Hickel | Die Tyrannei des Wachstums | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Hickel Die Tyrannei des Wachstums

Wie globale Ungleichheit die Welt spaltet und was dagegen zu tun ist

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-423-43373-0
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



'Ein Buch voller Fakten, Zorn und Herzblut.' Anthony Loewenstein
Seit Dekaden hören wir, Entwicklung hilft: Die südlichen Länder der Welt schließen zum reichen Norden auf, die Armut hat sich in den vergangenen 30 Jahren halbiert, bis zum Jahr 2030 ist sie verschwunden. Das ist eine tröstliche Geschichte, die von Politik und Wirtschaft gerne bestätigt wird. Aber sie ist nicht wahr. In Wirklichkeit hat sich die Einkommenslücke zwischen Nord und Süd seit 1960 verdreifacht, 60 Prozent der Weltbevölkerung verdienen weniger als 4,20 Euro am Tag. Armut ist kein Naturphänomen, sie wird gemacht. Der Autor entlarvt die Wachstumsideologie und zeigt auf, dass Armut ein politisches Problem ist, für das radikale politische Lösungen erforderlich sind. Voraussetzung ist eine Revolution im Denken.
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2 Die Abschaffung der Armut … wurde aufgeschoben
Alles verschwamm im Nebel. Die Vergangenheit wurde getilgt, die Tilgung wurde vergessen, die Lüge wurde Wahrheit. George Orwell, 1984 An einem kühlen Spätsommertag Anfang September 2000 versammelten sich die Staats- und Regierungschefs der Welt am Sitz der Vereinten Nationen in New York, um eine der wichtigsten internationalen Vereinbarungen der modernen Geschichte zu unterzeichnen: die Millenniumserklärung. Es war ein denkwürdiger Anlass. Zum ersten Mal hatten sich die politischen Führer der Welt auf ein breites Spektrum von Entwicklungszielen verpflichtet. Und ihr wichtigstes Ziel – das weltweit Aufsehen erregte – war das Gelöbnis, die Armut und den Hunger auf der Welt bis 2015 zu halbieren. Nach dieser Zusammenkunft in New York machte sich der Stab der Vereinten Nationen an die Arbeit, um die Ambitionen der Millenniumserklärung zu einer Reihe von acht konkreten, messbaren Zielen zu verdichten, den »Millennium Development Goals« (MDGs, Millenniums-Entwicklungsziele). Das erste Ziel war, Armut und Hunger zu halbieren, aber es gab noch einige weitere: Grundschulbildung für jedes Kind, Gleichstellung der Geschlechter in der schulischen Bildung, Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel, Senkung der Müttersterblichkeit um drei Viertel sowie Bekämpfung von Aids und Malaria. Die armen Länder selbst sollten dafür verantwortlich sein, diese Ziele umzusetzen – der Annahme folgend, Armut habe etwas mit innenpolitischen Aspekten zu tun –, aber durchaus mit Entwicklungshilfe und anderen Formen von Unterstützung durch die reichen Länder. Nachdem die MDGs beschlossen waren, wurde eine finanziell gut ausgestattete PR-Kampagne in die Wege geleitet, die dazu diente, das öffentliche Interesse an dem Programm zu fördern und ihm eine hohe Priorität auf der globalen politischen Agenda zu verschaffen. Schnell entwickelte es sich zum größten international koordinierten Projekt des 21. Jahrhunderts. Jedes Jahr legten die Vereinten Nationen einen Bericht vor, um die Weltöffentlichkeit über die Fortschritte beim Umsetzen der gesteckten Ziele zu unterrichten. Und schon nach zwölf Jahren – also drei Jahre vor dem selbst gesetzten Termin – behaupteten sie, das erste Ziel erreicht zu haben. Sie verkündeten, die Armutsquoten seien bereits halbiert worden, und auch das Ziel, den Hunger zu halbieren, sei in greifbare Nähe gerückt. Diese Ankündigung war für viele Beobachter ganz erstaunlich. