Heuser Augustas Garten
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8819-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8819-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als die fünfjährige Augusta mit ihrer Mutter Barbara ihr Zuhause verlässt, ahnt sie nicht, dass dies ein Abschied von ihrem bisherigen Leben ist. Den Ort, an dem sie bald darauf wohnen, mag sie nicht. Genauso wenig wie Eduard, den Freund der Mutter. Doch Barbara verschweigt ihrer Tochter die Wahrheit. Auf Augustas Frage, wann sie endlich wieder nach Hause fahren, antwortet sie stets nur mit einem unbestimmten »Bald«. Dieses Wort gibt Augusta Zuversicht, doch an ihrem sechsten Geburtstag muss sie erkennen, dass sie nie mehr zu ihrem Vater zurückkehren werden. Augusta läuft davon.
Während die Polizei nach dem Kind sucht, wird die Mutter in ihrer Angst auf sich selbst zurückgeworfen. Es zeigt sich, dass ihr Leben schon immer von Flucht und der verzweifelten Suche nach Halt geprägt war. Auf fatale Weise hat Barbara die Fehler ihrer Familie wiederholt – und wird damit das Leben ihrer Tochter auf immer verändern.
›Augustas Garten‹ ist die ebenso poetische wie aufwühlende Geschichte einer Trennung und eines ersehnten Neubeginns, eine Geschichte über das Verschwinden und über die tragischen Folgen, die aus zu langem Schweigen erwachsen können. Ein Roman, der zu Herzen geht.
Autoren/Hrsg.
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I BALD Augusta liegt auf dem Rücken. Sie ist schon eine ganze Weile wach. Im Zimmer ist es noch ziemlich dunkel, aber die Rollläden haben Ritzen, durch die blinzelt jetzt das Licht herein. Leider hat das Licht keinen Mund. Es kann also nichts sagen. Guten Morgen zum Beispiel. Oder: Alles wird wieder gut. »Morgen«, sagt Augusta. Sie weiß eigentlich nicht so genau, zu wem sie das sagt. Es ist ja niemand da. Der Morgen streut jetzt Körnchen auf den Teppich. Körnchen aus Licht. Sie stellt sich vor, wie eins nach dem anderen im Bauch vom Zimmer verschwindet. So lange, bis das Zimmer satt ist. In ihrem Bauch beginnt es zu grummeln. Ja, sie hat Hunger, aber sie will nicht aufstehen. Außerdem ist es Sonntag, da macht Aufstehen erst recht keinen Spaß. Sie weiß natürlich, dass sie bald sowieso aufstehen muss. »Du musst. Du musst. Du musst«, murmelt Augusta und zieht die Bettdecke ein Stückchen höher. Normalerweise steht sie gerne auf, und frühstücken, das tut sie auch sehr gerne. Normalerweise. Hier aber, da schmeckt ihr nichts so richtig. Vielleicht weil – also, das Brot. Das fühlt sich so hart an im Mund, und irgendwie bitter. Deswegen heißt es auch Schwarz-Brot. Die anderen Sachen, die es dazu gibt, die kennt sie alle von daheim: Marmelade und Honig und Butter. Manchmal auch Käse. Oder Leberwurst. Dazu ein Glas Milch. Die Leberwurst ist gut. Wenn es die gibt, dann schmiert sie davon so viel sie kann auf das Schwarzbrot, damit es mehr nach Wurst schmeckt als nach dem Schwarz. Wenn es aber keine Leberwurst gibt, dann tut sie sich eben Marmelade oder Käse drauf und schluckt ganz schnell alles runter. Der Käse und die Marmelade schützen nämlich nicht so gut vor dem Harten und Bitteren. Nicht so gut wie die Leberwurst. Ein bisschen was von dem Schwarzbrot, nein, eigentlich so viel wie möglich, lässt sie außerdem in Krümeln und kleinen Stückchen unterm Tisch verschwinden, wenn Eduard gerade mal nicht hinsieht. Die Mama sieht hin, aber sie tut so, als merkt sie es nicht. »Schwarzbrot ist sehr gesund«, sagt Eduard. Eduard ist der Besuch. Nein, falsch. Sie sind der Besuch. Sie sind zu Besuch bei Eduard. Eine Fliege wacht auf. Augusta