Buch, Deutsch, 224 Seiten, gebunden, Format (B × H): 128 mm x 208 mm, Gewicht: 316 g
Was wir alle brauchen
Buch, Deutsch, 224 Seiten, gebunden, Format (B × H): 128 mm x 208 mm, Gewicht: 316 g
ISBN: 978-3-0369-5066-2
Verlag: Kein + Aber
Das Leben mit seinen unzähligen kleinen und großen Verlusten, die Weltlage mit ihren Krisen und Katastrophen. Es gibt heute viele Ereignisse, die Menschen untröstlich zurücklassen. Was aber, fragt Madeleine Hofmann, bedeutet Trost überhaupt? Die Autorin – gerade Anfang dreißig, als sie mit einer Krebsdiagnose konfrontiert wurde – möchte ihren persönlichen Trost-Weg teilen, indem sie von ihren eigenen Erfahrungen und von Begegnungen mit Menschen erzählt, die auf verschiedene Weise sich und andere trösten – enge Vertraute, medizinische Fachkräfte, aber auch Kreative. Das Buch hat eine unverkrampfte Herangehensweise an das Trösten, die alles Pastorale beiseitelässt. Mühelos bringt Madeleine Hofmann Hochkultur und Popkultur zusammen und zeigt anhand verschiedener Themen – Essen, Humor, Kunst, Natur, Philosophie, Sprache –, wie individuell und existenziell Trost ist: Jeder Mensch sucht und findet ihn auf seine eigene Weise.
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PROLOG
Vielleicht war ich verrückt geworden. Der Anblick des radikal gestutzten Pflänzchens in diesem mir so vertrauten cremefarbenen Übertopf, den mein Mann da in Händen hielt, löste jedenfalls Panik in mir aus. Ich wollte das Gefäß an mich reißen, die Überbleibsel an mich drücken, ihnen gut zureden, sie beruhigend streicheln. Zum Glück starrte ich stattdessen lediglich voller Entsetzen auf die Reste meiner Lieblingspflanze. »Du hast sie umgebracht«, sagte ich trocken und konnte den Blick nicht abwenden von diesem traurigen Mix aus Braun und Dürre.
Die Orchidee stand seit sieben Jahren am immer selben Platz. Auf unserem Fensterbrett im Wohnzimmer, links außen, neben dem alten grünen Scheibentelefon, mit Blick über die Dächer Berlins, der Abendsonne zugeneigt. Meine Schwester hatte sie uns zum Einzug geschenkt. Seitdem war sie unser Blütenwunder, hatte regelmäßig so viele Knospen und Triebe und dann wunderschöne weiße Blüten mit pinken Sprenkeln, dass wir uns erstaunt fragten, wo in aller Welt sie diese Energie hernahm. Immer wieder von vorne anfangen, immer wieder die Kraft aufbringen, alle zu überstrahlen. Ein wahres Zimmerpflanzenmysterium.
Seit einigen Monaten jedoch stimmte etwas nicht mit unserer Mitbewohnerin. Nachdem die letzten Blüten abgefallen waren, folgten zum ersten Mal in der Zeit unseres Zusammenlebens keine neuen Knospen. Die Triebe vertrockneten, wir fürchteten um ihr Leben. Genau zur selben Zeit, zu der mein eigenes Leben auf der Kippe stand. Seit meiner Krebsdiagnose ging es nun also auch mit der Orchidee bergab. Kein Wunder, dass ich mich ihr verbunden fühlte wie nie zuvor, überzeugt, ihr Schicksal wäre meines und umgekehrt. Ich hatte das Gefühl, sie sei das einzige Lebewesen in meinem Umfeld, das echte, uneingeschränkte Solidarität mit mir und meinem miserablen Zustand zeigt. Dass mein Mann sie jetzt möglicherweise mit ein paar übermütigen Scherenschnitten dem Tod geweiht hatte, stimmte mich nicht gerade hoffnungsfroh.
