E-Book, Deutsch, Band 3, 464 Seiten
Hill Seelenängste
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-311-70398-3
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der dritte Fall für Inspector Serrailler
E-Book, Deutsch, Band 3, 464 Seiten
Reihe: EIn Fall für Inspector Serrailler (Kampa Verlag)
ISBN: 978-3-311-70398-3
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susan Hill wurde 1942 in Yorkshire geboren. Ihre Geistergeschichten und die Kriminalromane um Simon Serrailler haben sie zu einer der populärsten britischen Schriftstellerinnen gemacht. Ihr Gothic-Roman Die Frau in Schwarz läuft als Theateradaption seit über dreißig Jahren im Londoner West End und wurde 2012 erfolgreich mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle verfilmt. Für ihre Romane, Erzählungen und Jugendbücher wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Somerset Maugham Award, und zum Commander of the British Empire ernannt. Susan Hill lebt in Norfolk in einem alten Bauernhaus, in dem in jedem Winkel Bücher stehen, die im Winter gut isolieren.
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1
Da war keine Fliege, und es hätte eine Fliege da sein sollen. Der Raum sah danach aus. Graues Linoleum. Kittfarbene Wände. Stühle und Tische mit Stahlrohrbeinen. In solchen Räumen gab es auch immer eine Fliege, die langsam an der Fensterscheibe hinauf- und hinuntersurrte. Hinauf und hinunter. Hinauf und hinunter. Hinauf.
Die hintere Wand war mit Magnettafeln und Pinnwänden bedeckt. Namen. Daten. Orte. Dann kam:
Zeugen (Leerstelle)
Verdächtige (leer)
Spuren (leer)
Für jeden Fall.
Im Konferenzraum der Kriminalpolizei von North Riding befanden sich fünf Menschen, die bereits seit über einer Stunde auf die Tafeln starrten. Detective Chief Inspector Simon Serrailler hatte das Gefühl, schon sein halbes Leben lang auf eines der Fotos gestarrt zu haben. Das strahlende junge Gesicht. Die abstehenden Ohren. Die Schulkrawatte. Das frisch geschnittene Haar. Der Ausdruck. Interessiert. Wach.
David Angus. Es war acht Monate her, seit er morgens vor dem Tor seines Elternhauses um zehn Minuten nach acht verschwunden war.
David Angus.
Simon wünschte sich, es gäbe eine Fliege, die ihn hypnotisierte, statt des Gesichts des kleinen Jungen.
Der Anruf von Detective Chief Superintendent Jim Chapman hatte ihn zwei Tage zuvor aus einem herrlichen Sonntagnachmittag herausgerissen.
Simon hatte auf der Bank gesessen, mit Pads und Helm, und darauf gewartet, für die Polizei Lafferton gegen das Kreiskrankenhaus Bevham zu schlagen. Die Scorecard zeigte 228 für 5, die Bowler der Ärzte waren schlaff, und Simon glaubte, sein Team würde das Innings vorzeitig beenden, bevor er an die Reihe käme. Er war sich nicht sicher, ob ihm das etwas ausmachte oder nicht. Er spielte gerne, obwohl er nur ein durchschnittlicher Cricketspieler war. Aber an einem solchen Nachmittag, auf einem so schönen Spielfeld war er zufrieden, ob er nun zum Schlagen kam oder nicht.
Die Mauersegler schossen kreischend hoch über das Klubhaus, und die Schwalben glitten am Spielfeldrand entlang. Während der letzten Monate war Simon niedergeschlagen und ruhelos gewesen, aus keinem besonderen Grund und doch aus einer Unmenge von Gründen, aber die Freude am Spiel und die Aussicht auf eine angenehme Teepause im Klubhaus hatten seine Stimmung gehoben. Später war er zum Essen bei seiner Schwester und deren Familie eingeladen. Ihm fiel ein, was sein Neffe Sam letzte Woche gesagt hatte, als sie zusammen schwimmen waren; Sam hatte mitten in der Bahn angehalten und war mit einem »Heute ist ein Tag!« aus dem Wasser gesprungen.
