E-Book, Deutsch, 431 Seiten, GB
Reihe: Oktaven
Hofstede Verlangen
Novität
ISBN: 978-3-7725-4419-4
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 431 Seiten, GB
Reihe: Oktaven
ISBN: 978-3-7725-4419-4
Verlag: Freies Geistesleben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fest steht: Eine junge Frau heiratet ihre Jugendliebe. Fest steht: Kurz darauf läuft sie ihrem Mann bei Nacht und Nebel davon. Sie nimmt alle ihre Tagebücher mit. Diese Frau bin ich. Diese Nacht ist jetzt. Alles, was davor und danach kommt, ist erfunden.
‹Verlangen› ist die freimütige Geschichte einer jungen Frau, die von zu Hause flieht, weil sie jahrelang vor sich selbst geflohen ist. Sie handelt davon, wie überwältigend die erste Liebe ist – bis sie einen einengt. Und davon, ob es in jeder Liebesgeschichte letztlich um Betrug geht.
Weitere Infos & Material
PROLOG I. ES WAR EINMAL II. DIE ANDEREN III. UNTERWELT
Es war einmal eine Winternacht. Es war einmal eine Frau, die aus ihrem Haus taumelte, unter einem viel zu schweren Rucksack gebückt ging. Diese Frau bin ich. Diese Nacht ist jetzt. Ich hätte alles Mögliche mitnehmen können, aber das Erste, was ich in den grauen Rucksack stopfte, war mein Tagebuch. Danach das Heft, das diesen Zweck im Jahr zuvor erfüllt hatte. Und dann das vom Jahr davor. Mit jedem Buch, das in meiner Tasche verschwand, zeigte sich, welchen Teil von mir ich aus diesem Haus mitnehmen wollte: nicht nur die letzten Monate, sondern auch das ganze letzte Jahr und letztlich alle Jahre, die wir zusammen verbracht haben. Ich stapelte eines aufs andere, bis der Rucksack voll war. In die Verschlussklappe schob ich Zahnbürste, Handy, EC-Karte und verschwand. Das Brunnenbecken der Brüsseler Vismet ist leergepumpt, bedeckt von einem glitschigen Bretterboden, auf dem vor Kurzem noch der Weihnachtsmarkt stand. Mitten auf dem Fischmarkt befindet sich ein Sockel mit einem großen Zahnrad, ein Überbleibsel aus der Zeit, als hier ein Hafen lag. Neben dem Sockel stelle ich meinen Rucksack ab und setze mich auf den Rand, in den Widerschein der Restaurants. So zerbrechlich wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt. Meine Ellbogen und Knie zittern. Dem gestreckten Bein ist nicht zu trauen, und der Arm fühlt sich an, als könnte er jeden Moment einknicken. All die Seiten, all die ernsthaften Notizen, mit denen ich die Liebe verankern wollte, welche ich gerade gelichtet habe. Ein Anker ohne Schiff ist Kitsch, überflüssiger Ballast, dessen Unverrückbarkeit plötzlich nur noch unpraktisch ist. Ich stelle mir vor, wie ich aufstehe, meinen Rucksack hierlasse und einfach gehe. Ich könnte einen halben Krebs essen und von meinem Tisch aus zusehen, wie Obdachlose nach meinem Rucksack greifen und die Episoden aus unserem Leben hervorholen, während ich im Innern des Lokals das warme Fleisch aus dem Panzer herauslöse. Aber ich bleibe sitzen. Erst als ich völlig durchgefroren bin, suche ich mir ein Hotel, den Rucksack auf dem Rücken. Deinetwegen war ich schon mal in einer Winternacht unterwegs. Zehn Jahre ist das jetzt her. Wir waren siebzehn. Ich war ein Nerd aus dem neunzehnten Jahrhundert, der seinen Schokoladenbuchstaben, den er zu Nikolaus bekommen hat, bis Ostern aufhebt, um ihn dann weiß verfärbt über den Seiten von Middlemarch aufzuknabbern. Du warst damals ein schöner junger Mann, den ich kaum kannte, obwohl ich dich gern beobachtete. Wie eine Comicfigur nahmst du eine schräge Pose nach der anderen ein. Das Einzige, worüber du nie Witze machtest, war dein «Pa», der dir eines Tages in der Mittagspause deine vergessenen Sportklamotten brachte. Wir saßen alle beim Essen am Tisch und sahen zu, wie er sein goldfarbenes Auto vor der Schule abstellte, du eiltest ihm entgegen. Vater und Sohn trafen sich auf dem Weg, der an der Fensterfront der Schulkantine vorbei zum Eingang führte. Er erklärte dir gestenreich irgendwas, während du ausnahmsweise völlig reglos dastandst. Du nahmst die Sporttasche in Empfang, ließt dich seelenruhig umarmen und drehtest dich vor dem Eingang noch einmal um, um ihm zu winken. In den darauf folgenden Monaten saßen wir in der Pause immer öfter an einem der Kantinentische nebeneinander – ein jeder flankiert von seinem festen Freundeskreis, der als Alibi diente: Du rücktest an den Rand von deinem, und ich näherte mich dir gedeckt von meinem, bis meine Brotdose in fast jeder Pause neben deiner Pommesschale stand. Während der Unterhaltungen lauschten wir einander mit einer Gier, die ich erst später als Liebe erkannte. Erzähl mir von dir. Erzähl mir, wie du als Kind so warst. Warst du aufbrausend? Ungezogen? Wofür darf ich dich jederzeit wecken, wie hießen deine ersten Freunde, welche Musik hörst du gern, bist du unausstehlich, wenn du krank bist? Irgendwann im Dezember, als wir in der Kantine saßen und du gerade dabei warst, mit der Spitze deines