»Das ist eine Radikalkur«, versuchte er sich zu verteidigen. »Genau wie du mit der Chemo braucht die Orchidee eine Art Zellerneuerung, damit sie wieder in voller Pracht erstrahlen kann.« Er küsste mich auf die Stirn und stellte den Topf mit Bestimmtheit zurück an seinen Platz, wo die Orchideenstummel auch den Ausblick auf den grauen, trüb dreinblickenden Klotz von Krankenhaus genossen, in dem ich meine »Erneuerung« wöchentlich verabreicht bekam. Die Chemotherapie gegen den Brustkrebs in solche Wohlfühl-Vokabeln zu verpacken, brachte mich erstaunlicherweise nicht direkt zum Explodieren, wie es andere deplatzierte Vergleiche und Sprüche über meine Erkrankung taten – und es waren viele; Menschen sind sehr gut darin, unpassende Kommentare abzugeben. Den Vergleich meines Zustands mit dem der Pflanze nahm ich an, mehr noch: Ich wurde besessen von der Observierung meines botanischen Alter Ego.
Zu beobachten, ob und wie sich die Orchidee veränderte, ob es aufwärts mit ihr ging oder nicht; traurig darüber zu sein, dass sie es vielleicht nicht schaffen würde, hoffnungsvoll, dass sie bald wieder, wenn nicht eine Blüte, so zumindest einen kleinen grünen Trieb bekommen würde, machte etwas mit mir, das ich erst rückblickend verstehen konnte: Ich projizierte alle Entwicklungsmöglichkeiten der Orchidee auf mich. Ich akzeptierte. Ich hoffte. Die Seelenverwandtschaft mit der Orchidee gab mir etwas Überlebenswichtiges, was mir zuvor wohl niemand und nichts anderes zu spenden vermochte. Die seltsame Solidarität von und mit meiner halb verdorrten Zimmerpflanze gab mir: Trost.
EINLEITUNG
»Trost«. So steht es da also auf einem meiner Notizzettel. Ich weiß weder, wann ich das Wort aufgeschrieben hatte, noch warum es mir zu diesem Zeitpunkt wichtig war, es festzuhalten. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, diesen Begriff häufig benutzt zu haben oder überhaupt jemals. Ganz offensichtlich hatte er mich nun beschäftigt. Denn es war möglicherweise die Antwort auf die Frage, was ich emotional in den Monaten, bevor mir der Zettel in die Hände fiel, zutiefst vermisst, verzweifelt gesucht und schließlich auch gefunden hatte. Fürs Erste.
Ich war gerade 31 Jahre alt, dabei, mein erstes Buch zu bewerben, mich an meinen Ehering zu gewöhnen, im Begriff, endlich diese eine lang ersehnte Südamerika-Reise zu planen, genau wie die weitere Entwicklung unserer bis dahin aus einem Paar bestehenden Familie. Doch während Freund:innen, Kolleg:innen, Verwandte in meinem Alter Familienkutschen kauften, befördert und liquide wurden, ihr erstes Eigenheim oder das Wohnmobil in Neuseeland bezogen, wohnte bei mir ein unbequemer Gast, dessen Beherbergung garantiert keinen Platz auf meiner Bucketlist fand: ein Tumor in der linken Brust, Position 1 Uhr, bösartig.
Mit einem Laborbefund war ich plötzlich nicht mehr die junge Frau in den aufregendsten Jahren ihres Lebens, mit besten Karriereaussichten, Wochenenden voller Spaß und Leichtigkeit, so vielen Freiheiten wie bisher keine Frau meiner Vorfahrinnengenerationen. Ab jetzt war ich gefangen in einem Strudel aus Arztbesuchen, invasiven Behandlungsmethoden, Entscheidungen zwischen großen und größeren Übeln. Und Angst. Sehr viel Angst.
Ich verfügte damals über das, was man ein gutes soziales Netz nennt. Nicht einmal ein Jahr zuvor hatten fast hundert Freund:innen und Verwandte mit uns die Eheschließung zwischen mir und meinem Partner gefeiert. Die Nachricht meiner Diagnose war ein nachträglicher Partycrasher. Der Spaß war vorbei, und manch ein Gast verflüchtigte sich so rasant wie noch im Vorjahr der Schlehen-Likör vom Schnapstablett.