Simon lächelte in sich hinein. Wie Kinder sich doch freuen konnten.
»Naaaaaaa?«
Der Schrei verklang. Der Batsman war in Sicherheit und kurz vor seinen hundert Runs.
»Onkel Simon, hey!«
»Hallo, Sam.«
Sein Neffe kam zur Bank gerannt. Er hielt das Handy in die Höhe, das Simon ihm in Verwahrung gegeben hatte, falls er schlagen musste.
»Anruf für dich. DCS Chapman, Kriminalpolizei North Riding.« Sams Gesicht war von Besorgnis überschattet. »Ich dachte, ich sollte besser fragen, wer dran ist …«
»Das ist vollkommen in Ordnung. Hast du gut gemacht, Sam.«
Simon stand auf und ging um die Ecke des Klubhauses.
»Serrailler.«
»Jim Chapman. Ein neuer Mitarbeiter?«
»Mein Neffe. Ich habe meine Pads an, bin als nächster Batsman dran.«
»Schön für Sie. Es tut mir leid, Sie am Sonntagnachmittag zu stören. Sehen Sie eine Möglichkeit, in den nächsten paar Tagen hier heraufzukommen?«
»Das vermisste Kind?«
»Mittlerweile seit drei Wochen, und wir haben nichts.«
»Ich könnte morgen am frühen Abend da sein und bis Dienstag oder Mittwoch bleiben, falls Sie mich so lange brauchen – sobald ich es hier abgeklärt habe.«
»Das habe ich gerade getan. Ihr Chief hält eine Menge von Ihnen.«
Jubel wurde laut, und Applaus erklang.
»Einer von uns ist ausgeschieden, Jim. Ich muss los.«
Sam wartete, mit Feuereifer, die Hand nach dem Handy ausgestreckt.
»Was soll ich machen, wenn es klingelt, während du schlägst?«
»Lass dir Namen und Nummer geben und sag, ich rufe zurück.«
»Mach ich, Chef.«
Simon beugte sich vor und zog seine Schienbeinschützer fest, um ein Lächeln zu verbergen.
Aber als er aufs Spielfeld ging, wölkte sich ein dünner Nebel der Trübsal um seinen Kopf, schloss die strahlende Helligkeit des Tages aus, verdarb ihm die Freude. Der Fall des entführten Kindes war ihm ständig präsent, ein Makel, der ihn nicht losließ. Was nicht nur an der Tatsache lag, dass es nach wie vor eine Leerstelle war, unausgefüllt und ungeklärt, sondern dass der Entführer des Jungen jederzeit wieder zuschlagen konnte. Niemand mochte einen offenen Fall, ganz zu schweigen von einem so verstörenden. Der Anruf von Jim Chapman hatte Simon zum Angus-Fall zurückgeholt, zur Polizei, zur Arbeit … und dazu, wie er diese Arbeit in den letzten paar Monaten empfunden hatte. Und warum.
Die Konfrontation mit dem trickreichen Spin-Bowling eines Herzspezialisten zwang ihn, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Simon schlug den ersten Ball und rannte los.
Das Wiehern des Ponys auf der Koppel weckte Cat Deerborn aus einem höchstens zweistündigen Schlaf. Verkrampft lag sie da und fragte sich, wo sie war. Sie war zu einem älteren Patienten gerufen worden, der die Treppe hinuntergefallen war und sich den Oberschenkelhals gebrochen hatte, und bei der Heimkehr hatte sie die Tür zufallen lassen und damit ihr jüngstes Kind geweckt. Felix war hungrig, durstig und unleidlich gewesen, und schließlich war Cat neben seinem Kinderbettchen eingeschlafen.
Jetzt richtete sie sich vorsichtig auf, aber Felix’ warmer kleiner Körper regte sich nicht. Die Sonne schien durch einen Spalt in den Vorhängen auf sein Gesicht.
Es war erst zehn nach sechs.
Das graue Pony stand grasend am Zaun und wieherte erneut, als es Cat mit einer Möhre in der Hand auf sich zukommen sah.
Wie könnte ich das alles verlassen?, dachte sie und spürte das weiche Maul. Wie könnten wir es ertragen, dieses Bauernhaus, diese Felder, dieses Dorf zu verlassen?
