem Gaspedal, ließ den Motor in Abständen aufheulen.« »Das muss doch gespenstisch gewirkt haben. Aber sie blieben immer noch stumm?« »Es gab keine Veranlassung zu sprechen, Frau Krafft, da stand ein Fahrzeug auf der Straße, weit weg von uns, und mochte Schwierigkeiten mit dem Motor haben. Die Situation hatte nichts direkt Bedrohliches an sich. Ich brachte die Maschine erst mit uns in Verbindung, als sie den Hügel herunterraste und die Fahrbahn wechselte.« Sie verstummte und rieb sich kurz die Hände, drückte die Fingerkuppen aneinander, betrachtete ihre Daumen, die hochragten. »Das ging am Ende alles so schnell. Von der Fahrbahn wechselte er auf den Radweg, da befand er sich schon vor uns. Der Kai Manzel schrie, der würde uns treffen, der käme auf uns zu, da war es auch schon passiert. Es krachte, Menschen flogen durch die Luft, stoben auseinander wie aufgescheuchte Tauben. Schreie. Metallisches Getöse, als der Wagen in die Böschung kippte. Der Motor würgte ab. Dann war es für einen Moment still. Ich wagte kaum zu atmen, konnte nicht glauben, was da geschehen war.« »Die Unverletzten?« »Waren alle aus den letzten Reihen. Man hatte uns regelrecht niedergemäht, Frau Krafft, die weltliche Kraft eines Lastkraftwagens hatte einen Großteil meiner Glaubensbrüder und Schwestern einfach aus der Blüte ihres Lebens gerissen. Die mir bestens bekannten Menschen lagen da mit furchtbaren Verletzungen, Blut schoss aus zerrissenen Arterien. Drei Tote! Ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte, alles um mich herum, was noch lebte, schrie nach Hilfe. Ich rüttelte die anderen, die noch in Ordnung waren, und wir verteilten uns. In dem Augenblick, als ich aus meinem Schal eine Kompresse für Monika machte, kamen uns die Malteser zu Hilfe und übernahmen die Erstversorgung der schlimmsten Verletzungen. Dann geschah alles sehr schnell, die Polizei, die Hilfskräfte, das Zelt. Ich sprach ein intensives Gebet für alle, die jetzt abtransportiert wurden, ein Hubschrauber nach dem anderen landete und startete nach wenigen Minuten, das Geflirre der Blaulichter warf unruhige Blitzmuster in das Zelt. Theodor war tot, Kai hatte keine Chance gehabt, und Holger lag zerquetscht unter dem Lkw.« Karin mochte die eingetretene Stille nicht durchbrechen, trank langsam den abgekühlten Kaffee. Unvermittelt schaute Cornelia Garowske auf, blickte ihr geradewegs in die Augen. »Ich lieh mir von diesem jungen Malteser ein Handy und telefonierte kurz mit dem Diakon, der in Kevelaer die Pilgerbetreuung übernimmt. Er war sehr betroffen, bot mir Unterstützung an. Richtig anrührend erkundigte er sich nach meinem Befinden. Er ließ sich den Hergang schildern und wollte zur Unfallstelle gefahren kommen, um mich zu unterstützen. Ich lehnte sein Angebot ab. Das musste sich nicht noch ein Mensch anschauen, was dort los war.« Sie ist gar nicht so unnahbar, wie sie am Vortag erschien, registrierte Karin. »Erst nahm ich Abschied von den Verblichenen, entließ sie auf den Weg ihrer endgültigen Bestimmung. Dann betete ich um Trost und Hoffnung für die Verletzten, und als Letztes wollte ich den Unglücksfahrer mit einbeziehen. Das ging nicht. Ich erschrak über mich selbst. Ich habe Jahre der inneren Einkehr gebraucht, um diese Glaubensgemeinschaft aufzubauen und souverän zu führen, und nun versagte ich an einem so einfachen Grundsatz wie Vergebung. Mit Monikas Blut an meinen Fingern konnte ich dieser Kreatur nicht vergeben.« Am liebsten hätte Karin sie in den Arm genommen, ihr die Hand getätschelt. Sie wollte etwas Tröstliches beitragen. »Frau Garowske, das ist doch menschlich in so einer Situation. Inzwischen haben Sie sich hoffentlich verziehen?« Die Miene der Frau bekam harte Züge, von einem Augenblick zum anderen gewann ihre Stimme eine eindrucksvolle Strenge. »Verzeihen! Sie haben...