E-Book, Deutsch, 138 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
Hippokrates / Leven Die Heilkunst
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-15-961883-8
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hippokrates - medizinische Texte; Medizinstudium - 19694
E-Book, Deutsch, 138 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
ISBN: 978-3-15-961883-8
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was kann die Medizin? Und wo liegen ihre Grenzen? Wie soll der Arzt am Krankenbett auftreten? Warum und für wen ist die Prognose so wichtig? Welche Beziehungen bestehen zwischen Gesundheit/Krankheit und Umwelt/Klima? Solche Fragen wurden schon in der Antike erörtert: später schrieb man alle diese Texte gern dem legendenumwobenen griechischen Arzt Hippokrates (2. Hälfte 5. Jh. v. Chr.) zu, dessen Eid bis heute nachwirkt. Der Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven hat die interessantesten dieser Texte ausgewählt und reich kommentiert - es ergibt sich ein neuer Zugang zur antiken Medizin, die in mancher Hinsicht fremdartig, mal aber auch faszinierend aktuell wirkt.
Weitere Infos & Material
Innen und Außen: Körper und Säfte, Kosmos und Klima
Die vier Körpersäfte: 2.4.7
Unter den Ärzten sagen die einen, dass der Mensch nur Blut ist, die anderen, er sei Galle, manche aber auch, er sei Schleim … Ich aber sage, wenn der Mensch Eins () wäre, würde er niemals Schmerzen haben; denn es gäbe nichts, wodurch er Schmerz empfinden könnte, wenn er Eins wäre.
…
Der Körper des Menschen hat Blut () und Schleim () und gelbe () und schwarze Galle (), und das ist die Natur seines Körpers, und dadurch hat er Schmerzen und ist gesund. Am gesundesten ist er, wenn diese [Säfte] im richtigen Verhältnis ihrer Kraft () und ihrer Quantität () zueinander stehen und am besten gemischt () sind. Schmerzen hat er, wenn etwas von ihnen zu viel oder zu wenig vorhanden ist oder sich im Körper absondert und nicht mit dem Ganzen vermischt ist. Denn notwendigerweise wird, wenn etwas von diesen [Säften] sich absondert und für sich bleibt, nicht nur der Körperteil, von dem es sich absondert, krank, sondern es bereitet auch an der Stelle, wo es sich sammelt und wohin es sich ergießt, durch Überfüllung Schmerz und Beschwerden. Und auch wenn aus dem Körper von diesen Bestandteilen mehr herausfließt, als er im Übermaß hat, macht die Entleerung Schmerz. Wenn andererseits die Entleerung (), die Ortsveränderung () und die Abscheidung () von den anderen Stoffen im Innern des Körpers stattfindet, so muss das nach dem Gesagten den Stellen doppelten Schmerz bereiten, von denen etwas sich absonderte und wohin es übermäßig floss.
…
Der Schleim wächst im Menschen im Winter. Von den Bestandteilen des Körpers ist er dem Winter am verwandtesten; denn er ist am kältesten. Folgendes ist ein Beleg () dafür, dass der Schleim am kältesten ist: Wenn man Schleim, Galle und Blut anfasst, so wird man finden, dass der Schleim am kältesten ist. Er ist auch am klebrigsten, und es braucht am meisten Gewalt, ihn hervorzutreiben, abgesehen von der schwarzen Galle … Dass aber der Winter den Körper mit Schleim füllt, kann man an Folgendem erkennen: Was die Menschen im Winter speien und ausschneuzen, ist am schleimigsten. Auch werden die Schwellungen häufig in dieser Jahreszeit weiß, und auch die anderen Krankheiten werden schleimig. Im Frühling bleibt der Schleim im Körper noch kräftig, und das Blut ist im Wachsen. Denn die Kälte lässt nach und der Regen nimmt zu, und das Blut wächst entsprechend durch den Regen und das warme Wetter. Denn diese Zeit des Jahres entspricht am meisten seiner Natur, weil es feucht und warm ist. Das kann man an Folgendem erkennen: Die Menschen werden im Frühjahr und Sommer am meisten von der Ruhr () ergriffen, das Blut fließt ihnen aus der Nase, und sie sind sehr warm und rot. Im Sommer hat das Blut noch Kraft, und die Galle steigt im Körper an und dehnt sich bis zum Herbst aus. Im Herbst vermindert sich das Blut; denn der Herbst ist seiner Natur entgegengesetzt. Die Galle aber beherrscht den Körper im Sommer und im Herbst. Das kann man an Folgendem erkennen: Die Menschen erbrechen von selbst in dieser Jahreszeit Galle, und bei der Einnahme von Abführmitteln wird viel Galle abgeführt; außerdem sieht man es an den Fiebern und an der Farbe der Menschen. Der Schleim aber ist im Sommer am schwächsten. Denn seiner Natur ist die Jahreszeit, die trocken und warm ist, entgegengesetzt. Im Herbst aber hat der Mensch die geringste Menge Blut in sich. Denn der Herbst ist trocken und beginnt bereits den Menschen abzukühlen. Die schwarze Galle aber ist im Herbst in größter Menge vorhanden und am stärksten. Wenn aber der Winter einsetzt, wird die Galle abgekühlt und geht zurück und der Schleim wächst wieder infolge der Menge des Regens und der Länge der Nächte.