Zirkels den Anfangsbuchstaben deines Namens in den Tisch zu ritzen – ich war schon an dem Punkt angelangt, an dem ich deinen Namen überall vermutete –, sagtest du: «Schokolade. Für Schokolade darfst du mich jederzeit wecken. Sogar um drei Uhr nachts.» Du strotztest nur so vor Selbstbewusstsein. Du trugst Glitzerohrringe und trotz deiner schmächtigen, fast mageren Figur eine weite Hose und eine riesige schwarze Jacke mit Fellkragen. Dieses Outfit brachte dir den Spott des bebrillten Teils unserer Gymnasialklasse ein, aber du konntest dir das leisten, wegen deiner nicht abreißenden Schar von Freundinnen – lauter frühreife Mädchen aus unteren Klassen. Seit Neuestem fuhrst du mit Tania auf deiner Enduro herum, ein ziemlich angsteinflößendes Mädchen, dessen Neontanga greller leuchtete als dein Rücklicht. An diesem Mittag sagte ich kein Wort. Aber beim Schlafengehen stellte ich meinen Wecker auf halb drei und schob ihn unters Kissen. Meine Kleidung hatte ich bereits rausgelegt: meine einzige schwarze Unterwäsche, darüber eine graue Wollhose und eine dünne Karojacke, die ich secondhand in Antwerpen erstanden und deren orangenes Futter ich mit groben Stichen neu befestigt hatte. In ihrer Innentasche steckte das aus der Handtasche meiner Mutter entwendete Handy, weil ich noch kein eigenes besaß. Derart ausgestattet erklomm ich mit dem Rad den Hügel. Die Straßen lagen völlig verlassen da und glänzten. Deine Telefonnummer konnte ich auswendig. Um punkt drei tippte ich sie ein, im Schutz der Bäume, auf die eure Wohnung hinausging. Noch immer ist sie neben meiner die einzige, die ich auswendig kann. Du gingst dran. Als ich sagte, dass ich bei dir vor der Tür stehe, schwiegst du zunächst mehrere Sekunden. Bestimmt fandst du mich gestört – wenn nicht in diesem Moment, dann am nächsten Tag in der Schule. Als du rauskamst, warst du verschlafener, als ich dich je erlebt hatte – auch wenn du später, wenn wir gemeinsam unseren Gründungsmythos erzählten, stets behauptet hast, das Ganze bewusst geplant zu haben. «Ich weiß noch, wie ich dachte, soll ich mein Handy ausstellen? Na ja, dachte ich, na ja, diese Bregje …» Damals sagtest du «Hi» und fuhrst dir mehrmals durchs Haar, das dir nach allen Seiten vom Kopf abstand. «Ich hab Schokolade dabei», sagte ich, woraufhin ich mit meinem Latein am Ende war. Du hattest geblufft und behauptet, dass du mich reinlassen, einen Film einlegen und Popcorn machen würdest, aber das Schweigen hielt an, bis du sagtest: «Sollen wir eine Runde um den Block drehen?» Wir liefen durch das nächtliche Viertel. Auf dem Spielplatz vor deiner Grundschule setzten wir uns auf eine Bank, und da holte ich die Schokolade hervor: dunkle Pralinen mit spanischem Pfeffer, die mein Vater von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte. Sie hatten die Form von Brustwarzen, und auf der Schachtel, die zwischen uns lag, stand in geschwungenen Buchstaben: Nipples of Venus. Das sollte eigentlich genügen. Doch als hätten wir Angst vor etwas so Erwachsenem, redeten wir noch fast eine Stunde über die frühesten Jahre, an die wir uns erinnern konnten: du über deine Grundschulzeit und ich über meine. Dass du damals wegen der Reste vom Vortag aufgezogen wurdest, die dir dein Vater für die Pause mitgab, und dass ich von den Jungs verboten bekam, beim Fußball mitzuspielen. Dass wir uns beide als Außenseiter gefühlt hatten. Gemeinsam waren wir zwei Hälften einer Form, die schon seit langem darauf wartete, gefüllt zu werden. Wir liefen noch eine Weile durch die ausgestorbenen Straßen. Irgendwann sagte ich, ich geh dann mal wieder, und du fragtest, ob ich nicht kalte Hände hätte. Wir standen einander im Schein einer Straßenlaterne gegenüber, und du nahmst meine Hand. Ich hatte Angst, du könntest an meinen Fingern merken, wie weich meine Knie waren, denn das waren sie. Ich bebte, es war Ende Dezember, und ich war schon seit anderthalb Stunden in meiner viel zu dünnen Jacke unterwegs. Ich dachte: Ich kenne das aus Liedern. Weiche Knie. Deine Hand war wärmer als meine. Mit einem kleinen Ruck zogst du mich an dich, sodass ich auf die Zehenspitzen ging und nach vorn kippte. Die einzige Erfahrung, die ich bisher mit einer fremden Zunge hatte, war das eine Mal, als meine Mutter Kalbszunge gebraten hatte. Die rauen Papillen, die wie eine zähe, reglose Kopie auf meinen lagen, waren mit ein Grund, warum ich es in Sachen Jungs noch nicht besonders eilig hatte. Aber in dieser Nacht schnappte ich dermaßen begierig nach deinem pfeffrigen Mund, dass du lachtest und sagtest: «Immer mit der Ruhe.» Ich holte tief Luft, und mein Rückgrat knackte, sortierte sich neu wie Holz bei plötzlicher Hitze. So ist das also!, dachte ich. Jetzt geht es los. Inzwischen bin ich sechsundzwanzig und habe immer noch keinen anderen Mann geküsst. Meine Zunge kennt deine spitzen Zähne, die einen schiefen...