Es war grausam, Ethel und Julius Rosenberg hinzurichten, aber unschuldig waren sie nicht«, sagte meine Mutter, während sie vor dem Spiegel ihre wilde Frisur in irgendeine Ordnung zu bringen versuchte; und obwohl das, was sie da sagte, im Gegensatz zu allem stand, was ich um mich herum hörte, was sie in der Schule lehrten und wie es sonst überliefert wurde, ließ meine Mutter gar keinen Zweifel daran, daß sie es besser wußte, und deswegen fragte ich auch nicht nach. Statt dessen fragte ich sie nach ihrer ursprünglichen Haarfarbe, weil sie sich, soweit ich überhaupt zurückdenken kann, die Haare färbte, natürlich nur in dunklen Tönen, denn sie war ja ein »dunkler Typ«, in diesen Tönen allerdings schöpfte sie das ganze Spektrum von Dunkelblond bis Tiefschwarz über Rostbraun und Feuerrot voll aus. Sie antwortete mir, das weiß ich nicht mehr, ich hab’s wirklich vergessen.
An ihre ursprüngliche Haarfarbe konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber daß Ethel und Julius Rosenberg nicht unschuldig hingerichtet worden waren, das wußte sie genau.
Wir wohnten in einer Villa im Berliner Stadtteil Karlshorst, in dem am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation Deutschlands unterzeichnet worden war, natürlich nicht in unserer Villa, aber ganz in der Nähe davon, ein großer Teil von Karlshorst war seitdem zur sowjetischen Garnisonsstadt geworden, mit einer riesigen Kaserne für die Soldaten und abgesperrten Gebieten für die militärischen Übungen, aber es gab auch einen zivilen Teil mit Geschäften, Kino und Kultursaal und, noch näher bei uns, einige Wohnblöcke, in denen Offiziere mit ihren Familien wohnten. Ihre Kinder spielten in den Innenhöfen zwischen den Wohnblöcken, und ich ging manchmal hin, um mitzuspielen, doch ich blieb all die Jahre das einzige deutsche Kind, das auf den Russenspielplatz ging. Unser Hund Poldi allerdings, der von einer »undressierbaren Promenadenmischung stammte und Folgen nicht gelernt hatte«, wie mein Vater erklärte, verlief sich beim Spazierengehen regelmäßig in das militärische Sperrgebiet hinein, aus dem man tagsüber und manchmal auch nachts gefährliche Geräusche wie Schüsse hörte und in das man natürlich keinen Fuß zu setzen wagte, was ja auch allerstrengstens verboten war; wir mußten dann in der Kommandantur anrufen und fragen, ob ihn die Militärbehörde irgendwo aufgegriffen hatte, dann konnten wir ihn später auf der Kommandantur abholen. Mit der Zeit kannten sie ihn schon und brachten ihn uns entgegen: Wot waschji Poldi!
Als eines Tages an unserer Tür in Karlshorst ein Mann klingelte und mit starkem englischem Akzent nach Mrs. Hannnigmänn fragte, waren die Rosenbergs seit über zehn Jahren hingerichtet und meine Mutter seit fast 20 Jahren aus dem englischen Exil zurückgekehrt. Eigentlich war sie nicht »zurückgekehrt«, da sie Berlin in ihrem ganzen Leben vorher noch nie betreten hatte, sondern sie war meinem Vater gefolgt, der in Berlin an ein früheres Leben als Journalist bei der Vossischen Zeitung anknüpfen konnte, während meine Mutter den Bruchstükken ihres Lebens nur ein neues hinzufügte. Meine Eltern sprachen noch oft englisch miteinander und mit ihren Freunden, die ebenfalls aus der Emigration zurückgekehrt waren und von denen sich einige Ehefrauen aus England oder den USA mitgebracht hatten, die natürlich kein Deutsch sprachen und sich auch keine besondere Mühe gaben, es zu lernen, und das Englischsprechen war wohl auch eine Art, sich der Zusammengehörigkeit und des Zusammenhalts zu versichern und gegen die Ablehnung derer zu schützen, die sie als fremd und als privilegierte Parteielite ansahen, was keine ganz falsche Wahrnehmung war. Sie waren als Juden fremd geworden und waren mehr oder weniger privilegiert, weil sie zur Parteielite gehörten oder wenigstens eine höhere Stufe in der Kulturhierarchie einnahmen. Ihre Privilegien, ihr Kosmopolitismus und ihr Status als überlebende Juden und als Kommunisten waren ihre Stigmata.
