E-Book, Deutsch, 350 Seiten
Holland Moritz Drei Sommer lang Paris
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8412-3683-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 350 Seiten
ISBN: 978-3-8412-3683-8
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Es war wohl ein gutes Alter, um nach Paris zu kommen. Es war wohl der richtige Fleck auf Erden, um mit dem Leben zu beginnen.'
Ulrike hält nichts mehr im Land der vorgeschriebenen Lebenswege. Es ist der Jahrhundertsommer 1989, als die 21-Jährige umgeben von Rentnern im Zug von Leipzig Richtung Paris sitzt. Ohne ein Wort Französisch zu sprechen, aber von immenser Neugier getrieben, entdeckt sie die Stadt und damit eine neue Welt als Einwanderin unter Einwanderern.
Patricia Holland Moritz erzählt vom Mut einer Generation in den letzten Monaten der DDR und wirft einen völlig neuartigen Blick auf eine Stadt, die als zerschrieben gilt; einen Blick, geprägt von dem, was wir heute Geschichte nennen und was sich damals lediglich wie eine Fügung anfühlte.
Patricia Holland Moritz wurde in Karl-Marx-Stadt - dem heutigen Chemnitz - geboren. Sie arbeitete in Leipzig als Buchhändlerin, verließ dann die DDR und heuerte in Paris als Speditionskauffrau an. Nach einigen Semestern Nordamerikanistik wurde sie Bookerin für verschiedene Bands und dann Schriftstellerin. Neben dem Schreiben arbeitet sie für die SPD in Berlin-Lichtenberg und ebenda in der Obdachlosenhilfe. Bei Aufbau veröffentlichte sie 2021 den Roman 'Kaßbergen'.
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1
Im Zugabteil der Deutschen Reichsbahn saßen außer mir nur alte Menschen. Drei oder vier. Männer oder Frauen, ich wusste es im Nachhinein nicht mehr. Sie wirkten alle so gleich und ausdruckslos, saßen da mit teilnahmslosem Blick. Im Walkman lauschte ich Mozart. Als Reiselektüre lag »Das Parfüm« von Patrick Süskind auf meinem Schoß, der große Renner im Volksbuchhandel. Als ich mir eins der drei gelieferten Exemplare aus der Personalkiste gefischt hatte, war mir augenblicklich blümerant geworden beim Gedanken an die wütenden Reaktionen der ständig danach fragenden Kunden. Die Geschichte des Mörders Grenouille las sich für mich nun, da ich selbst auf dem Weg zum allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs war, völlig neu. Auf der schmalen Sprelacartplatte am Fenster lagen unberührt die Brote, die ich mir als Proviant geschmiert hatte, weil ich das von Zugreisen so kannte und normalerweise schon der erste Ruck des abfahrenden Zuges ein Hungergefühl in mir auslöste. In der sternenklaren Nacht wurde das Licht im Waggon bald zu schummrig, als dass ich hätte weiterlesen können.
Für Menschen, die freiwillig klassische Musik hörten, empfand ich eine gewisse Bewunderung. Ihnen eröffnete sich eine Welt, in die ich nie vordringen würde. Und nun war ich Mozart ausgeliefert. Michi Krumbiegels Vater, ein ausgemusterter Dirigent, der eine Etage unter uns wohnte, hatte in Feinripp und Sakko in seinem Wohnzimmer den Plattenspieler dirigiert wie ein Orchester und mir damit so was wie einen Überblick vermittelt. Auf meiner nächtlichen Zugfahrt tauchte ich nun sehr viel tiefer ein, wandelte sich das fließende Anthrazit vor dem Fenster zur Opernkulisse, waren die Bahnhöfe unter spärlichem Licht erkaltet: Leipzig – Erfurt – Gotha – Eisenach – Grenzübergang Gerstungen.
