E-Book, Deutsch, 528 Seiten
Holden Teatime mit Lilibet
20001. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8437-2421-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2421-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wendy Holden hat als Journalistin für The Sunday Times, Tatler und The Mail on Sunday gearbeitet, bevor sie sich dem Schreiben von Büchern zugewendet hat. Sie hat dreizehn Romane geschrieben, von denen jeder ein Bestseller in Großbritannien war. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Derbyshire.
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Erstes Kapitel
Das Klassenzimmer war düster. Alles war braun, von den Pulten mit ihren Deckeln und Tintenfässern bis zu den Holzformen und Dielenbrettern. Braun war die schwere Bakelituhr und braun der Bilderrahmen um einen glupschäugigen König George V und eine versteinerte Königin Mary. Ein brauner Lederriemen lag in der knochigen Hand des Schulmeisters. Er sah abgewetzt aus, als wäre er oft im Gebrauch.
Sein Anblick ließ Marion zusammenzucken. Körperliche Züchtigung hatte ihrer Ansicht nach in modernen Klassenzimmern nichts verloren. Genauso wenig wie Dr. Stone, der hagere, schwarz gewandete Schulmeister, in dessen Unterrichtsstunde sie saß.
»Ich hatte mit jemand viel Älterem gerechnet«, hatte er bei der Begrüßung gebrummt. »Und .«
Marion fand keine Erklärung dafür, warum Miss Golspie, die Leiterin des Lehrerkollegs, sie losgeschickt hatte, um sich eine solche Einrichtung anzusehen. Glenlorne war Edinburghs teuerste weiterführende Privatschule. Sie war für die Söhne der reichen Bürger der Stadt gedacht, die anschließend eine der gefragten Internatsschulen besuchen würden. Und Miss Golspie wusste sehr wohl, dass nichts dergleichen Marion ansprach. Ihr Interesse galt dem anderen Ende des sozialen Gefälles.
Dass Dr. Stone ständig auf ihr Haar starrte und alle seine Bemerkungen an dieses richtete, als wollte er sich darüber lustig machen, war auch nicht hilfreich. Die neue Kurzhaarfrisur sollte ein modisches Statement sein und schickes Aussehen mit emanzipierter Haltung verbinden.
»Nehmen Sie hinten Platz«, wies Dr. Stone ihre Haare an.
Marion sammelte ihre Kräfte. Sie hatte genug davon. Wenigstens sie Haare, wenn sie auch kurz waren. An seinem schaurigen gelben Schädel hingegen klebten nur ein paar fettige Strähnen. »Wenn Sie nichts dagegen haben«, informierte sie ihn knapp, »ziehe ich es vor, dem Unterricht von vorn zu folgen.«
Auf der Suche nach einem freien Stuhl entdeckte sie einen in der dunklen Ecke, die Sitzfläche der Wand zugekehrt. Durch die Holzstreben der Rückenlehne sah sie einen weißen Spitzhut. War das möglich? In heutiger Zeit?
»Wollen Sie damit sagen, Sie möchten auf dem Stuhl für die Platz nehmen?« Der Ton des Schulmeisters war voller Belustigung.
Marion ging nicht darauf ein. Sie griff mit den Fingerspitzen nach der demütigenden Kopfbedeckung und ließ sie zu Boden fallen. Dann nahm sie den Stuhl, setzte sich gelassen hin und wandte sich mit einem Lächeln der Klasse zu. Zwei Reihen Jungs schauten sie mit großen Augen an.
Mit einem scharfen Knall schlug Dr. Stone den Riemen in seine Handfläche. Die Jungs auf ihren Stühlen zuckten zusammen. »Das«, sagte er mit offensichtlichem Widerwillen, »ist Miss Crawley.«
»Guten Morgen, Miss Crawley«, sagten die Jungs im Chor.
»Craw«, korrigierte sie geduldig. Sie war davon ausgegangen, dass sie diese kleinen schottischen Lord Fauntleroys verachten würde. Stattdessen taten sie ihr leid. Sie sahen so unbedarft aus in ihren kleinen grauen Blazern und hatten etwas Besseres verdient als diesen alten Sadisten.
Noch ein Riemenschlag in die Handfläche. Wieder zuckten alle zusammen. »Miss Crawley macht eine Ausbildung zur Lehrerin und wird als Teil ihres Unterrichts unsere Geografie-Stunde beobachten. Die Worte »Lehrerin« und »Unterricht« betonte er verächtlich.
Die Jungs richteten neugierige Blicke unter ihren verzierten Kappen auf sie. Marion lächelte zurück. vermittelte das Lächeln
Dr. Stone, der seinen Riemen abgelegt hatte, schrieb etwas an die Tafel. Die Kreide quietschte bei jeder Bewegung seiner knochigen gelben Hand. verkündete das unordentliche Gekritzel. Nun wurde vom Pult unter der Tafel ein langer, dünner Stock hervorgeholt. Das kollektive Einatmen verriet, dass auch dieser schmerzhafte Strafen ausgeteilt hatte.
