E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Höftmann Erst wenn du tot bist
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8270-7775-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7775-2
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Katharina Höftmann wurde 1984 in Rostock geboren. Sie studierte Psychologie und deutsch-jüdische Geschichte in Berlin und war als Journalistin und PR-Beraterin für die Agentur Scholz & Friends tätig. Im März 2010 wurde sie Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes im Bereich Wissenschafts- und Auslandsjournalismus und arbeitet seither für die Deutsche Presse-Agentur, Welt Online und Israel HaYom. Aus einem Blog, den sie für die Welt-Gruppe unter dem Titel Guten Morgen, Tel Aviv führte, entstand ein Buch gleichen Namens. Im Aufbau-Verlag erschien ihre Tel-Aviv-Krimiserie um Kommissar Assaf Rosenthal. Katharina Höftmann lebt mit Mann und Kind in Israel und Deutschland.
Autoren/Hrsg.
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1
Ernst Barlach
»Ernsthaft?« Lars sah sie vorwurfsvoll an.
»Also echt mal. Da kann ich doch nichts dafür, dass ich eine Leiche gefunden habe!«, rief sie außer Atem. Ihr Puls hatte sich immer noch nicht wieder beruhigt von dem Schreck. Man sollte meinen, sie hätte sich in all den Jahren als Kriegsreporterin an den Anblick von toten Menschen gewöhnt. Aber es war eben was anderes, wenn man nicht damit rechnete.
Lars wandte sich ab, marschierte los und murmelte etwas. Fanny verstand so viel wie »immer«, »Probleme« und »dir«.
»Bruderherz«, rief sie und bemühte sich, ihm zu folgen, »das ist noch eine ganz junge Frau, oder?« Die Polizisten hatten eine Art Laken über den bleichen, leblosen Körper gelegt. Aber die Augen und das schmale Gesicht hatten sich in Fannys Gedächtnis gebrannt. Große, erschrocken wirkende Augen.
»Also, du hast hier gestanden …« Ihr Bruder kam auf sie zurück.
»Genau. Ich war mitten in meinen Dehnungsübungen, und dann dachte ich auf einmal, was ist das denn da im Wasser? Ich beuge mich vor, und da starrt sie mich förmlich an.« Sie schüttelte sich schaudernd und griff nach Lars’ Hand. »Wie ein Geist oder so«, flüsterte sie.
»Immer noch die alte Dramaqueen, was?« Lars verdrehte die Augen.
»Was passiert denn jetzt?«, fragte Fanny und überging diesen gemeinen Kommentar einfach.
»Wir werden die Ermittlungen aufnehmen. Schauen, ob es Selbstmord war oder ein Unfall …«
»Vielleicht wurde sie auch getötet. Vielleicht wurde sie ermordet.«
»Fanny. Wir sind hier nicht in Bagdad. Oder Afghanistan. Du bist in Stralsund. Also krieg dich mal wieder ein.«
Als Fanny kurze Zeit später, nur äußerlich beruhigt, die Redaktion der betrat, folgten die Augenpaare der fünf Mitarbeiter, die im gläsernen Konferenzraum saßen, jedem ihrer Schritte. Anders als bei der Toten am Morgen, konnte man in diesen Augen jedoch viel Leben sehen: Leben und Menschliches. Misstrauen. Ablehnung. Vielleicht auch Neid. Nur eine ältere Dame lächelte freundlich und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zugelaufen. »Frau Wolff, ich bin Brigitte Voigt. Wir hatten telefoniert.«
»Ach ja, genau. Aber nennen Sie mich doch bitte Fanny. Frau Wolff ist meine Mutter.«
»Na dann«, Brigitte Voigt lächelte verschwörerisch, »ich bin die Biggi, und wir fangen hier übrigens schon um halb neun an.«
Fanny schaute auf ihre Armbanduhr. Eine silberne Casio, die Ben gehörte und die sie kurzentschlossen eingesteckt hatte, als sie das letzte Mal in seiner Wohnung war. Es war fast halb zehn. Na das ging ja gut los. Aber wer fing auch halb neun an zu arbeiten? Typisch Lokalredaktion.