hört sie summen, dann ist es eine Weile still. Wahrscheinlich krabbelt sie jetzt über die Fensterscheibe. Das Fenster ist aber zu. Und die Rollläden sind auch noch davor. Da kommt zwar Licht durch, aber die Fliege natürlich nicht. Das Summen beginnt wieder. Soll sie das Fenster aufmachen, damit die Fliege rausfliegen kann? Aber dafür muss sie aufstehen, und das will sie nicht. Und außerdem muss sie dann auch die Rollläden hochziehen, und das ist ganz schön schwer. Das Summen wird lauter. Augusta zieht sich die Bettdecke über den Kopf. Krabbelt die Fliege jetzt etwa auf dem Bett herum? Augusta versucht sehr leise zu atmen. Das ist gar nicht so einfach. Unter der Decke kriegt man nämlich schnell keine Luft mehr, so als ob einem jemand die Nase zuhält oder den Mund. SSSSS… Die Fliege ist jetzt sehr nah. So nah und so laut, als ist sie in ihrem Kopf drin. Augusta kommt wieder unter der Decke hervor. Sie atmet hastig und ganz tief, bis wieder genügend Luft in ihr drinnen ist. SSSS… Augusta wedelt mit der Hand nach dem Summen. »Sei still«, sagt sie. Die Fliege ist tatsächlich still. Vielleicht ruht sie sich aus. Oder vielleicht wartet sie. Darauf, dass das Fenster aufgeht zum Beispiel. Vielleicht sucht sie auch nach einem anderen Weg ins Freie. Dumme Fliege. Das Zimmer ist zu. Eduard hat ihr dieses Zimmer gegeben. »Das ist jetzt deins«, hat er gesagt. Außer dem Bett, in dem sie gerade liegt, stehen ein Stuhl und ein Tisch darin, und auch ein Schrank ist hier und eine Tafel mit bunter Kreide. Ihres daheim ist aber viel schöner. Es ist nämlich ein richtiges Kinderzimmer, mit all ihren Sachen darin. Daheim – Augusta will an ihr Kinderzimmer denken, und gleichzeitig will sie es auch nicht. Etwas schiebt sich dazwischen; so wie eine Scheibe, die man nicht gleich sieht, aber spürt, wenn man dagegenrennt. Schritte, ganz nah. Eine Tür geht auf und zu, Wasser läuft und steht wieder still, ein helles Husten. Mama – Augusta schließt die Augen, als würde sie dadurch unsichtbar. Sie will nicht, dass gleich die Tür aufgeht, sie will nicht, dass die Mama ihr die Bettdecke wegzieht, dass ihre Stimme das schöne warme Dunkel verjagt und sie da rausgeschickt wird. In den langen Flur, in die Küche, an den hohen strengen Tisch, zum Schwarzbrot, zu Eduard, zum Waschbecken, zum Haarekämmen, vor die Tür, auf die Straße, zu den Bordsteinkanten, Hecken, Garagen, Mauern, zu den lauten Glocken, den Stufen, in die Reihen voller fremder Beine, Schultern, Rücken, in die harten Sitzbänke. Aufstehen, hinsetzen, murmeln, schweigen, hingucken, weggucken. Sie will nicht aufstehen, sich bewegen, angeguckt werden, sprechen, schweigen, stehen, niederknien auf Kommando. Sie will nicht in die Kirche gehen. Die Mama sagt, sie muss nicht, wenn sie wirklich nicht will. Aber Augusta weiß, dass sie eigentlich doch muss, weil Eduard in die Kirche geht und weil Eduard will, dass sie mitgeht, und weil die Mama will, dass sie »etwas mit Eduard unternimmt«, wie sie sagt. Die Mama geht nicht mit, sie ist noch nie in die Kirche gegangen. Augusta kann sich jedenfalls nicht daran erinnern. »Früher, aber dann nie wieder«, sagt die Mama, als Augusta sie danach fragt. Augusta fragt warum, und die Mama sagt, sie glaubt nicht mehr daran. »Woran?« »An die Kirche. Aber wenn du mitgehst, dann freut sich Eduard.« »Und wann gehen wir wieder nach Hause?« Die Mama zögert. »Bald.« »Wann ist ›bald‹?« »Bald ist bald. Jetzt sind wir erst einmal hier.« — »Da, da und da.