Die Luft duftete süß, in der Senke lag Nebel. Ein Specht stieß seinen Ruf aus und flog auf die Eiche am anderen Ende des Zauns zu.
Chris, ihr Mann, war wieder ruhelos, unglücklich in der Allgemeinarztpraxis, wütend über die Last der Verwaltungsarbeit, die ihn von seinen Patienten fernhielt, genervt von dem Berg neuer Vorschriften und Kontrollmaßnahmen. In den vergangenen Monaten hatte er mehrfach davon gesprochen, für fünf Jahre nach Australien zu gehen – was genauso gut für immer sein könnte, dachte Cat, da sie wusste, dass diese Befristung nur zu ihrer Beschwichtigung dienen sollte. Sie war einmal dort gewesen, um ihren Drillingsbruder Ivo zu besuchen, und es hatte ihr überhaupt nicht gefallen – der einzige Mensch, dem das je so gegangen war, behauptete Chris.
Sie wischte sich die Hände, schleimig vom Maul des Ponys, an ihrem Morgenmantel ab. Das Tier, momentan befriedigt, trottete ruhig über die Koppel davon.
Sie waren so nah bei der Stadt und der Praxis, nah bei ihren Eltern und Simon, bei der Kathedrale, die ihr so viel bedeutete. Gleichzeitig lebten sie mitten auf dem Land, einem richtigen Bauernhof gegenüber, wo die Kinder Lämmer und Kälber sahen und beim Füttern der Hühner halfen; sie gingen gerne in ihre Schulen, hatten Freunde in der Nachbarschaft.
Nein, dachte sie und spürte die warme Sonne auf ihrem Rücken. Nein.
Aus dem Haus brüllte Felix. Aber Sam würde sich um ihn kümmern, Sam, sein Bruder, der ihn anbetete, im Gegensatz zu Hannah, die ihr Pony vorzog und während Felix’ erstem Lebensjahr eifersüchtig auf das Baby geworden war.
Cat wanderte um die Koppel, wusste, dass sie später am Tag müde sein würde, ärgerte sich aber trotzdem nicht über den unterbrochenen Nachtschlaf – Patienten zu versorgen, wenn sie am schutzlosesten waren, vor allem die älteren und verängstigten, hatte für Cat immer zu den Vorzügen einer Allgemeinpraxis gehört, und sie hatte nicht vor, den nächtlichen Bereitschaftsdienst einer Agentur zu überlassen, wenn der neue Vertrag in Kraft trat. Chris war anderer Meinung. Sie hatten sich zu oft darüber gestritten und vermieden das Thema inzwischen.
Um die knorrigen Äste des alten Apfelbaums hatte sich ein Trieb der weißen Rose gerankt, und der Duft wehte herüber, als Cat vorbeikam.
Nein, dachte sie erneut.
In den letzten zwei Jahren hatte es zu viele schlimme Tage gegeben, zu viel Furcht und Anspannung, doch jetzt, abgesehen von ihrer üblichen Besorgnis um ihren Bruder, war alles in Ordnung – bis auf Chris’ Unzufriedenheit und Gereiztheit, bis auf seinen Wunsch, etwas zu verändern, wegzuziehen, alles zu verderben … Ihre nackten Füße waren nass vom Tau.
»Mammmmiii. Telefooooon …«
Hannah lehnte sich im Obergeschoss viel zu weit aus einem Fenster.
Cat rannte.
Es war ein Morgen, an den die Menschen sich erinnern würden, an den silberblauen, klaren Himmel und den frühmorgendlichen Sonnenschein und die Tatsache, dass alles frisch war. Sie entspannten sich und fühlten sich plötzlich sorglos, Fremde sprachen miteinander, wenn sie sich auf der Straße begegneten.
Natalie Combs würde sich ebenfalls erinnern.
»Ich kann Eds Auto hören.«
»Nein, kannst du nicht, es ist das von Mr Hardesty, und jetzt komm runter, wir sind spät dran.«
»Ich will Ed winken.«
»Du kannst Ed...