Der Stock rappelte übers Glas, unter dem die große Weltkarte zu sehen war. »Könnt ihr«, knurrte Stone, »eine Farbe erkennen, die überall auftaucht?«
Mehrere Hände schossen in die Höhe. »Rosa, Sir?«
Hinter der stahlgerahmten Brille war ein triumphierendes Funkeln zu erkennen. »Ganz genau! Rosa ist die Farbe des British Empire! Es gibt keinen Kontinent auf Erden, auf dem unsere großartige und ruhmreiche Nation nicht über Territorien verfügt!«
Marion rutschte auf ihrem Stuhl herum. Altmodischer Chauvinismus dieser Sorte bereitete ihr Unwohlsein.
»Und so ist man, selbst wenn man sich befindet« – der Stock landete auf der Westseite Afrikas –, »ein britischer Untertan.«
»Dann sind sie dort also genauso wie wir, Sir?«, erdreistete sich ein kleiner Junge. Er wich zurück, als sein Meister ihn wütend angriff.
»Sie sind nicht wie wir! Sie sind !«
»Aber worin liegt der Unterschied, Sir?«
»Sie«, knurrte Dr. Stone, »sind .«
Als sie wieder zurück im Moray House Teacher Training College war, eilte sie empört und aufgewühlt mit klappernden Absätzen über die nach Bienenwachs duftenden Korridore zur Rektorin.
»Treten Sie ein.«
Miss Golspies Büro war hell und modern, an den mit heller Eiche verkleideten Wänden reihten sich vollgestopfte Bücherregale. Farbakzente setzten Teppiche, Bilder und Vasen. Die Rektorin, die in einem abstrakt gemusterten Kleid genauso zeitgemäß wie ihre Umgebung war, blickte von ihrem Schreibtisch auf. Überraschung stand ihr ins schöne, intelligente Gesicht geschrieben, das von einem exakt geschnittenen grauen Bob gerahmt war. »Meine liebe Marion. Sie sehen blass aus.« Sie hob eine bunt gemusterte Tasse hoch. »Tee?«
»Ja bitte.«
Miss Golspie schenkte eine zweite Tasse aus der Clarice-Cliff-Teekanne, reichte sie ihr und zeigte dann auf das große orangerote Sofa im Erkerfenster. »Nehmen Sie Platz, und erzählen Sie mir alles.«
Marion setzte sich und berichtete. Erschüttert hatte sie alles, am meisten jedoch die Bemerkung . »Es ist so , derart über Menschen zu sprechen«, schäumte sie. »Wir sind alle gleich – oder sollten es sein. Wie viele andere Lehrer erzählen Kindern derart altmodische, vorurteilsbehaftete Dinge?«
»Nicht wenige, würde ich sagen«, antwortete Miss Golspie trocken. »Jedenfalls an solchen Schulen.«
Marions große Augen loderten. »Niemals würde ich an einem solchen Ort unterrichten!«
Die Rektorin stellte ihre Tasse zurück auf den Unterteller. »Sie können gewisse Gesinnungen nicht einfach ignorieren, weil sie Ihnen nicht gefallen. Ansonsten würden diese Gesinnungen siegen. Wenn Sie etwas verändern wollen, müssen Sie dagegen angehen und die Richtigen verteidigen.«
»Bei Ihnen hört sich das nach Krieg an«, murmelte Marion.
»Was ist der Kampf gegen Ignoranz auch anderes?«
Im darauf folgenden Schweigen trank Marion ihren Tee. Er hatte ein ungewöhnliches, rauchiges Aroma. »Lapsang Souchong«, sagte die Rektorin mit einem Lächeln, als würde sie ihr die Frage ansehen. »Als ich in China unterrichtete, habe ich Geschmack daran gefunden.«
Miss Golspies früheres Leben war eindeutig abenteuerlich gewesen und hatte abgefärbt auf ihren exotischen Geschmack und ihre engagierte Persönlichkeit. Marion kannte niemanden, der so interessiert und interessant war wie sie, immer voller Energie und Ideen, eine ständige Inspiration für ihre Studenten. Sie dürfte in etwa genauso alt sein wie Dr. Stone, aber damit hörten die Übereinstimmungen auch schon auf. Die Vorstellung, dass sie sich auf demselben Planeten befanden, war schon erstaunlich genug, geschweige denn in derselben Stadt und im selben Beruf.
»Warum haben Sie mich nach Glenlore geschickt?« Inzwischen hatte sie sich so weit beruhigt, diese Frage stellen zu können. »Es ist kaum ein Ort nach meinem Geschmack.«
Die Rektorin betrachtete sie über den Rand ihrer Teetasse hinweg mit wachen dunklen Augen. »Sie geben den Slums den Vorzug.«
Marion warf ihr einen kurzen Blick zu. Miss Golspie hatte sie immer darin unterstützt, dort zu unterrichten. »Ja«, sagte sie entschlossen. »Jemand muss es tun.«
Drei Jahre nach dem Börsensturz an der Wallstreet und den sich daran anschließenden ökonomischen Nöten hielt sich noch immer der Glaube, dass die Armen ihre Lebensumstände größtenteils selbst verschuldet hatten. Aber selbst wenn das stimmen würde, was Marion bezweifelte, war es gewiss nicht die Schuld der Kinder. Erst hatte rein professionelle Neugierde sie einen Blick in die stinkenden Gassen am Grassmarket werfen lassen, eins von Edinburghs besonders berüchtigten Elendsquartieren, aber...