Hoeg | Der Plan von der Abschaffung des Dunkels | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 296 Seiten

Hoeg Der Plan von der Abschaffung des Dunkels

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25036-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 296 Seiten

ISBN: 978-3-446-25036-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Drei Waisenkinder begegnen sich in einer Kopenhagener Privatschule. Nach und nach erfahren sie deren ausgeklügeltes System aus Überwachung und Manipulation und bilden eine Art Ersatzfamilie. Wie Fräulein Smillas Gespür für Schnee schildert dieser spannende, autobiographisch motivierte Roman den Kampf von Outsidern gegen eine grausame Machthierarchie und erzählt zugleich eine zarte, ergreifende Liebesgeschichte.

Peter Høeg, 1957 in Kopenhagen geboren, ist mit dem Roman Fräulein Smillas Gespür für Schnee (Hanser 1994) zum internationalen Bestsellerautor geworden. Bei Hanser liegen außerdem vor: Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert (Roman, 1992), Der Plan von der Abschaffung des Dunkels (Roman, 1995), Die Liebe und ihre Bedingungen in der Nacht des 19. März 1929 (Erzählungen, 1996), Die Frau und der Affe (Roman, 1997), Das stille Mädchen (Roman, 2007), Die Kinder der Elefantenhüter (Roman, 2010), Der Susan-Effekt (Roman, 2015) und Durch deine Augen (Roman, 2019). Peter Høeg lebt in der Nähe von Kopenhagen.
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3


Biehls Privatschule war eine Belohnung nach dem dritten Vergewaltigungsversuch, wobei nicht ich die Vergewaltigung versucht hatte, sondern sie an mir versucht worden war.

Ich war damals an der Königlichen Erziehungsanstalt, die auch Die Thorupsche Stiftung heißt, aber von den Schülern Die Brotkantenschule genannt wurde, am Strandvejen 109.

Weil Valsang, der es getan hatte, ein Lehrer der Schule war, und weil dem soviel vorausgegangen war, war die Schulleitung sehr bekümmert über den Zwischenfall, und ich beschloß, einen gewissen Druck auf sie auszuüben.

Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, daß es nicht gut war, an der Schule zu bleiben. Oscar Humlum – der mich in der Telefonzelle gerettet hatte und der mein einziger Freund war, auch er kam aus einem Kinderheim – war ein Jahr länger dort als ich, und er kam nur zurecht, indem er Geld dafür nahm, verschiedene Dinge zu essen, eine Krone für einen Regenwurm und einen Fünfer für einen Frosch, es war offensichtlich, wo das hinführte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die ersten Schwierigkeiten mit der Zeit, und am Abend des Tages, an dem er mich gerettet hatte, versuchte ich ihm zu erzählen, daß sich die Zeit an der Schule spiralförmig nach unten wand. Da wir nun beide Zeugen waren, sollten wir versuchen, ein Geschäft mit ihnen zu machen, um beide wegzukommen.

Es war, als ob er mich nicht verstünde, er träumte davon, Koch auf den Schwedenfähren zu werden, ich dachte, daß er vielleicht glaubte, er sei kurz davor, eine Lehrstelle zu finden. Er antwortete mir nicht, er schüttelte nur den Kopf, und später, im Büro, sagte er auch nichts, übte aber allein durch seine Anwesenheit einen gewissen Druck auf sie aus. Sie versprachen, sie würden versuchen, mich an Biehls Privatschule unterzubringen, die in den letzten Jahren ab und zu verhaltensgestörte Heimkinder aufgenommen hatte und einen guten Ruf besaß.

Dies erzählte ich Katarina während unseres zweiten Gesprächs in der Bibliothek, dem, bei dem man uns fand und trennte.

»Ich kann mich erinnern, als du kamst«, sagte sie. »Du warst ziemlich klein.«

Dazu erklärte ich, daß ich bei der Umschulung in die 5. Klasse von Biehls Privatschule, also eine Klasse tiefer als zuvor, 23 Kilo wog, angezogen, aber ohne Schuhe. Ich war 128 Zentimeter groß, und der Amtsarzt hielt fest, daß dies keine Mißbildung war, sondern damit zusammenhing, daß man an der Brotkantenschule am Essen gespart hatte. Außerdem hatte es dort eine Rangordnung gegeben, derzufolge die, die zuletzt gekommen und Heimkinder waren, unter allen anderen standen, sogar unter den Tagesschülern, und mittags, wenn es warmes Essen gab, als letzte zu essen bekamen, was einem mit der Zeit Probleme machte, weil man mit dieser Hauptmahlzeit auch die Nacht überstehen mußte.