Das Happily Ever After hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Manche konnten nicht mit dem umgehen, was mir gerade passierte. Mir als einer, die ihnen nahesteht, an der sie nicht im Wartezimmer gesenkten Blickes vorbeischleichen oder so tun konnten, als hätten sie gar nicht mitbekommen, was sich in meinem Leben ereignet. Mir, die ich ihnen mit meinem Schicksal vor Augen führte, dass es genauso gut sie selbst erwischen könnte. Immer deutlicher dezimierte sich die Gruppe an Menschen, die mir Kraft gaben, die ihre eigene Kraft teilten, so gut es für sie eben ging. Diese illustre Gruppe von wunderbaren Menschen veränderte sich stetig: Mal kam überraschend jemand dazu, mal ließ sich ein anderer eine Weile nicht blicken. Eine Person aber ist immer dabeigeblieben: ich selbst.
Als ich jene Notiz wiederfand, erinnerte sie mich daran, wie verletzt ich durch manche der (Nicht-)Reaktionen aus meinem Umfeld war, wie wütend, wie enttäuscht. Ich erinnerte mich, wie mich die teils seltsamen oder gar ärgerlichen Begegnungen beschäftigt hatten, aber auch wie verzweifelt viele mir Nahestehende waren, von ihrer Traurigkeit und Wut so überwältigt, dass sie selbst brauchten, was sie mir gerne gegeben hätten. Ich erinnerte mich daran, wie herzerwärmend manche Nachrichten und Gesten gewesen sind, manche Worte und Berührungen. Und daran, wie mir klar geworden war, dass ich bisher selbst nicht gewusst hatte, wie ich bei schlimmen Schicksalsschlägen in meinem Umfeld reagieren sollte. Mit Entsetzen erinnerte ich mich an Situationen, an Nachrichten, in denen ich als Freundin, Familienmitglied, Kollegin nach meinen eigenen neuen Maßstäben ganz klar versagt hatte. Ich suchte Gespräche mit Menschen darüber, was ihnen damals, nach ihrem traumatischen Erlebnis gutgetan hat, was sie sich von ihrem Umfeld gewünscht hätten.
Ich fragte mich, was es mit dieser Fähigkeit, diesem Gefühl, diesem Zustand, dieser Geste auf sich hat, die vielen von uns fehlt. Was wir von anderen verlangen, zutiefst bedürfen, aber selbst nicht richtig zu geben wissen: Trost.
Bei Trost denken viele zuerst an Kinder mit Pflastern auf den Knien. Oder an Tod. Tragödien, zwischen denen Welten an Leid liegen, und doch wird über dieses Universum an Schicksalen in Zusammenhang mit Trost nicht gesprochen.
Ich war nicht zwangsläufig dem Tod geweiht, und niemand, der mir nahestand, war gerade gestorben. Durfte ich folglich nicht trostbedürftig sein? Und überhaupt: Warum spricht keiner über Trost – außer der Seelsorgerin, die einen Sterbenden begleitet? Oder der Mutter, die ihrem weinenden Kind übers Haar streicht? Gerade in einer Weltlage, die viele Menschen untröstlich zurücklässt: durch Einsamkeit, Pandemien, den Verlust der Heimat, durch Kriege, Populismus, Rassismus, durch Klimakatastrophen. Was also, frage ich mich, bedeutet Trost? Wann braucht man ihn, wie kann er aussehen, und wie können wir Trost spenden – anderen, aber auch uns selbst?
Heute weiß ich, dass Trost eine zutiefst individuelle Angelegenheit ist. Trost ist etwas, was jeder Mensch sucht, was zu finden von unschätzbarem Wert ist, und was in angebrachter Weise zu spenden eine hohe Kunst zu sein scheint. Manch ein Wort, manch eine Geste mag in der einen Situation furchtbar unangebracht, in der anderen besonders wohltuend sein. Deshalb will ich vor allem die Erfahrungen verschiedener Menschen in verschiedenen trostbedürftigen Situationen sprechen lassen, statt vermeintlich universelle Ratschläge zu erteilen. Dies ist kein Buch ausschließlich über Krebs, es ist ein Buch über meine persönlichen Erfahrungen und Begegnungen, ein Buch über Menschen und übers Menschsein. Eine Reise entlang der vielgestaltigen Trost-Inseln, die das Leben zu bieten hat. Seid herzlich eingeladen, mich zu begleiten.