Die Blicke der Alten hoben sich, als ein Grenzer in die schläfrige Ruhe platzte und ein zweiter sich zum nächsten Abteil an ihm vorbeidrängte. Der Chor in meinem Ohr schwang sich gerade zu »Lacrimosa« empor, zu jener Stelle im »Requiem«, an der Mozart sein Leben ausgehaucht hatte, wie ich von Herrn Krumbiegel wusste. Im Abteil reckten sich Hände mit Dokumenten dem Grenzer entgegen, zeitgleich mit dem scheppernden Geräusch der Waggontür, obrigkeitshörig schon vor dem Befehl. Ich spürte, wie meine Hände erkalteten, und schaute zu, wie ringsum Durchschläge von Papieren abgestempelt wurden. Ich hingegen hielt nur einen einzigen Zettel zwischen den Fingern. Da war kein Durchschlag, der aufzeigte, wann ich wieder einreisen würde. Vielleicht war ich einer besonders perfiden Intrige zum Opfer gefallen, einer neuen Form psychischer Grausamkeit, in der sich ein vorgeblich gültiges Dokument als Makulatur erwies und meine Reise hinter abgebrochenen Brücken genau hier enden ließ. Das pflichtbewusste kleine Mädchen in mir begann zu schreien, stumm, wie es das gewohnt war. Hatte ich ein Formular übersehen und nicht eingesteckt? Die Dünkelblicke der rüstigen Rentner im Abteil vereinten sich zu einem einzigen Blick, der mir die Ausweglosigkeit meiner Situation verdeutlichte. Von ihnen hatte ich keine Hilfe zu erwarten. Sie hatten sich schließlich auch gedulden müssen, das Alter für die Reisegenehmigung in den Westen zu erreichen. Ganz so schnell ging das ja nicht, sich einfach so einzureihen bei den Verdienten. Ich kannte Dünkel sonst nur von Nachbarn, von denen man wusste, dass sie beim Fernsehen arbeiteten oder Shows in der Stadthalle moderierten und deshalb einen Mazda aus dem Westen fahren konnten. Hier schlug mir der Atem einer Generation entgegen, die einen Haufen Scheiße aus zwei Weltkriegen und einem sozialistischen Neuaufbau als Leben bezeichnete und nun den Vorzug genoss, aus der Scheiße raus in den Westen reisen zu dürfen. Welcher Verdienst war es, das biblische Alter von Anfang oder Mitte sechzig erreicht zu haben? Im Gegensatz zu den Jungen, die hinter der Grenze zu verharren hatten, da sie dem Staat nützlicher waren als abgearbeitete Greise?
Der Grenzer drehte den Zettel in seiner Hand und damit das Messer noch tiefer in meine Wunde. Fragte nach meinem Einreisevisum nach Frankreich. Ich holte den Reisepass aus meinem Faltbeutel und atmete hörbar auf. Wie hatte mir entgehen können, dass der hart erkämpfte Stempel der Französischen Botschaft schon hier zum Tragen kam und jeglichen Durchschlag hinfällig machte? Es war eine Collage aus verschiedenen Stempeln, die er schließlich als gültig genug erachtete, mich weiterreisen zu lassen. Es folgten ein kurzer Gruß und Tippen ans Käppi, dann wieder das scheppernde Geräusch der Waggontür.
Augenpaare schauten mich an, fragend, aber kein Mund spielte mit. Es blieb still im Abteil. Dann nur noch Flüstern. Später Schnarchen. Schließlich Ruhe.