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Welt noch immer mit einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen seit fast einem Jahrhundert zu kämpfen. Während die Volkswirtschaften im Westen kontrahierten, waren die Exportindustrien im Globalen Süden in Bedrängnis geraten, und die dortige Arbeitslosigkeit hatte zugenommen. Noch schlimmer war jedoch, dass die Ärmsten der Armen unter beispiellosen Lebensmittel-Preisspitzen zu leiden hatten. Wenn überhaupt, so erwarteten Analysten höchstens, dass Armut und Hunger zugenommen hätten. Bald nach Veröffentlichung des UN-Berichts erschien im britischen Wirtschaftsmagazin The Economist ein viel beachteter Artikel unter der Überschrift »A Fall to Cheer: for the first time ever, the number of poor people is declining everywhere« (»Ein begrüßenswerter Rückgang: Zum ersten Mal überhaupt geht die Anzahl der armen Menschen auf der ganzen Welt zurück«). Im selben Jahr veröffentlichte Charles Kenny sein Buch Getting Better: Why Global Development is Succeeding (»Es wird besser: Warum die globale Entwicklung erfolgreich ist«), mit einem überschwänglichen Vorwort von Bill Gates. Im Jahr 2014 veröffentlichte Gates selbst einen offenen Brief, der mit diesen Worten begann: »Nach so gut wie jedem Kriterium ist die Welt heute besser als jemals zuvor.« Und der schwedische Professor Hans Rosling hielt auch weiterhin mit ernster Miene seine von tollen visuellen Effekten begleiteten Vorträge, die zeigten, dass die Not der Armen immer weiter abnehme. Roslings TED-Präsentation unter der Überschrift »The Best Stats You’ve Ever Seen« (»Die besten Statistiken, die Sie jemals gesehen haben«) wurde auf YouTube über zehn Millionen Mal abgerufen. Die UN-Daten über die abnehmende Armut wurden schnell zu einer der weltweit meistzitierten Statistiken. Das ist es, was ich als die »›Good news‹-Geschichte« über Armut bezeichne. Es ist eine beruhigende Geschichte, ein willkommener Kontrast zu den deprimierenden Nachrichten, die beinahe täglich in den Medien erscheinen. Denn immerhin ist es ja ein schönes Gefühl, wenn man einen Schritt zurücktritt und dann sieht, dass die Lage gar nicht so schlimm ist, wie sie erscheint – dass die Welt im Großen und Ganzen nach und nach immer besser wird. Es ist eine Geschichte, die unsere Zivilisation bestätigt und unsere fundamentalsten und wichtigsten Überzeugungen über den Fortschritt stützt. Darüber hinaus dient sie als machtvolles politisches Werkzeug. Die »Good news«-Geschichte will uns glauben machen, das globale Wirtschaftssystem sei auf dem richtigen Kurs. Sie impliziert: Wenn wir menschliches Leid beseitigen wollen, müssen wir den Status quo bewahren und darauf verzichten, drastische Veränderungen zu machen. Für jeden, der ein Interesse daran hat, die jetzige Verteilungsordnung zu bewahren – zum Beispiel das »global 1 per cent«, das reichste Prozent der Weltbevölkerung –, ist die »Good news«-Geschichte in der Tat sehr nützlich. Hin und wieder sind die angeführten Argumente ziemlich deutlich. So hat zum Beispiel das konservative britische Wochenmagazin The Spectator Anfang 2015 einen Blogbeitrag unter folgendem Titel veröffentlicht: »What Oxfam doesn’t want you to know: global capitalism means less poverty than ever« (»Was Oxfam Ihnen verheimlichen will: Der globale Kapitalismus bedeutet weniger Armut denn je«). Der Beitrag begann mit den MDG-Zahlen über die Reduzierung extremer Armut, gefolgt von einem Diagramm, das die sinkende Quote unterernährter Menschen in den Schwellenländern zeigt. Der Autor vertritt die Auffassung, dass all die Aufmerksamkeit, die wir auf soziale Ungleichheit und das immer reicher werdende eine Prozent der Weltbevölkerung gerichtet haben, deplatziert sei. Vielleicht habe dieses eine Prozent mittlerweile mehr Reichtum angesammelt als der gesamte Rest der Menschheit, aber das sei schon in Ordnung, weil genau dieses System, das sie so reich gemacht