»Ist Herr Thiele in seinem Büro?«, fragte sie schnell, auch um von ihrer Verspätung abzulenken. Nichts war ihr so peinlich, wie sich zu verspäten. Mochte das auch mittlerweile ein sozial akzeptiertes Phänomen sein – jeder tat es, selbst alte Leute –, für Fanny war Zuspätkommen auch immer eine Respektlosigkeit. Denn eigentlich verhielt der Sich-Verspätende sich so, als sei seine eigene Zeit kostbarer als die des Wartenden. Das Kreuz an der Sache war nur, dass sie selbst sich ständig verspätete. Auch wenn sie es nie, ja wirklich nie, mit der bösen Absicht tat, die sie anderen unterstellte.
»Natürlich. Mir nach bitte«, befreite Brigitte, Biggi, Voigt sie aus ihrer Verlegenheit.
Das Büro von Lutz Thiele lag ein Stockwerk über dem Redaktionsraum, in dem die auf den ersten Blick mehrheitlich weit über 40-jährigen Redakteure vor ihren Computern saßen. Den berühmt-berüchtigten Lokaljournalismus hatte sie in ihrer Karriere komplett übersprungen. Nun hatte er sie doch eingeholt, ging es Fanny durch den Kopf, während sie Biggi Voigts ausladendem Hinterteil auf einer schmalen, steilen Treppe in den zweiten Stock folgte. Oben angekommen, klopfte die Sekretärin zwei Mal, ganz kurz, so als fürchtete sie, sich an der Tür zu verbrennen, an das dunkle Holz und winkte Fanny dann eifrig heran, als von drinnen ein Grunzen kam. Lutz Thiele blieb sitzen, als sie sein Büro betrat. Fanny versuchte, sich zu erinnern, ob der Mann, mit dem sie das Vorstellungsgespräch geführt hatte, wirklich so ausgesehen hatte wie der Mann am Ende des Zimmers. Sie hatte vergessen, wie bärig er mit seinem grauen Vollbart und der kräftigen Statur wirkte. Wobei sich sein Bauch, den sie immerhin als relativ voluminös in Erinnerung hatte, jetzt wie ein schüchternes Kind hinter dem Schreibtisch versteckte. Thiele nahm seine schmale Lesebrille ab, fuhr sich über die hohe Stirn – auf der es aussah, als seien seine Haare von ihrem Ursprungsort in Richtung Hinterkopf geflüchtet – und zeigte mit der Hand auf den Stuhl, der vor seinem Tisch stand. »Frau Wolff! Setzen Sie sich doch.«
Ungelenk, wie sie manchmal sein konnte, stolperte Fanny auf diese Aufforderung hin über das Stuhlbein, bevor sie sich erschöpft von der Nervosität, die sie schon den ganzen Morgen im Griff hatte, seufzend in den weichen Stuhl sinken ließ.
»Willkommen«, brummte er.
Fanny hatte schon beim Vorstellungsgespräch festgestellt, dass Lutz Thiele offenbar kein Mann der großen Worte war. Und dieser Gegensatz zu den Chefredakteuren, mit denen sie in der Vergangenheit zusammengearbeitet hatte, hatte ihr gleich gefallen.
»Danke, ich freue mich«, bemühte sie sich schnell zu sagen. Wie immer, wenn sie aufgeregt war, klang ihre Stimme zu schrill und sie wusste nichts anderes mit ihrem Gesicht anzufangen, als debil zu grinsen. Männer verstanden Lächeln als Schwäche. Das hatte ihr Vater ihr eingebläut. Anscheinend nicht gründlich genug, dachte sie und bemühte sich nun, möglichst souverän auszusehen. Souverän wie eine Eidechse, die sich in der Sonne aalte.
»Sind Sie gut in Stralsund angekommen? Wohnung et cetera?«
»Ich habe heute Morgen am Sund eine Leiche gefunden«, platzte sie statt einer Antwort heraus.
»Bitte was?«, fragte er irritiert.