Bebra – Frankfurt am Main. Dort lief ich die Bahnsteige ab bis zu der Anzeige, die mich aufatmen ließ: Paris Est. Ich stieg in den Zug, einen Tehschehweh, dessen Name mir vertraut war wie ein Versprechen, von dem ich immer gewusst hatte, dass es sich einlösen würde. Eines Tages. Ich fand meinen Platz, setzte die Kopfhörer wieder auf, spulte zurück zu »Lacrimosa« und den glasklaren Stimmen aus dem Tränenreich. Mozart, dieser jung Verstorbene, machte mich froh. Hatte in seinem »Requiem« den eigenen Tod als einzig wahren Freund empfunden und in die Arme geschlossen. Ich saß allein in einem Großraumwagen mit zwei Sitzlehnen vor meinem Gesicht und weinte leise. Ich sah meine Großmutter mit gichtigen Fingern beim Einschlafen mein Bild in der Hand halten. ›Und nun bet schön, schlaf schön, träum schön, pups schön.‹
Morgensonne fiel auf die Schilder von Mannheim und Kaiserslautern. Mittagssonne fiel auf Saarbrücken und brannte auf Forbach. Vor dem Fenster spielte sich eine Landschaft ab, und irgendwo hinter dem Horizont lag die Stadt Verdun und wohl auch der zerfetzte Bruder meiner Großmutter. Albert war der Liebling seiner Mutter gewesen. Hatte im Schützengraben gelegen mit abgerissenem Bein und noch bis zum letzten Moment nach ihr gerufen. Sein Korporal überbrachte der Mutter die Nachricht. Davon hatte mir meine Großmutter im immer gleichen Wortlaut erzählt, wie eine Schallplatte an immer derselben Stelle die Musik wiederholte, wenn der Kratzer nur tief genug war.
Ich erreichte Paris an einem Sonnabend Mitte Juli, einen Tag nach den Festivitäten des Bisontenaire, von dem ich auf der Botschaft gehört und das offensichtlich nichts mit Bisons zu tun hatte.
Ich sah sie schon von Weitem. Sie reckte den Kopf. Sie schaute in jedes Gesicht. Erwartete die Tochter aus dem Osten am Bahnhof des Ostens, Garedelest, dessen Name für mich sehr viel mehr nach Gourmetrestaurant als nach Bahnhof klang. Erkannte mich nun inmitten der trägen Masse, unsere Schritte aufeinander zu wurden schneller, wir schlossen uns in die Arme, ich sie an meine Brust. Einen Arm hatte ich frei für meinen Stiefvater Heinz Gustloff. Er drückte mir einen Strauß Blumen in die Hand und sagte mit Blick auf meine weinende Mutter: »Das ist die Freude.« »Was der immer redet«, hörte ich sie in meinen Ausschnitt hinein sagen. Um ihren Tonfall und das »der« würde ich mir später Gedanken machen, denn dieser Moment gehörte nur mir.
Ich war einundzwanzig Jahre alt und hatte mich mit der Ausrede einer »Familienzusammenführung« aus meinem alten Land gestohlen. Die Freiheit, die ich meinte, konnte auch mein Vater mir nicht ermöglichen, bei dem ich lebte. Also stellte ich die Freiheit über meine Liebe zu ihm und heuchelte Sehnsucht nach meiner Mutter, die zufällig in der schönsten Stadt der Welt und damit automatisch im nichtsozialistischen Ausland lebte.
Wir beide hatten das Spiel mitgespielt. Was für ein Staat mit seinen großen Leuchten, denen kleine Lichter wie wir einen Grund inszenieren mussten, damit ich den Zug von Leipzig nach Paris nehmen durfte. Wie armselig, wie erbärmlich all das war, wurde mir einmal mehr bewusst, als ich auf dem Bahnhof stand. Die Sonne, die durchs Glasdach fiel, wanderte wie bei uns im Osten auch hier gen Westen. Hier herrschte ein anderes Tempo als der mir bekannte Trott. Ich sah Taschen und Koffer Ton in Ton mit Leuten dran, die von A nach B liefen, als wäre B ein schönes Ziel. Schwarze Männer in orangefarbenen Westen fegten mit neongrünen Besen Styroporverpackungen zusammen. Nun kam es darauf an, ob ich in diesem Farbfilm nur Statistin bliebe, herausgeschnitten würde oder eines Tages eine echte Rolle innehätte.
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