Hill | Ich habe einen Namen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 575 Seiten

Hill Ich habe einen Namen

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8321-8655-5
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 575 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8655-5
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Buchvorlage der preisgekrönten Mini-Serie 'The Book of Negroes' von Kanadas Bestsellerautor Lawrence Hill

Westafrika, Mitte des 18. Jahrhunderts. Die kleine Aminata lebt mit ihren Eltern in einer friedlichen Dorfgemeinschaft. Doch der Sklavenhandel blüht, auf den Plantagen der neuen Kolonien braucht man Arbeitskräfte, und die britischen Machthaber sind skrupellos. Als Aminata elf Jahre alt ist, wird ihr Dorf überfallen und sie gefangengenommen. Auf einem Frachter bringt man sie mit vielen anderen Sklaven nach Amerika, wo sie an einen Großgrundbesitzer verkauft wird. Während der Wirren des Unabhängigkeitskriegs gelingt Aminata die Flucht. Sie folgt ihrem Herzen zurück nach Afrika und von dort nach London, um für die Befreiung der Schwarzen zu kämpfen. Ihre Geschichte ist das eindrückliche Porträt einer unglaublich starken Frau, die es geschafft hat, schwierigste Bedingungen zu überleben und dabei anderen zu helfen. Es ist eine Geschichte, die man nicht wieder vergisst, voller Hoffnung und Zuversicht.

