E-Book, Deutsch, 197 Seiten
Höhl-Kayser Magische Novembertage
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95765-979-8
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein märchenhafter Aufstand auf Sylt
E-Book, Deutsch, 197 Seiten
ISBN: 978-3-95765-979-8
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marie hasst Sylt im November. Sie lebt nach der Trennung ihrer Eltern bei ihrer Großmutter, hat keine Freunde auf der Insel - und es ist auch noch Mistwetter.
Da begegnet ihr am Strand der geheimnisvolle Nis, und Marie steckt plötzlich mittendrin in einem Märchen: Die Sylter Sagen von Puken, Zwergen und Meermenschen sind wahr!
Doch wer an eine heile Märchenwelt denkt, irrt: Der Zwergenkönig und seine Krieger wollen die Insel von den Menschen zurückerobern. Marie gründet mit ihren neuen Freunden, Nis, dem Puk, der Sylterin Imken und Zwerg Finn dem Dritten eine Widerstandsgruppe. Sie wagen sich in die Tiefen des Zwergenreichs -
Wird Marie der Zauber zur Rettung Sylts gelingen?
Die Autorin: Anke Höhl-Kayser, geb. 1962 in Wuppertal, Studium der Literaturwissenschaften in den Fächern Anglistik, Skandinavistik, Germanistik und Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum, Abschluss Magister Artium, tätig als freiberufliche Autorin und Lektorin, zahlreiche Veröffentlichungen, verheiratet, zwei Kinder. 'Magische Novembertage' ist ihr zweiter Roman bei p.machinery.
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»Sylt, ich hasse dich!«
Marie warf ihre Schultasche in hohem Bogen die Treppe hinunter. Sie überschlug sich ein paar Mal, rutschte ein Stück weg und blieb schließlich unten an der Mülltonne hängen. Mülltonne war eigentlich zu viel gesagt, denn es handelte sich um ein Metallgestell mit einem Deckel, in das ein großer Müllsack eingehängt worden war, der wild im Wind flatterte. Eben dieser Wind blies sich mächtig auf und knallte Marie so ins Gesicht, als habe er ihr eine runtergehauen. Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf und streckte ihm die Zunge heraus. Sie hasste den blöden Wind. Sie hasste den Monat November, und sie hasste überhaupt diese ganze dämliche Insel, nicht nur, weil es hier immer diesen heftigen Wind gab, weil es so kalt und trübe war, weil das Meer den Eindruck erweckte, als wolle es alles und jeden und Marie im Speziellen verschlingen – nein, vor allem, weil diese Insel nicht ihr Zuhause war. Zuhause war Marie in Bochum, im Ruhrgebiet. Da war sie vor elf Jahren geboren worden, da war sie in den Kindergarten und zur Grundschule gegangen. Da wohnten ihre Freunde. Da lebten ihre Papaoma und der Papaopa. Und ihr Papa. Nur sie wohnte jetzt nicht mehr in Bochum. Sie musste auf Sylt sein, aus Gründen, die sie selber nicht ganz verstand und die ihr auch niemand richtig erklären wollte. Papa hatte irgendetwas getan, womit er Mama fürchterlich verletzt hatte. Es hatte einen entsetzlichen Streit mit Geschrei und vielen Tränen gegeben. Anschließend waren Mama und Papa ganz still gewesen und hatten gar nicht mehr miteinander gesprochen. Schließlich hatte Maries Mama mit der Mamaoma telefoniert, und dann war es entschieden: Marie würde mit Mama nach Sylt ziehen. Dort lebte die Mamaoma in einem wunderschönen großen Reetdachhaus. Obwohl sie schon 72 war, arbeitete sie immer noch als Tierärztin in ihrer Praxis, weil der Mamaopa gestorben war und sie sich beschäftigen wollte. »Ich bin so froh, dass ihr hier seid«, hatte die Mamaoma gesagt, als sie angekommen waren. »Das Haus ist inzwischen viel zu groß für mich allein. Ich kann es nachts schon mit mir sprechen hören. Auch wenn es nette Dinge sind, die es zu mir sagt: Es wird Zeit, dass es wieder mit Leben erfüllt wird.