habe, auch die Armut in den Entwicklungsländern reduziert habe. »Wir leben heute im goldenen Zeitalter der abnehmenden Armut«, so der Autor. »Jeder, der die globale Armut ernsthaft bekämpfen will, muss Folgendes akzeptieren: Was immer wir jetzt auch tun, es funktioniert – und deswegen sollten wir damit weitermachen. Wir sind auf dem Weg zu einem unglaublichen Erfolg: der Abschaffung der Armut, wie wir sie kennen, innerhalb unserer Lebenszeit. Diejenigen, denen es wichtiger ist, den Armen zu helfen als den Reichen zu schaden, werden diese Tatsache feiern – und ihre politische Führung dazu drängen, freien Handel und globalen Kapitalismus immer weiter zu verbreiten. Das ist die einzige wirkungsvolle Strategie, um die globale Armut in die Abstellkammer der Geschichte zu verbannen.« Aber selbst wenn wir die »Good news«-Geschichte für bare Münze nehmen, sagt sie uns natürlich nichts darüber, ob diese Fortschritte das direkte Ergebnis der Ausbreitung der freien Marktwirtschaft über die ganze Welt sind, wie der Spectator es behauptet. Tatsächlich könnte es sogar sein, dass sie trotz dieser Entwicklung erreicht wurden. Eines ist jedoch klar: Wenn es um das Problem der globalen Armut geht, ist der politische Einsatz hoch. Sollte tatsächlich die Armut schneller als jemals zuvor zurückgehen, wäre das ein starkes Argument für unser jetzt existierendes Wirtschaftssystem. Falls die Armut allerdings nur ein bisschen abnimmt, aber nicht so schnell wie zuvor, ist unser System vielleicht doch nicht ganz so gut, wie es sein könnte. Und falls die Armut überhaupt nicht zurückgeht, sondern vielmehr zunimmt, wäre das ein guter Grund, das System völlig zu verändern. Wenn solche Fragen auf dem Tisch liegen, ist es entscheidend, dass die Fakten richtig sind. Einige der im MDG-Bericht der UN aufgestellten Behauptungen sind beeindruckend und verdienen es, gefeiert zu werden. Die Anzahl der Kinder, die vor ihrem fünften Lebensjahr starben, ging von 12,7 Millionen im Jahr 1990 auf 6 Millionen im Jahr 2015 zurück. Das bedeutet, dass jeden Tag 18 000 Kinder weniger starben. Das ist eine beachtliche Leistung. Das Gleiche gilt für die Müttersterblichkeit, die im Verlauf des MDG-Programms um beeindruckende 45 Prozent zurückging.[31] Die Anzahl der Kinder, die eine Grundschule besuchen, hat zugenommen. Und die Zahl der HIV- oder Malaria-Infektionen ist deutlich zurückgegangen. In diesen Kategorien haben die UN ihre Ziele zwar nicht ganz erreicht, aber die Zahlen beweisen, dass trotzdem erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Aber die schlagzeilenträchtige Behauptung der »Good news«-Geschichte, Armut und Hunger seien halbiert worden, steht auf deutlich wackligeren Füßen. Wenn wir etwas näher hinschauen, werden wir erkennen, dass...


Hickel, Jason
Jason Hickel ist Anthroploge und lehrt an der London School of Economics. Er stammt ursprünglich aus Swasiland und hat einige Jahre bei Arbeitsmigranten in Südafrika verbracht, wo er die Muster von Ausbeutung und polititschem Widerstand infolge der Apartheid erforschte. Neben seiner ethnographischen Arbeit befasst er sich mit Entwicklungspolitik, Ungleichheit und der globalen Wirtschaft. Seine Artikel erscheinen bei ›The Guardian‹, ›Al Jazeera‹ und anderen Medien.

Jason Hickel ist Anthroploge und lehrt an der London School of Economics. Er stammt ursprünglich aus Swasiland und hat einige Jahre bei Arbeitsmigranten in Südafrika verbracht, wo er die Muster von Ausbeutung und polititschem Widerstand infolge der Apartheid erforschte. Neben seiner ethnographischen Arbeit befasst er sich mit Entwicklungspolitik, Ungleichheit und der globalen Wirtschaft. Seine Artikel erscheinen bei ›The Guardian‹, ›Al Jazeera‹ und anderen Medien.


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