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Und jetzt bin ich alt {London, 1802} Ich scheine Schwierigkeiten mit dem Sterben zu haben. Eigentlich sollte ich gar nicht so lange leben. Aber ich kann immer noch riechen, wenn mit dem Wind Ärger heranweht, genauso wie ich euch sagen kann, ob es Hähnchenhälse oder Schweinefüße sind, die da im Eisentopf über dem Feuer in ihrem Saft blubbern. Und meine Ohren sind auch immer noch so gut wie die eines Jagdhundes. Die Leute denken, wenn man nicht mehr aufrecht wie ein Grünschnabel dasteht, ist man taub. Oder dass man nur noch Kürbispampe im Kopf hat. Als ich neulich an einem Treffen mit einem Bischof teilnahm, sagte eine der Gesellschaftsdamen zu einer anderen: »Wir müssen diese Frau möglichst bald ins Parlament bringen. Wer weiß, wie lange sie noch unter uns ist?« So krumm mein Rücken auch sein mochte, stieß ich ihr doch einen Finger zwischen die Rippen. Sie ließ ein Quieken hören und fuhr zu mir herum. »Vorsicht«, sagte ich zu ihr, »vielleicht überlebe ich Sie noch!« Es muss einen Grund geben, warum ich in all diesen Ländern gelebt und all diese Überquerungen des Ozeans überlebt habe, während so viele andere Kugeln zum Opfer gefallen sind oder ganz einfach die Augen geschlossen haben und nicht weiterleben wollten. In jenen frühen Tagen, als ich frei war und nichts anderes kannte, habe ich mich oft von unserem Grundstück geschlichen und bin in die große Akazie geklettert, Vaters Koran auf dem Kopf balancierend. Auf einen Ast habe ich mich gesetzt und mich gefragt, ob ich wohl jemals all die Geheimnisse dieses Buches entschlüsseln würde. Ich ließ die Beine baumeln, legte das Buch zur Seite, das einzige übrigens, das ich in Bayo je zu Gesicht bekommen hatte, und sah hinaus auf das Flickmuster aus Lehmwänden und Strohdächern. Die Leute waren ständig in Bewegung. Frauen trugen Wasser vom Fluss herauf, Männer schmiedeten Eisen im Feuer, und junge Burschen kamen triumphierend aus dem Wald zurück, wo sie Stachelschweine gefangen hatten. Es ist schrecklich viel Arbeit, an das Fleisch eines Stachelschweins heranzukommen, aber wenn die Jungs sonst nichts Wichtiges zu tun hatten, störte sie das nicht. Sie kappten die Stacheln, zogen den Tieren die Haut ab, schnitten die Innereien heraus und übten an den lächerlich kleinen Körpern den Umgang mit ihren scharfen Messern. Ich war damals glücklich und fühlte mich frei, ohne dass es mir in den Sinn gekommen wäre, über meine Sicherheit nachzudenken. Ich bin dem gewaltsamen Tod immer entronnen, so nahe er mir gekommen ist, habe aber meine Kinder verloren und nicht mit ihnen leben und sie großziehen dürfen, so wie meine Eltern mich zehn, elf Jahre großgezogen haben, bis unser gemeinsames Leben zerstört wurde. Ich hatte meine Kinder nur kurz für mich, weswegen sie heute nicht hier bei mir sind, mir mein Essen kochen und frisches Stroh in meine Matratze füllen, mir einen Umhang gegen die Kälte bringen und in dem Wissen mit mir am Feuer sitzen, dass sie aus meinen Lenden hervorgegangen sind und unsere gemeinsamen Momente die erfüllendsten meines ganzen Lebens waren. Wir haben keine gemeinsame Geschichte, und heute kümmern sich andere um mich, aber das ist in Ordnung. Dennoch ist es nicht das Gleiche, als wenn einen sein eigen Fleisch und Blut bis zum Grab umsorgt. Ich sehne mich danach, meine Kinder in die Arme zu schließen, und auch Enkel, wenn es die denn gibt. Ich vermisse sie wie Glieder, die man mir vom Körper abgetrennt hat. Ich habe hier in London ungeheuer viel zu tun. Es heißt, ich soll König George treffen. Um mich herum ist ein ganzer Trupp Abolitionisten, vollbärtiger, dickbäuchiger, kahlköpfiger Gegner der Sklaverei, die den Zucker boykottieren, aber nach Tabak stinken und bis spät in die Nacht Kerze um Kerze entzünden, während sie an ihren Strategien feilen. Die Abolitionisten sagen, sie haben mich nach England geholt, damit ich ihnen helfe, den Lauf der Geschichte zu ändern. Nun, wir werden sehen. Aber wenn ich so alt geworden bin, muss es schließlich einen Grund dafür geben. Fa heißt in meiner Sprache »Vater«. Ba heißt »Fluss«, und auch »Mutter«. In meiner frühen Kindheit war meine Ba wie ein Fluss, der mich durch die Tage trug und nachts mit Sicherheit umgab. Der Großteil meines Lebens ist vorbei, aber auch heute noch sind Fa und Ba meine Eltern, sind älter und klüger als ich, und ich höre ihre Stimmen, manchmal tief und bedächtig, dann wieder leicht wie eine hübsche Melodie. Ich erinnere mich, dass sie mich vor Ungemach bewahrt und vorsichtig um die Kochfeuer und in den kühlen Schatten unseres Hauses geführt haben. Ich sehe meinen Vater noch vor mir, wie er mit einem spitzen Stock fließende arabische Sätze in den harten Boden kratzt und vom fernen Timbuktu erzählt. Wenn ich ganz für mich bin und die Abolitionisten einmal nicht um mich herumwirbeln, wenn ich nicht an dieser Delegation teilnehmen oder meine Unterschrift unter jene Petition setzen soll, wünsche ich mir, dass meine Eltern noch da wären und sich um mich kümmerten. Ist das nicht merkwürdig? Dass ich, eine schwache, alte schwarze Frau, die in ihrem Leben mehr Wasser überquert hat, als dass sie sich noch an all die Tage auf See erinnern könnte, die