E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Tannenfall
Hofer Tannenfall. Das andere Licht
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96041-573-2
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Tannenfall
ISBN: 978-3-96041-573-2
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Seit Jahrhunderten ranken sich Legenden um den mysteriösen Ort Tannenfall, von dem ein von Hirschen bewachter Königsweg das Tor zum Paradies öffnen soll. Vier Schwestern, getrennt voneinander an unterschiedlichen Orten aufgewachsen, spüren den Ruf Tannenfalls als der ihnen unbekannten Heimat. Jede folgt ihm auf ihre Weise – ohne zu ahnen, dass die "Schwarze Familie" alles daran setzt, sie auf ihrem Weg aufzuhalten.
Greta Erdsegen lebt mit ihrer Familie auf einem kargen Bauernhof in der Nähe von Dresden. Die Halluzinationen in ihrem Kopf verdrängt sie. Ihre Beschäftigung mit der Geschichte des Landes hilft ihr dabei. Vor allem dem schillernden Leben der Gertrud von Babenberg, der letzten Babenbergerin, hat sie ihr Leben verschrieben. Die geheimnisvolle Frau starb vor Hunderten von Jahren in einem Klarissenkloster am Wahnsinn. Als eines Tages ein vor Jahren verschwundenes Mädchen in den Wäldern von Dresden auftaucht und vor der "Großen Krankheit" warnt, die sich über die Welt ziehen wird, zieht Greta eine Verbindung zur letzten Babenbergerin. Ist sie die Gründerin der geheimnisvollen Schwarzen Familie? Können Greta und ihre drei Schwestern sie darin hindern, die Welt in den Abgrund zu stürzen?
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
DER ZAUBERBERG
Ich war den ganzen Tag durchgefahren. Nur langsam hatte ich mich an die Geschwindigkeit gewöhnt. Dimitri hatte mir auf einem Feld gezeigt, wie man ein Auto fährt. Dabei hatte er seine Hand immer auf meinem Oberschenkel. »Du kannst schon Gas geben«, hatte er immer gesagt. »Zeig, was du kannst.« Dabei hatte er geifernd die Zähne gefletscht und immer wieder »Bravo, bravo!« gerufen, wenn ich das Gaspedal ein wenig tiefer durchdrückte. Bravo, bravo, hatte ich vor wenigen Stunden selbst zu mir gesagt, als es mir unter größter Anspannung und mit kerzengerade aufgerichtetem Rücken gelungen war, den Wagen langsam auf eine Autobahnauffahrt in Richtung der tschechischen Grenze zu lenken. Erst nach einiger Zeit auf der Autobahn – ich hatte die rechte Spur nie verlassen und kein einziges Fahrzeug überholt – sank ich langsam nach hinten und lehnte mich in den Sitz. Nach und nach traute ich mich sogar, etwas mehr Gas zu geben, bis der Tachometer sich schließlich bei einhundert Stundenkilometern einpendelte. Bravo, bravo, dachte ich auch jetzt wieder und starrte in die Welt vor mir, die wie eine Röhre auf mich wartete. Der Brief, den mir der Priester gegeben hatte, lag neben mir. In meinem Kopf spulte sich sein Inhalt immer wieder ab. Habt keine Angst vor meinen Zeilen. Auch auf die Gefahr hin, dass ihr niemals diesen Brief erhalten mögt und dass ihr sogar die falsche Empfängerin seid, so bleibt doch dieser geschriebene Teil von mir als ein Vermächtnis über ein langes, vertanes Leben. Ich habe dieses Tal und dieses Dorf nie verlassen. Hier glaubte ich alles zu finden, um glücklich zu sein. Als ich selbst die große Liebe meines Lebens in den Wirren des Krieges fand, hoffte ich, dass mein Leben unter einem guten Stern stand. Doch meine Liebe hat mich mit meinem besten Freund betrogen, weil ich ein Feigling war. Ich hatte keinen Beweis für ihre Untreue, aber ich wollte mich rächen und es ihnen beiden heimzahlen. Also umgarnte ich die Frau meines Freundes. Ich liebte sie keinen Augenblick. Aber ich war