Dies alles hat der Körper des Menschen immer in sich; je nach dem Wechsel der Jahreszeiten wird es bald mehr, bald weniger, ein jedes zu seinem Teil und nach seiner Natur. Denn wie das Jahr als Ganzes an allem teilhat, am Warmen und am Kalten, am Trockenen und am Feuchten …, so könnte auch der Mensch nicht mehr leben, wenn irgendeiner der zu ihm gehörigen Stoffe verschwände. Im Jahr herrscht bald der Winter vor, bald der Frühling, dann wieder der Sommer, dann wieder der Herbst: So herrscht auch im Menschen bald der Schleim, bald das Blut, bald die Galle, zuerst die gelbe, dann die sogenannte schwarze. Das deutlichste Zeichen () dafür ist: Wenn man dem Menschen dasselbe Mittel viermal im Jahr gibt, so wird er im Winter ganz schleimig erbrechen, im Frühling ganz feucht, im Sommer ganz gallig, im Herbst ganz schwarz.
Charakteristisch für das Körperkonzept der hippokratischen Medizin ist, dass es anders als in der Moderne (seit der Renaissance) nicht primär vom anatomischen Aufbau ausgeht, sondern die Rolle von Säften verschiedener Art und Zahl betont. Die Schrift benennt erstmals vier (ohne übrigens ein Wort für »Saft« zu verwenden): Blut, Schleim, Gelbe Galle und Schwarze Galle – in der bis in die Neuzeit reichenden hippokratischen Tradition begründen sie ein kanonisches Viererschema. Insbesondere Galen erhob die Viersäftelehre, kombiniert mit der Qualitätenlehre, zum Dogma (hippokratisch-galenische Medizin). Diese Vorstellung war bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. so dominant, dass, wie in der Skizze der Echtheitskritik erwähnt (s. S. 16), ein davon abweichendes Quellenzeugnis wie als »falsch« abgetan wurde. Das Viererschema galt stets als »echt« hippokratisch. Es war plausibel, weil mit der Lebenswelt vereinbar, symmetrisch, ausbaubar und anschlussfähig.
Es gab seit der Antike die Vorstellung von vier Elementen (Erde, Feuer, Luft, Wasser), vier Qualitäten (warm/kalt, feucht/trocken), vier Jahreszeiten, vier Lebensaltern. In der Neuzeit gesellte sich die bis heute populäre Lehre von den vier charakterlichen Temperamenten (wörtlich: »Mischungen«) hinzu, die in ihrer Begrifflichkeit den unmittelbaren Bezug zu den Körpersäften erkennen lässt: So gibt es den Sanguiniker (Blut), den Choleriker (Galle), den Phlegmatiker (Schleim) und den Melancholiker (Schwarze Galle).
Datiert wird die Schrift (zum Inhalt s. auch S. 14) in die letzten Jahrzehnte vor 400 v. Chr.
Jouanna (1975), S. 164–221.
Craik 2015, S. 207–213; Fichtner 2017, Nr. 25; Golder 2007, S. 57 f.; Jouanna 1999, S. 399 f.; Schöner 1964.
Die vier »Qualitäten«: 1,33
Die Altersstufen () verhalten sich folgendermaßen zueinander: Das Kind ist aus Feuchtem und Warmem gemischt, weil es aus diesen [Elementen] entstanden und in diesen gewachsen ist. Am feuchtesten und wärmsten ist, was der Entstehung am nächsten steht, und es wächst am meisten, und entsprechend ist es mit den nächsten Altersstufen. Der junge Mensch ist warm, weil die Zufuhr des Feuers () die des Wassers () überwiegt, und trocken, weil die Feuchtigkeit aus der Kindheit bereits verzehrt ist, teils für das Wachstum des Körpers, teils durch die Bewegung des Feuers, teils von den körperlichen Anstrengungen. Der Mann ist, wenn der Körper auf der Höhe der Entwicklung steht, trocken und kalt, weil die Zufuhr des Warmen nicht mehr vorherrscht, sondern stehen geblieben ist. Da das Wachstum des Körpers zum Stillstand gekommen ist, ist er abgekühlt. Aus der frühen Jugend ist das Trockene noch in ihm vorhanden; da er aber noch nicht die Feuchtigkeit von dem folgenden Alter und der in ihm auftretenden Zufuhr des Wassers hat, wird er durch die Trockenheit beherrscht. Die alten Leute sind kalt und feucht, weil das Feuer weggeht und das Wasser kommt und weil das Trockene sich entfernt und das Feuchte sich einstellt.
Die vier Lebensaltersstufen des Menschen, hier als diejenigen des Mannes verstanden, werden in Beziehung zu dem Viererschema der Qualitäten warm, kalt, trocken und feucht gebracht. Im Unterschied zur Viersäftelehre der Schrift ist hier jedoch nicht von Säften die Rede, sondern nur von den beiden Elementen Feuer und Wasser, die mit ihrer An- bzw. Abwesenheit die erwähnten Qualitäten hervorbringen. Bemerkenswert ist zudem, dass das Lebensalter des Mannes als »kalt« und »trocken«, dasjenige des Greises als »kalt« und »feucht« bezeichnet wird, wohingegen das Greisenalter in der übrigen medizinischen Literatur und der späteren Tradition überwiegend als »kalt« und »trocken« aufgefasst wird.
Zur Schrift s. S. 37.
Joly/Byl 1984, S. 122–157.
s. S. 37.
Mumps auf Thasos?: 1,1
Auf Thasos gab es im Herbst zur Zeit der Tagundnachtgleiche bis zum Plejadenuntergang reichlich und ununterbrochen sanften...