mehr Wegstunden hinter sich gebracht hat als ein Karrengaul, dass ich nur von Dingen träume, die ich nicht haben kann: von Kindern und Enkeln, die ich lieben möchte, und Eltern, die sich um mich kümmern. Vor ein paar Tagen haben sie mich in eine Londoner Schule gebracht, wo ich mich mit den Kindern unterhalten habe. Ein Mädchen fragte, ob es stimme, dass ich die berühmte Meena Dee sei, von der alle Zeitungen schrieben. Ihre Eltern, sagte sie, glaubten nicht, dass ich an so vielen Orten gelebt hätte. Ich bestätigte ihr, dass ich Meena Dee sei, aber sie könne mich ruhig Aminata Diallo nennen, denn so habe ich als Kind geheißen. Mit dem Vornamen hatten wir eine Weile zu tun. Beim dritten Mal hatte sie es. Aminata. Vier Silben. So schwer ist es wirklich nicht. A-mi-na-ta, sagte ich. Sie sagte, sie würde sich wünschen, dass ich ihre Eltern kennenlernte. Und ihre Großeltern. Ich erwiderte ihr, wie wunderbar es sei, dass sie ihre Großeltern noch habe. Liebe sie, sagte ich, liebe sie von ganzem Herzen. Liebe sie jeden Tag. Sie wollte wissen, warum ich so schwarz sei. Ich fragte sie, warum sie so weiß sei. Sie sagte, sie sei so auf die Welt gekommen. Da geht’s mir genauso, antwortete ich. Ich kann sehen, dass du mal ziemlich schön gewesen sein musst, obwohl du so schwarz bist, sagte sie. Du wärst noch hübscher, wenn in London mal die Sonne schiene, antwortete ich. Sie fragte mich, was ich äße. Mein Großvater sagt, er wettet, du isst rohen Elefanten. Ich sagte ihr, dass ich noch nie was von einem Elefanten abgebissen hätte, in meinem Leben aber schon hungrig genug gewesen sei, dass ich es probiert hätte. Drei- bis vierhundert hätte ich schon von ihnen gejagt, sagte ich, es aber nie geschafft, sie daran zu hindern, durch die Dörfer zu trampeln, oder einen von ihnen so lange festzuhalten, dass ich in Ruhe hätte reinbeißen können. Sie lachte und sagte, sie wolle wissen, was ich wirklich äße. Das Gleiche wie du, erklärte ich ihr. Glaubst du, ich finde hier in den Straßen von London einen Elefanten? Würste, Eier, Hammeleintopf, Brot, Krokodile, all die ganz normalen Sachen würde ich essen. Krokodile?, fragte sie. Ich sagte, ich hätte nur sehen wollen, ob sie mir richtig zuhört. Sie sagte, sie sei eine sehr gute Zuhörerin, und ob ich ihr nicht bitte eine Gespenstergeschichte erzählen könne. Schätzchen, sagte ich, mein ganzes Leben ist eine Gespenstergeschichte. Dann erzähl sie mir, sagte sie. Wie ich ihr gesagt habe, heiße ich Aminata Diallo. Ich bin die Tochter von Mamadu Diallo und Sira Kulibali. Geboren bin ich in Bayo, drei Monde Fußmarsch von der Getreideküste Westafrikas entfernt. Ich bin eine Bambara. Und eine Fulbe. Ich bin beides, aber das erkläre ich später. Ich denke, dass ich 1745 geboren wurde, vielleicht auch kurz vorher oder nachher. Und ich schreibe diesen Bericht. Von Anfang bis Ende. Für den Fall, dass ich sterbe, bevor ich fertig werde, habe ich John Clarkson, einem der ruhigeren Abolitionisten und dem einzigen, dem ich wirklich traue, das Versprechen abgenommen, nichts daran zu verändern. Seine Abolitionisten-Freunde hier in London wollten von mir einen kurzen, vielleicht zehnseitigen Aufsatz darüber, warum der Handel mit Menschen eine Abscheulichkeit ist und gestoppt werden muss. Den habe ich ihnen geliefert, und er ist in ihrem Büro verfügbar. Ich habe eine tiefdunkle Haut. Einige Leute sagen, sie ist blauschwarz. Meine Augen geben kaum etwas von mir zu erkennen, und das gefällt mir so. Misstrauen, Verachtung, Widerwillen, ich mag solche Gefühle nicht öffentlich zur Schau stellen. Manche sagen, dass ich einmal ungewöhnlich schön war, aber ich wünsche keiner Frau Schönheit, die nicht frei ist und selbst bestimmen kann, wessen Hände sie und ihren Körper für sich beanspruchen. Viel Schönheit ist mir nicht geblieben. Da ist nichts mehr von den runden, sich wölbenden Hinterbacken, die in England, dem Land der flachen Hinterteile, so ungewöhnlich sind. Nichts mehr von den starken, strammen Schenkeln und den Waden, rund und fest wie reife Äpfel. Meine Brüste hängen nach unten, während sie einst doch wie stolze Vögel in die Höhe strebten. Aber ich habe noch alle Zähne, bis auf einen, und säubere sie jeden Tag. Für mich ist eine saubere, weiß schimmernde volle Zahnreihe etwas Schönes, und sie mir drei-, viermal am Tag gründlich mit einem Zweig zu putzen, erhält sie mir so. Ich weiß nicht, warum, aber die glühendsten Abolitionisten scheinen den schlimmsten...


Hill, Lawrence
Lawrence Hill wuchs in den sechziger Jahren in Toronto auf. Er arbeitete als Reporter in Kanada, Europa und den USA und reiste als freiwilliger Helfer nach Kamerun, Mali und in den Niger. Lawrence Hill wohnt mit seiner Frau und fünf Kindern in Burlington, Ontario. ›Ich habe einen Namen‹ (DuMont Taschenbuch 2012) ist sein erster ins Deutsche übersetzter Roman. Er gewann dafür u. a. den Commonwealth Writers’ Prize. www.lawrencehill.com

Löcher-Lawrence, Werner
WERNER LÖCHER-LAWRENCE, geboren 1956, ist als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autor*innen zählen u. a. John Boyne, Meg Wolitzer, Patricia Duncker, Hisham Matar, Nathan Englander, Nathan Hill und Hilary Mantel.



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