besessen von ihr. Dieser Lust entsprangen vier Kinder. Vier wunderschöne Mädchen. Ich schämte mich so sehr. Aber die anfängliche Rache hatte sich schon bald mit der Sucht nach dem Körper dieser ebenfalls betrogenen Frau vermischt, und diese Sucht ließ mich nicht los. Niemand wusste, dass die vier Töchter meines Freundes in Wahrheit meine Kinder waren. Doch dann begann auch sie mit den Experimenten. Sie war besessen davon. Alle waren davon besessen. Ich musste euch retten. Aber wie sollte ich das anstellen, ohne meine eigene Familie aufs Spiel zu setzen? Welchen Plan sollte ein Feigling schmieden, um das zu retten, was er über alles liebt? Ich befreite euch mit Hilfe eines ehemaligen Laborleiters, Dr. Merten. Er erhoffte sich Sühne, indem er mir half. Ich löschte eure vier Leben mit vier Schüssen in die Luft aus, und er brachte euch zu vier Pflegefamilien, verstreut in ganz Europa. Jeder sollte glauben, dass mein Freund seine Familie erschossen hatte, und mich verdächtigte niemand. Endlich waren meine Feigheit und mein vertanes Leben zu etwas nutze: euch zu schützen. Kurz darauf ist eure Mutter verschwunden. Sie hat sich vermutlich im Wahn von der Bärenmauer gestürzt und sich so das Leben genommen. Aber es ist besser so. Niemand darf sich über Gott erheben und seine Schöpfung anzweifeln. Seit dem Verschwinden der Teufelin ließ mein Freund die Finger von meiner Frau, und ich konnte mein glückliches Leben voller Lüge weiterführen. Meine beiden Kinder, die ich mit meiner eigenen Frau hatte, wollte ich nie wieder von mir fortlassen. Nie wieder. Heute weiß ich, dass das falsch war. Gute Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Schlechte halten sie fest und ersticken sie. Ich begrub die Liebe, die ich zu euch hatte, tief in meinem Herzen. Mit jedem Tag, den der Wahnsinn auch in mir zu toben begann, vergaß ich auch euch ein Stückchen. Bis zu jenem Tag, als ich meine Frau mit Konrad, meinem besten Freund, sah. Was dann geschah, ist nicht entschuldbar, denn etwas Böses begann in mir zu wachsen. Ich bin durch die Hölle gegangen und habe den Krieg auf diese Welt gebracht. Aber am Ende habe ich den Dämon in mir besiegt. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Brief schreibe. Vielleicht bist du eines meiner vier Mädchen. Da ich euch niemals in meinem Leben wiedersehen werde, sollt ihr zumindest so die Wahrheit über eure Herkunft erfahren. Dieses Dorf hier wird sterben so wie ich. Es ist das Ende einer Epoche. Es ist das Ende des Aufstandes der Massen und der Beginn der Macht des Einzelnen über die Welt. Es gibt keinen Unterschied, ob man das Deutsche Reich niederringt oder einen Hirsch jagt. Es ist ein Kampf. Ein Weg. Eine Entscheidung. Ich habe beides nicht geschafft. Aber dafür habe ich den Feind in mir selbst besiegt und mich somit befreit. Das allein macht mich stärker und mächtiger als alles andere. Ich wollte euch vor etwas beschützen, das vielleicht noch gefährlicher sein könnte als das Dritte Reich. Aber vielleicht habe ich mich auch geirrt, und die Gefahr war nur ein Teil meines Wahns. Doch was es auch immer war, es ist besiegt. Lebt euer Leben, jetzt, da ihr die Wahrheit kennt. Euer Vater war ein Feigling und Nichtsnutz. Aber mit diesem Brief will ich euch mein Geheimnis verraten: Bringt die Tannen zu Fall und befreit euch! Geht fischen, tanzt, lacht oder jagt einen Hirsch! Es ist die Entscheidung, die euch stark macht. Die Entscheidung, frei zu sein. Die Sprache dieses Briefes, seine Poesie, sie drang in mich, berührte mich. Ich hatte meine Sprache in den Heilstätten verloren. Hatte ich je eine gehabt? Eine eigene Sprache? Eine