« – Eduard kommt nicht ins Zimmer hinein. Seine Stimme aber schon. Und sein Finger zeigt Augusta ganz genau die Stellen auf dem Teppich, die sie mit Kreide besudelt hat. Besudelt – wieder so ein Wort, das sie gar nicht kennt. Aber so, wie Eduard das zu ihr sagt, muss es etwas Schlechtes sein, das sie getan hat. Dafür gibt es jetzt aber ein schönes blaues Haus, will sie ihm sagen. Dort auf der Tafel. Mit einem Garten aus lila und rosa Blumen. Und sie hat ihren Namen mit großen Buchstaben darübergeschrieben, genauso wie sie es im Vorschulkindergarten gelernt hat. Da hängt also ihr Name über dem blauen Dach in der Luft, und es sieht so aus, als ob er gleich herunterfällt. Aber Augusta sagt nichts. Sie hockt sich auf den Teppich und betupft einen der Kreideflecken vorsichtig mit dem nassen Lappen, den Eduard ihr gegeben hat. Die Kreide geht auch gut weg, aber zu Augustas Schreck ist nun da, wo eben noch der bunte Fleck gewesen ist, ein neuer, dunkler Fleck. Der neue Fleck ist größer als der alte und mächtiger. Weil sie den Lappen ja schon benutzt hat, und jetzt ist nichts anderes mehr da, um ihn zu vertreiben. Augusta berührt den Fleck vorsichtig mit dem Finger. Sie zögert. Soll sie jetzt alle Flecken in so dunkle verwandeln? Warum soll das besser sein? Es kann deswegen besser sein, weil Eduard es besser findet. Ja, Eduard muss diese dunklen Flecken besser finden als die bunten, denn Eduard hat ihr schließlich den Lappen gegeben. Und er hat auf die hellen Flecken gezeigt und gesagt, die müssen weg. Vielleicht will Eduard auch, dass sie einen neuen Teppich kauft, es ist ja Eduards Teppich, der jetzt kaputt ist, aber dazu braucht man Geld, und Geld hat sie keins, außer den fünfzig Pfennig, die ihr die Mama in der Woche für ein Eis oder andere Süßigkeiten gibt. Manchmal gibt sie ihr auch eine Mark, dann kann sie sich Brause, Weingummi und das Eis kaufen. Aber ein Eis wird Eduard nicht wollen, und das Eis kann schließlich auch Flecken auf den Teppich machen, und die Flecken müssen weg. Also geht Augusta zur nächsten Stelle und dann zur nächsten und so weiter, bis alle Kreidestellen in nasse dunkle Flecken verwandelt sind und der hellgraue Teppich aussieht wie das Fell eines kranken Tieres. Augusta besieht sich dieses Teppich-Wesen, das da plötzlich einen Buckel macht, es ist ihr unheimlich. Das Wesen muss schon lange unsichtbar hier gewohnt haben. Und sie ist einfach so hierhergekommen in sein Heim, hat es gestört, und nun ist es krank. Vielleicht will es, dass sie fortgeht? Augusta setzt sich auf die Bettkante. Nein, das ist nicht sicher genug. Lieber ganz aufs Bett. Sie wickelt sich in ihre Decke. Was soll sie tun? Sie kneift die Augen fest zu. Geh weg, geh weg, geh weg! Als sie die Augen wieder öffnet, liegt das Wesen immer noch da. Aber sind die Flecken nicht schon ein klein wenig blasser geworden? Augusta ist sich nicht sicher. Sie kann natürlich aufstehen und nachsehen. Und was ist, wenn doch alles ganz unverändert ist? Vielleicht tut das Wesen ja auch nur so, als schläft es gerade ein, um sie dann erst recht zu erschrecken. Am besten, sie rührt sich nicht von der Stelle. Aber was ist, wenn sie mal dringend muss? Singen, die Mama singt ihr immer was vor, wenn sie Angst hat oder wenn sie nicht einschlafen kann. »A-Be-Ce, die Katze lief im Schnee. Und als sie wieder nach Hause kam, da hat sie weiße Stiefel an, ojemine, ojemine, die Katze lief im Schnee …« Hm. Nein, alles ist noch so wie vor dem Lied. Sie versucht es mit einem anderen, summt es sicherheitshalber leise, wie man es bei Schlafliedern tut, summt es wieder und wieder: »Summ, summ, summ, Bienchen summ herum. Ei, wir tun dir nichts zuleide, flieg’ nur aus in Wald und Heide, summ, summ, summ …« – Ihr Herz fängt...