E-Book, Deutsch, 246 Seiten
Hofmann / Sauder / Beise Aufklärung
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-534-72532-8
Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg)
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Epoche – Autoren – Werke
E-Book, Deutsch, 246 Seiten
ISBN: 978-3-534-72532-8
Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg)
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Die Aufklärung hat wesentliche Grundlagen modernen Denkens und moderner Mentalität geschaffen. Sie hat gegen unhinterfragte Traditionen und Vorurteile gekämpft und sich vehement für die Mündigkeit des Menschen eingesetzt. Die Literatur hat gerade in Deutschland den Prozess der Aufklärung unterstützt, aber auch kritisch begleitet. Dieser Band gibt Studierenden, Lehrenden und anderen Interessierten zuverlässig Auskunft über die maßgeblichen Autoren und Gattungen der Epoche. Besondere Beachtung finden dabei kulturwissenschaftliche Fragestellungen, die in den letzten Jahren im Mittelpunkt innovativer Forschung standen. Namhafte Spezialisten untersuchen in 14 Originalbeiträgen u.a. Gottsched, Gellert, Sophie von La Roche, Klopstock, Lessing, Wieland, Friedrich von Blanckenburg, Moses Mendelssohn, Georg Forster und Lichtenberg.
Arnd Beise ist assoziierter Professor für Germanistische Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte am Departement für Sprachen & Literaturen der Universität Fribourg.Dr. Sikander Singh ist Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes und Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes.Prof. Dr. Michael Hofmann lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn.
Autoren/Hrsg.
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Christian Fürchtegott Gellert
und die Empfindsamkeit
Sikander Singh 1768, wenige Monate nach dem Tod des Schriftstellers Laurence Sterne, veröffentlichte Johann Heinrich Cramer die deutsche Übertragung des letzten, unvollendet gebliebenen Werkes des Dichters unter dem Titel „Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien“. Im Vorbericht der Ausgabe teilt der Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode eine Passage aus einem Brief von Gotthold Ephraim Lessing mit, die deshalb Beachtung gefunden hat, weil der Dramatiker als deutsche Entsprechung des englischen Begriffs „sentimental“ das Wort „empfindsam“ vorschlägt.1 Die Vokabel ist zwar bereits in den Jahren zuvor nachweisbar, etablierte sich aber erst nach der Publikation der deutschen Ausgabe des englischen Romans.2 Die Geschichte des Neologismus ist nicht allein deshalb interessant, weil in ihr die Genese eines ästhetischen Konzeptes erkennbar ist, das die Debatten der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts wesentlich bestimmt hat. Für die Frage nach dem Einfluss der Werke und Schriften Christian Fürchtegott Gellerts auf die Entwicklung der deutschen Empfindsamkeit ist die Beobachtung bedeutsam, weil sie sichtbar macht, dass der Schriftsteller, der 1769, also ein Jahr nach der Veröffentlichung der „Empfindsamen Reise“, verstarb, zwar nicht als Vertreter dieser literarischen Strömung gelten kann; sich aber in seinem Werk jene philosophischen Diskurse und ästhetischen Paradigmenwechsel abzeichnen, welche die prozesshaften Übergänge und Verwerfungen im Spannungsfeld von mittlerer und später Aufklärung, von literarischem Rokoko, Empfindsamkeit und Sturm und Drang charakterisieren. Dieser Befund zeigt sich bereits in den Urteilen, die der Leipziger über die frühen Werke von Christoph Martin Wieland und Friedrich Gottlieb Klopstock formuliert. So schreibt er über die „Empfindungen eines Christen“3: „Wielands Empfindungen haben, als Poësie betrachtet, große Schönheiten für die Einbildung; aber mein Herz weigert sich, seine Sprache zu reden, wenn es mit Gott redet.“4 Indem Gellert auf die „Schönheiten für die Einbildung“ eingeht und damit einen der zentralen Begriffe der Dichtungslehre des Schweizers Johann Jakob Breitinger aufgreift, erkennt er zwar an, dass Wielands Werk trotz seines religiösen Inhalts einen ästhetischen Eigenwert behauptet, gleichwohl vermag er dies nicht mit seinem eigenen Dichtungsideal zu vereinbaren.5 Die gleiche Dialektik spiegelt sich auch in Gellerts Urteilen über die Dichtungen Klopstocks. In einem Brief an Charlotte Sophie von Bentinck bezeichnet er den Dichter als ein „großes aber schwehrdenkendes Genie“.6 Die nachfolgend skizzierten Leseeindrücke antizipieren zwar die emphatischen Urteile, die Klopstocks Werk in den literarischen Zirkeln der Zeit hervorgerufen hat, stellen aber zugleich die Vorbehalte heraus, die Gellert gegenüber dem Jüngeren hegt. Indem er am Ende seines Schreibens feststellt, dass Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger Klopstock „zu hastig u. ausschweifend gelobt“ haben, während die „andre Partey“ den Dichter „zu seicht u. zu beleidigend getadelt“ hat, betont er seine eigene, vermittelnde Stellung zwischen jenen Positionen, deren Widerstreit den poetologischen Diskurs der Epoche bestimmt hat.7 In „Dichtung und Wahrheit“ schreibt Johann Wolfgang von Goethe über Klopstock und seinen Einfluss auf das Dichtungsverständnis seiner Epoche: „Nun sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen verstünde. Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begründen.“8 Gellert ist einer der Wegbereiter dieser neuen ästhetischen Ideale, die Goethe im Werk Klopstocks erstmals in der Geschichte der deutschen Literatur in produktiver Weise ausgebildet findet.9 Indem er an dem rationalistischen Ordnungsbegriff der Aufklärung festhält, die das literarische Kunstwerk als die „Objektivation eines Regelsystems“ begreift, und bereits dem Subjektiven des Gefühls Ausdruck verleiht und mit diesem „empfindsamen“ Ansatz sowohl produktions- als auch wirkungsästhetische Potentiale des literarischen Schreibens entfaltet, wird der Übergang zweier Epochen in seinem Werk manifest.10 Wie sein akademischer Lehrer Johann Christoph Gottsched beharrt Gellert jedoch auf der Vorstellung, die Literatur müsse auf einer moralischen Überzeugung gründen und diese – im Sinne des Horazischen „aut prodesse volunt aut delectare poetae“ – auf eine ebenso angenehme wie ästhetisch überzeugende Weise vermitteln, denn neben den „Eigenschaften des Verstandes, die ein wahrer Poet besitzen und wohl anwenden muß, soll er auch von rechtswegen ein ehrliches und tugendliebendes Gemüth haben“.11 Die Morallehre: Vernünftige Gefühle
Gellert überführt den rationalistischen Diskurs, der im frühen 18. Jahrhundert entwickelt worden ist, in eine praktische, lebensnahe Morallehre mit religiösen Momenten. In diesem Sinne definiert Christian Garve das philosophische Hauptwerk des Leipzigers, die „Moralischen Vorlesungen“, als ein System, eine „Reihe von Wahrheiten“ beinhaltend, die „zusammenhängen, und davon die vorhergehenden zum Verstande oder zum Beweise der folgenden angewandt werden“.12 Der Popularphilosoph legt den Akzent seiner Betrachtung auf den argumentativen, dem deduktiven System rationalistischer Syllogismen verpflichteten Aufbau der Moralvorlesungen. Zugleich betont Garve den „Endzweck“, dem Gellerts Entwurf dient: die Befreiung von Vorurteilen sowie unrichtigen Anschauungen, welche die geistige und moralische Vervollkommnung des Menschen behindern und der Entwicklung einer auf den Grundsätzen der christlichen Lehre basierenden Gesellschaftsordnung im Wege stehen.13 Aufklärung ist für den Leipziger also ein politisch-sozialer Entwurf, der durch verbindliche Formen des sozialen Verhaltens ideale Zustände auf Erden schaffen will. Indem er die „Religion zum Grunde der Moral“ setzt, die „einzelnen Tugenden sorgfältig erklärt; ihre Bewegungsgründe auf die eindringendste Art“ darstellt und die „Mittel zu ihrer leichtern Ausübung aus der Erfahrung“ schöpft, zeigt sich zudem ein pädagogisches Moment, das seinem Denken eigen ist und das nicht nur die philosophischen Schriften kennzeichnet, sondern auch in den frühen literarischen Werken aufscheint.14 Neben diesen, die philosophischen Morallehren des Frührationalismus fortsetzenden Vorstellungen betont Gellert jedoch die paradigmatische Bedeutung der Empfindung für den Prozess der sittlichen und damit innerweltlichen Vervollkommnung des Menschen. Schon in der den „Moralischen Vorlesungen“ vorangestellten „Vorerinnerung an seine Zuhörer“ erklärt er sein Bestreben, „die vornehmsten Theile der Sittenlehre auf eine lebhaftere Art, nicht bloß durch Beweise der Vernunft, sondern zugleich durch die Aussprüche des Herzens und die Stimmen der innerlichen Empfindung und des Gewissens, durch Beyspiele und Gemälde“ zu erläutern.15 Dass Reflexion und Emotion wechselweise aufeinander bezogen sind, ist deshalb für Garve der wesentliche Neuansatz, den Gellert mit seinen Vorlesungen über die Moral aus der englischen und schottischen Moralphilosophie übernommen und in den deutschen Diskurs überführt hat.16 Das philosophische System des Leipziger Aufklärers erweist sich somit als Werk einer Phase des Rationalismus, die in dem Versuch, die Zusammenhänge der Welt verstehbar zu machen, in jenen Grenzbereich seiner Möglichkeiten gelangt ist, den die Zeitgenossen nur durch einen Perspektivenwechsel von der sinnlichen Erfahrbarkeit zu der erfahrbaren Sinnlichkeit der Erscheinungen überschreiten zu können glaubten.17 Grundlage der in der Folge a priori gesetzten Annahme dieser bereits empfindsamen Anschauung ist die eines dem Menschen innewohnenden, natürlichen sittlichen Empfindens, das jedoch im individuellen Entwicklungsprozess durch die Bildung der regulierenden Verstandeskräfte erst zur Entfaltung gebracht zu werden bedarf. Im Spannungsverhältnis dieses Synthesegedankens von Vernunft und Gefühl, Sinn und Sinnlichkeit ist auch die begriffliche Definition der Moral zu verstehen, die Gellert an den Anfang der ersten „Moralischen Vorlesung“ stellt: Die Moral, oder die Kenntniß von der Pflicht des Menschen, soll unsern Verstand zur Weisheit und unser Herz zur Tugend bilden, und durch beides uns zum Glücke leiten. Niemand wird ein Glück suchen, das er nicht kennet, noch die Mittel dazu anwenden können, wenn er sie eben so wenig kennet, oder nicht überzeugt ist, daß sie die besten und einzigen sind. Die Moral soll uns also lehren, was unser wahres Glück, oder unser...