Poesie, die durchdrungen war von Wahrheit? Oder hatte ich alle um mich herum immer belogen? So wie er. Der zitternde alte Mann hinter dem Brief. Hatte ich mich selbst belogen? Das Lernen, das Sehen, das Siegen, hatte sich alles tatsächlich so abgespielt? Hinter mir drängelte ein Wagen. Ich konnte nicht schneller fahren. Ich hatte Angst, jetzt, da ich spürte, dass da etwas Neues war, eine neue Ehrlichkeit, die mir zuflüsterte, endlich alles zu erzählen, wie es war. Endlich. Ich wollte mich nicht mehr drängen lassen. Es ist mein Leben. Ich lasse mich nicht mehr von anderen leben. Der Drängler überholte mich. Er fluchte. Ich aber lächelte. Was wusste er schon? Nachdem ich Prag erreicht hatte, tankte ich den Wagen. Zwei Männer, die auf dem Parkplatz neben der Tankstelle Rast gemacht hatten, starrten mich an. Sie warfen mir merkwürdige Blicke zu, als sie mich in dem schmutzigen, ehemals hellblauen Kleid sahen. Ich sah tatsächlich schrecklich aus, also ging ich zu den Toiletten der Raststätte und schlüpfte hinter verschlossener Tür wieder in meine Cordhose und meine hellgelbe Bluse. Außerdem wusch ich mein Gesicht, das ich anschließend in dem zerbrochenen Spiegel über dem kleinen Waschbecken überprüfte, und rieb meine Hände mit stark riechender Seife sauber. Der Schmutz unter meinen Nägeln ließ sich nicht vollständig entfernen. Vermutlich war er schon zu lange dort; er hatte sich eingenistet. Vielleicht bist du eines meiner vier Mädchen. Da ich euch niemals in meinem Leben wiedersehen werde, sollt ihr zumindest so die Wahrheit über eure Herkunft erfahren. Vier Mädchen. Es gab also noch drei. Drei Schwestern. Das Kribbeln berührte meine Arme. Ich knüllte das blaue Kleid zusammen und warf es in den Mülleimer, der neben der nach Urin riechenden Toilette stand. Als ich wieder in den Wagen stieg, waren die Männer verschwunden. So wie mein altes Leben. Es war plötzlich weg. Wie ein Alptraum, der einen mit einem wild schlagenden Herzen aus dem Schlaf reißt. Die lange, einsame Zeit der Erde, wo ich kauernd unter dem wachenden Flügelschlag des Falken nach Buße gerufen hatte, sie war vorbei. Das Schnalzen des Gürtels hinter mir, vorbei. Ich schloss die Augen. Die lange Zeit hinter diesen schrecklichen Mauern der Heilstätte. Vorbei. Zuerst stirbt Gott, dann stirbt der Mensch. Die Warnung, die in der Heilstätte in großen Buchstaben an der Wand des Speisesaals gestanden war, hatte sich in mein Gehirn gebrannt. Hatte ich je davon erzählt? Jetzt schob sich das Gesicht meiner Dienerin in Gedanken vor meines. Carlotta. Geht es dir nicht gut?, fragte sie. Nein, es geht mir nicht gut. Ich atmete tief aus. Legte die Hände auf das Lenkrad. War es so einfach? Meine Dienerin hatte mich in den letzten zwanzig Jahren nie aus den Augen gelassen. Sie hatte in Heyda auf der anderen Seite gestanden, als ich das hellblaue Kleid gekauft hatte. Im Bestattungswald hatte sie bei den Schildern mit den Namen meiner Kinder gestanden, und als ich zurück ins Erdloch meiner Jugend kriechen wollte, hatte sie am Waldrand gestanden und mich mit ihrem Blick daran gehindert. Gekleidet in ihren langen gelben Umhang. War sie überrascht gewesen, als ich das Feuer gelegt hatte? Hatte ich es tatsächlich geschafft, im Rauch, der durch die Nacht gestiegen war, zu entkommen? In einem geliehenen Wagen? War es so einfach, der Hölle der Heilstätte zu entfliehen, in der ich zwanzig Jahre gefangen gewesen war? Die Hölle. So pathetisch. Ich musste andere Worte wählen. Falsche. Unterwürfige. Wertlose. Ich sah in den Rückspiegel. Suchte nach meiner Dienerin. Sie war weg. Ich spürte das Vibrieren der...