An Biehls Privatschule wuchs ich darum im ersten Jahr fünfundzwanzig Zentimeter und nahm siebzehn Kilo zu. Obwohl dies einige Schmerzen im Skelett und auch Fieber hervorrief, habe ich damals nie gefehlt.

Sie las aus dem Brief vor, den sie vor sich hatte: »›Kurze Augenblicke, die werden wie die Ewigkeit.‹« Sie bat mich, es zu erklären.

Warum stand das so da?

Man hatte wohl selbst keine Sprache, wenn man an die Brotkantenschule kam. Im Himmelbjerghaus und in den Heimen davor war man mit sehr wenigen Worten ausgekommen.

Das erste halbe Jahr sagte man in den Stunden kein Wort, dann hatte man das Wesentliche gelernt. Bei Biehl wurde dann alles ganz genau festgelegt.

Man übernahm ihre Sprache, die der Lehrer und der Schulen, man selbst hatte keine. Zunächst war sie wie eine Befreiung, wie ein Schlüssel, wie ein Weg. Der einzige Weg, der hineinführte.

Viel später entdeckte man dann, daß das, in das man damals hineingelassen wurde, ein Tunnel war. Aus dem man nie mehr im Leben ganz entlassen werden würde.

»›Kurze Augenblicke, die werden wie die Ewigkeit.‹ – Was kann er gemeint haben?« sagte sie. »Der, der den Brief geschrieben hat.«

Was gemeint war, war, daß die Zeit etwas ist, das man festhalten muß, und der Ort, wo wir das zum ersten Mal untersuchten, war dort, wo die Hornbækbahn durch das Schulgelände führte.

Oscar Humlum hatte es entdeckt; damals glaubte ich, es sei ein Spiel, später verstand ich, daß er krank war, daß wir beide krank waren.

Er spielte Sich-fallen-Lassen.

Die Brotkantenschule war eine Schule für intellektuell begabte Kinder, die in Schwierigkeiten geraten waren, weil ihnen der feste Rahmen fehlte. Weil sie aus Scheidungsfamilien kamen oder vielleicht Familien mit Alkoholismus. Die Schule sorgte nun für den Rahmen, zum Beispiel durch die Art, wie man im Schlafsaal schlief, zwischen zwei Laken und einer Decke, die unter die Matratze gesteckt wurde, mit zwei offenen Fenstern rund ums Jahr, und nur einer Extradecke im Winter.

Die meisten konnten nach einer gewissen Zeit die unglaublichsten Dinge ertragen, und wenn es mir lange Zeit immer noch schwerfiel, dann deshalb, weil am Essen gespart wurde.

Man kam darauf, daß man sich hinausschleichen konnte auf die Toilette, wo ein Heizkörper aufgedreht war. Man wartete, bis die Aufsicht und die anderen schliefen, dann ging man hinaus und setzte sich an die Heizung und schlief ein. In einer Nacht saß Humlum dort, als ich hinauskam, er hatte seine Decke mitgenommen und saß schlafend da, es war das erste Mal, daß er mir wirklich auffiel.

Ab und zu sprach man ein bißchen miteinander, bevor man einschlief. Jeder saß auf seiner Toilette mit einer Trennwand dazwischen. Dennoch konnte man den anderen hören, auch wenn man leise sprach. Dort erzählte er mir, daß er spielte, sich fallen zu lassen.

Wir befestigten ein Tau in einem Baum direkt an der Bahnlinie, so daß wir, wenn der Zug kam, vor die Lokomotive schwingen, einen Augenblick vor der Scheibe hängen und zum Lokomotivführer hineinsehen und so spät von dort verschwinden konnten, daß klar war, daß man gerade noch überlebt hatte.

Normalerweise würde man beim Schwingen ununterbrochen daran denken, wie man rechtzeitig wieder weg käme. Wir versuchten jedoch statt dessen, uns fallen zu lassen, das heißt, abzuschalten und den Zug und das Seil zwischen den Händen zu spüren, denn dabei entstand ein sehr reicher Augenblick. Die Zeit fing an, sich auszudehnen, so daß man nachher nicht hätte sagen können, wie lange es gedauert hatte. In den längsten Augenblicken, die beiden Male, wo ich vom Zug gestreift worden war, hatte es keine Zeit mehr gegeben.