« Marie war in ihrem Leben schon oft auf Sylt gewesen, in den letzten Jahren aber immer nur in den Sommerferien. Sie kannte die Insel in freundlichem Sonnenlicht, bei heißen Temperaturen, wo sein erfrischendes Meer zum Baden und Spielen am Strand einlud. Jetzt, im November, regnete es fast ununterbrochen und es war immer kalt und grau. Sie waren Anfang September angekommen, und Marie schien es, als ob sich die Insel so wie Maries eigene Stimmung immer weiter verdüsterte. Sie wollte nicht hier sein. Im Urlaub war es schön hier, da hatte sie sich oft gewünscht, für immer hierbleiben zu können. Aber wie sagte die Papaoma so oft: »Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, manchmal gehen sie in Erfüllung.« Und jetzt war sie hier und saß fest, allein mit Mamaoma und Mama, ohne Freunde, ohne Papa. Nun gut, ganz ohne Freunde war sie nicht. Mamaoma war ihre Freundin, sie war immer für sie da, spielte mit ihr Brettspiele und zeigte ihr die geheimsten Orte auf der Insel. Aber die richtigen Freunde fehlten Marie, und Mama fehlte Marie auch, denn mit Mama konnte man im Moment überhaupt nicht mehr reden. Mama lebte ganz in ihrer eigenen Welt. Wenn man das Wort an sie richtete, reagierte sie oft gar nicht, und dann zuckte sie zusammen, als müsse sie sich erst mühsam wieder in der Realität zurechtfinden. Oder sie war sauer. Marie vermied es inzwischen, sie anzusprechen. Sie hatte ihr auch nichts zu sagen. Denn eigentlich war Mama schuld, dass sie nun hier auf Sylt waren. Warum konnte sie Papa nicht verzeihen? Er gab sich doch solche Mühe und rief immer wieder an! Und dann knallte Mama den Hörer meist einfach auf die Gabel, ohne Marie zu fragen, ob sie mit Papa sprechen wollte. Marie hätte gern mit Papa gesprochen. Sie hätte ihm gern erzählt, dass die Schule hier schrecklich war. Alles war so langweilig, und die Lehrerin ermahnte sie ständig, nicht aus dem Fenster zu gucken. Die anderen Kinder lachten sie dann immer aus. Auf dem Schulhof spotteten sie über sie, kicherten hinter ihrem Rücken, und keiner wollte mit ihr spielen. Sie ließen sie merken, dass sie eine Fremde war und nicht zu ihnen gehörte. »Aber das will ich auch gar nicht«, brüllte Marie in den Wind und stampfte wieder mit dem Fuß auf. »Zu den Doofen will ich gar nicht gehören! Ich bin schließlich keine Sylterin und das will ich auch überhaupt nicht werden! Sylt ist blöde! Sylt, ich hasse dich!« Es machte gar nichts, dass sie so brüllte, denn der Strand war menschenleer. Zu dieser Jahreszeit kamen kaum Gäste auf die Insel – kein Wunder, dachte Marie. Sie packte ihren Ranzen und schleuderte ihn noch einmal über den Strand. Dabei öffnete sich der Druckverschluss und Bücher, Federmappe und Hefte kullerten bunt gemischt hervor. Marie fing vor Wut an, zu weinen. Sie gab dem Tornister noch einen Tritt, bevor sie sich bückte, um ihr Zeug wieder aufzusammeln. Als sie den Spiegel aufhob, den sie heute für Kunst hatte mitbringen sollen, sah sie sich selbst: ein elfjähriges Mädchen mit schmalem, blassem Gesicht, umrahmt von dunkelbraunen Haaren, mit leuchtend braunen Augen hinter Brillengläsern und einer