»Ich war auf der Promenade laufen. Meine Wohnung liegt am Hafen und das ist meine morgendliche Joggingstrecke.«
»Was denn für eine Leiche?«
»Eine junge Frau. Die Polizei ermittelt bereits. Ob es Selbstmord oder ein Unfall war. Oder«, sie holte tief Luft, »Mord.« Da waren sie wieder, diese toten Augen. Fanny merkte, wie ihr schwindlig wurde. Nicht jetzt. Sie schaute sich hilflos um. Ablenkung half bei den Attacken. Ein Glas oder eine Tasse in der Hand konnten Wunder wirken. Ihr fielen die prall gefüllten Kühlschränke in ihrer letzten Redaktion ein. Hier hatte man ihr noch nicht mal einen Kaffee angeboten.
»Wer leitet denn die Ermittlungen?«, fragte Lutz Thiele, während er gebannt auf den Bildschirm schaute und begann, auf seiner Tastatur zu tippen.
»Ähm, Lars Wolff.«
»Lars Wolff«, wiederholte Thiele nachdenklich, »Moment. Wolff? Sind Sie beide etwa verwandt?«
»Er ist mein Bruder«, nickte sie zustimmend, »Mein Zwillingsbruder, um genau zu sein.«
Über das Thiele’sche Bärengesicht huschte ein Ausdruck von Überraschung. »Was Sie nicht sagen.«
»Kann man bei Ihnen eigentlich einen Kaffee kriegen?«
»Ausnahmsweise«, sagte er und rief in Richtung Vorzimmer, »Biggi, bring mal Frau Wolff einen Kaffee bitte.« Dann lehnte er sich in Fannys Richtung über den Schreibtisch. »Ab morgen holen Sie sich den alleine, unten steht eine Maschine.«
»Klaro.«
»Jetzt stelle ich Ihnen erst einmal unsere Mannschaft vor, um 9.30 Uhr findet sowieso die Morgenkonferenz statt und alle Mitarbeiter versammeln sich im Konferenzraum. Ich würde sagen, sie lernen heute erst einmal unsere Abläufe kennen. Das ist hier natürlich nicht oder , aber Sie werden sich schon eingewöhnen. Obwohl ich immer noch nicht so richtig verstehe, was Sie nach Stralsund zurückzieht.«
»Wie ich schon in unserem ersten Gespräch sagte, Herr Thiele, private Gründe.«
»Gut«, nickte er, »Wie dem auch sei. Wissen Sie, wie lange ich nicht mehr im Urlaub war? Ich freue mich, dass ich endlich eine Stellvertreterin gefunden habe.«
»Und ich freue mich auf die neue Herausforderung«, erwiderte sie prompt, »Neben der regelmäßigen Kolumne, über die wir ja bereits gesprochen haben, würde ich gerne auch ein paar Themenvorschläge für Artikel machen.«
»Kein Problem. Allerdings müssten Sie vor allem erst einmal die Vorschläge von unserem Volo begutachten. Ich möchte, dass Sie ihn ein wenig unter die Fittiche nehmen.«
»Mentoring?«, fragte Fanny gespannt.
»Wenn Sie es so nennen wollen.«, antwortete Thiele mit einer wegwerfenden Handbewegung, »Und dann gilt es, ein Gesprächsforum der OB-Kandidaten im Theater zu organisieren. Aber ich denke, Ihr erstes Thema steht sowieso, oder?«
»Sie meinen die Tote aus dem Sund?«
»Natürlich! Sie haben die Leiche gefunden und Ihr Bruder ermittelt.«
Fanny schaute Lutz Thiele nachdenklich an. Ob das so eine gute Idee war. Lars würde nicht begeistert sein, wenn sie in seinem Fall herumschnüffelte. Andererseits. Sie beide hatten viel zu lange viel zu wenig miteinander zu tun gehabt – es war höchste Zeit, das zu ändern.
Als Fanny mittags aus dem Redaktionsgebäude trat, hatte die Trübheit des Morgens einem dieser strahlenden Sommertage Platz...