Sogar da spürte man, daß es eine Regel gab. Daß die Zeit nicht etwas sein konnte, das von selbst ablief, sondern etwas, das man festhalten mußte. Und wenn man sie losließ – dann wurde der Augenblick sehr bedeutungsvoll.

In gewisser Weise war diese Entdeckung eine Hilfe. Gleichzeitig war sie die Krankheit.

Dies erzählte ich Katarina, und sie hörte zu.

An der Brotkantenschule hatte nie jemand zugehört, jedenfalls kein Erwachsener.

Damit will ich der Schule nichts Böses nachsagen, sie sorgte für den festen Rahmen, der den Leuten gefehlt hatte. Anker Jørgensen war auch dort gewesen, die Schule hatte einen Ministerpräsidenten erzogen.

Obwohl das nicht das Normale war. Das Normale war, daß von den fünfzehn, die in eine neue Klasse kamen, zirka die Hälfte innerhalb der ersten vier Jahre abgehen mußte, weil sie das Theoretische oder weil sie es insgesamt nicht schafften.

Obwohl ich erst zwölf war, als ich umgeschult wurde, war mir dennoch klar, daß es mit den meisten von denen, die zurückblieben, nicht klappen würde, die meisten von ihnen waren verloren.

Es kamen Angestellte von der Hornbækbahn, die zusammen mit Leuten von Falck den Baum fällten. Ich wurde verdächtigt, doch es war an dem Tag, bevor ich die Schule verlassen sollte, und sie wollten Aufsehen vermeiden, darum verfolgten sie die Sache nicht.

An dieser Stelle hielt ich inne, ich fühlte mich sehr leer, es war notwendig, daß sie als Gegenleistung auch etwas sagte.

An der Brotkantenschule hatten wir drei Kronen im Monat ausbezahlt bekommen und drei gespart, dennoch bezahlte man, was man schuldig war, das war eine Grundregel, sogar bei Gummi, der sehr lange Zeit verzichten konnte, Süßigkeiten bis zum Ende des Monats aufsparte und sie dann sehr teuer verkaufte. Die wenigen Male, wo es vorkam, daß jemand versuchte, sich zu drücken, mußte er von der Weide in den See springen, das waren zehn Meter mit nur einem Meter Wasser darunter, man brach sich nichts, aber man sank bis zur Brust in den Schlamm, und dann wurde man langsam nach unten gesogen und erst gerettet, wenn die Haare einige Zeit unter Wasser gewesen waren.

So erbrachte jeder seine Gegenleistung und bezahlte, was er schuldig war. Es war eine Grundregel.

Katarina muß sie gekannt haben. Zunächst wartete sie, ob ich noch etwas sagen würde, ich aber schwieg, ich konnte nicht mehr, da sagte sie:

»Letztes Jahr sind übrigens meine Mutter und mein Vater gestorben.«

An der Brotkantenschule hatte ich versucht, mir vorzustellen, wie es ist, in einer Familie zu sein. Man stellte sich vor, den Strandvejen entlangzugehen und eines der Küchenmädchen käme angefahren; sie hielt an und nahm einen hinten aufs Fahrrad, man sprach frei und ungezwungen miteinander und fuhr nach Hause, dorthin, wo sie wohnte. Es war ein Haus, und ihr Vater und ihre Mutter waren da, und man setzte sich an den Eßtisch, und es gab Essen in Massen. Vor allem so stellte man sich eine Familie vor. Daß es genug zu essen gab.

Als Katarina ihre Mutter und ihren Vater zum ersten Mal erwähnte, war...


Hoeg, Peter
Peter Høeg, 1957 in Kopenhagen geboren, ist mit dem Roman Fräulein Smillas Gespür für Schnee (Hanser 1994) zum internationalen Bestsellerautor geworden. Bei Hanser liegen außerdem vor: Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert (Roman, 1992), Der Plan von der Abschaffung des Dunkels (Roman, 1995), Die Liebe und ihre Bedingungen in der Nacht des 19. März 1929 (Erzählungen, 1996), Die Frau und der Affe (Roman, 1997), Das stille Mädchen (Roman, 2007), Die Kinder der Elefantenhüter (Roman, 2010) und Der Susan-Effekt (Roman, 2015). Peter Høeg lebt in der Nähe von Kopenhagen.



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