roten Rotznase. Eigentlich war alles gut, was sie sah, bis auf die Rotznase. Gleich fing sie wieder an zu weinen, obwohl sie wusste, dass es dadurch schlimmer wurde. Als sie fast alles wieder verstaut hatte, merkte sie, dass der Wind sich ihr Matheheft gegriffen hatte und es über den Strand Richtung Flutkante vor sich hertrieb. Marie kreischte entsetzt auf. Nicht Mathe! Nur nicht Mathe! Sie hatte so viel Mühe gehabt, die Aufgaben zu lösen und war so froh gewesen, dass sie sie in der Schule schon geschafft hatte! Sie rannte wie wild hinter dem Heft her, aber der Wind spielte ein Spiel mit ihr. Jedes Mal, wenn sie sich nach dem Heft bückte, verfing er sich wieder in dessen Seiten und trieb es weiter. Maries Tränen kullerten inzwischen so, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. Noch ein Windstoß, und das Heft würde im Wasser landen. Das Meer rollte mit einer großen Brandungswoge gegen den Strand an und – Ein Junge, schlaksig und groß mit einer grellroten Baseballmütze auf dem Kopf, bückte sich nach dem Heft und hob es mit einer lässigen Bewegung auf. »Das ist wohl deins«, sagte er trocken und hielt es der schluchzenden Marie hin, die verzweifelt versuchte, wieder Luft zu holen. »Da-da-danke«, brachte sie mühsam heraus. »Keine Ursache«, antwortete der Junge. »Sag mal, was machst du hier eigentlich mit deinem Rucksack und dem ganzen Geschrei?« Marie spürte, dass sie flammend rot im Gesicht wurde. Sie hatte gedacht, niemand würde sie hören … »Ich – äh«, war das Einzige, was sie sagen konnte. »Na, ist ja auch egal«, meinte der Junge. »Ist manchmal ganz gut, was in den Wind zu schreien, weißt du. Er behält es für sich. Der Wind ist okay, auch wenn er einem schon mal eine scheuert. Sind so seine Erziehungsmethoden.« Marie wurde schon wieder wütend. Was bildete der sich ein, von ihren Sorgen zu wissen? »Du hast da eine ziemlich uncoole Mütze auf«, antwortete sie spitz. »Was bedeutet das, was da draufsteht? Sylt 11 –, dass du ein elfjähriger Sylter bist? Du siehst aber aus wie mindestens dreizehn.« Der Junge schaute sie an. Erst jetzt sah Marie, dass er meergraue Augen und strohgelbe Haare hatte. Er war vielleicht nicht ausgesprochen hübsch – nicht Robert-Pattinson-mäßig (den ihre beste Freundin zu Hause so toll fand) –, aber sie fand ihn gut aussehend. Er hatte ein freundliches, offenes Gesicht. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, konnte man ihm blind vertrauen. Außerdem bildeten sich lustige Grübchen in seinen Wangen, wenn er lachte, und das tat er ziemlich oft. »Schon klar«, sagte er mit breitem Grinsen. »Das musste ja jetzt kommen. – Sag mir lieber deinen Namen, In-den-Wind-Schreierin.« Maries Gesicht war ganz heiß vor Scham. Warum hatte sie das mit der Mütze gesagt? Der Junge war doch so freundlich zu ihr gewesen, und diese Freundlichkeit hatte ihr gut getan. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie sich so benahm. »Ich heiße Marie«, murmelte sie und nahm die Hand, die der Junge ihr entgegenstreckte. »Und du?« »Ich bin der Nis«, antwortete der Junge. »Echter Sylter?«, vermutete Marie mit gesenktem Blick. Nis lachte laut auf. Es klang so lustig, dass Marie unwillkürlich mitlachen musste. »Waschechter Sylter«, bestätigte er. »Schlimm?« Zum ersten Mal seit neun Wochen kam Maries Lachen tief aus dem Herzen. »Nein«, sagte sie. »Überhaupt nicht schlimm.« »Komm«, sagte Nis. »Ich bring dich nach...