Die Villa in Karlshorst stammte aus den 20er oder 30er Jahren und war jetzt in mehrere Wohnungen unterteilt. Wir bewohnten die Wohnung im Erdgeschoß mit großen hellen Zimmern, deren Böden mit glänzendem Parkett ausgelegt waren, einem Wintergarten zur Straße hinaus und einem kleinen Garten hinter dem Haus, in dem meine Mutter im Sommer in einem Liegestuhl unter dem Apfelbaum die Zeitung las. Im ersten Stock war die Wohnung in zwei geteilt, und in jeder wohnte eine Mutter mit einer Tochter, deren Väter wohl im Krieg gefallen waren. Unter dem Dach wohnten Lomi, Brauni und Waldtraud. Lomi sah aus wie hundert, Brauni sah aus wie achtzig und Waltraud war achtzehn. Brauni war die Tochter von Lomi und Waltraud war die Tochter von Brauni, und auch ihre Männer und Väter mußten in den verschiedenen Kriegen gefallen sein, es gab sie nicht, und sie wurden eigentlich auch nie erwähnt. Dafür sprachen die beiden Witwen um so mehr vom Treck, von den Bomben und von den Russen, denen sie auf dem Weg von Ostpreußen ausgeliefert gewesen waren, und dabei rollten sie das R noch härter, als meine Mutter das R rollte, die ihre österreichisch-ungarische Herkunft genausowenig verbergen konnte wie die Frauen aus Ostpreußen die ihre. Lomi heizte und kümmerte sich um unseren kleinen Garten, Brauni räumte die Wohnung auf, kochte, wusch und bügelte für uns, während meine Mutter bei der DEFA arbeiten ging, die Hausangestellten großzügig bezahlte und freundlich behandelte und sich damit ein für allemal eine unüberbrückbare Distanz erkaufte. Vielleicht erzählten Lomi und Brauni auch deshalb so viel von den Leiden des Krieges, vom Treck und von den Bomben, damit meine Mutter gar nicht erst anfing, von ihrem Leben zu erzählen. Sie schlug sowieso nur die Augen zum Himmel über ihre Lamentiererei, die Engländer jedenfalls hätten sich auch in den schlimmsten Zeiten nicht so unwürdig beklagt.
Lomi war eine stadtbekannte Wunderheilerin, jedenfalls in den Straßen um uns herum war sie dafür sehr bekannt; mein Vater, der sie sonst durchaus respektierte, nannte sie einfach »die Hexe«, wegen ihres Buckels, ihrer Winzigkeit und ihrer behaarten Warzen; vielleicht wollte er sich mit dieser Bezeichnung auch dafür rächen, daß man ihn früher selbst sooft »Affe« genannt hatte, wegen seiner dichten schwarzen Behaarung bis zu den Fingerspitzen; erst in England hatte niemand mehr »Affe« zu ihm gesagt. Sogar von Karlshorster Ärzten wurden Lomi Patienten geschickt, die sie dann in Vollmondnächten durch Besprechen, Handauflegen und Zaubertränke heilte. Im Winter heizte sie und kümmerte sich um die Holz- und Kohlenlieferung für das Haus, in dem wir in den vier Zimmern des Erdgeschosses wohnten.
Meine Mutter war die einzige Frau im Haus, die keine Witwe war, dafür war sie zum dritten Mal geschieden und lebte seit der letzten Scheidung, der von meinem Vater, mit einem Mann zusammen, den ich Onkel Wito nannte. Onkel Wito war also der einzige Mann im Haus, allerdings nur während der Woche, denn das Wochenende verbrachte er meistens mit seiner früheren Familie in Karolinenhof, dafür kam dann mein Vater zu Besuch nach Karlshorst. In dem Haus der Frauen und Töchter war ich die Jüngste, und während die Mütter vom Treck und den Bomben sprachen, weihten mich die Töchter in die wichtigen Liebesangelegenheiten ein, die sie gerade erlebten, und ließen sich dazu herab, mich gleichzeitig aufzuklären, was allerdings überflüssig war. Denn wie alle »orientalischen Mädchen«, wie mein Vater sich ausdrückte, war ich frühreif und hatte mit meiner Freundin, die ebenfalls ziemlich »orientalisch« war, schon in der ersten Klasse Jungen, die uns gefielen, in den nahe gelegenen Wald, ins Gras gelockt, eskortiert vom Dackel Poldi, der die Heiners und Reiners wegbiß oder wenigstens wegkläffte, wenn sie uns heimlich nachgeschlichen kamen, obwohl sie auf der Warteliste für die Waldstunde noch ganz weit hinten standen.
Meine Mutter glaubte wohl, Lomi, Brauni und die anderen Frauen im Haus wüßten gar nichts über ihre Herkunft und wo sie die Zeit des Krieges verbracht hatte, aber sie wußten es ganz genau, denn mir gegenüber machten sie manchmal Andeutungen und Bemerkungen, doch das Wort Jude nahmen sie dabei nicht in den Mund, dieses Wort sprachen sie nie aus, es existierte überhaupt nicht, auch in der Schule kam es nie vor. Nur einmal, als ich bei Lomi und Brauni unterm Dach irgend etwas holen oder ausrichten sollte, sagte Brauni, und Lomi nickte dazu, »wenn es wieder passiert, werden wir dich hier irgendwo unter dem Dach verstecken«. Genauso sagten sie es, und ich schäme mich heute noch dafür.
Lomi wischte gerade im Hausflur und Brauni räumte in unserer Wohnung auf, während ich wahrscheinlich Schulaufgaben machte, als der sehr westlich wirkende Mann mit starkem englischem Akzent nach Mrs. Hannnigmänn fragte und wir ihm antworteten, sie sei nicht da. Wann sie wieder zurück sei, fragte er. Wann er wiederkommen könne. Das alles mit dem starken englischen Akzent. Mrs. Hannnigmänn, hier wohne sie doch? Ja, hier wohne sie. Ob ich die Tochter sei. Ja, das sei ich.
Er kam abends oder am nächsten Tag wieder und folgte meiner Mutter ins Wohnzimmer, sie schloß die Tür fest hinter sich zu; dann ging er wieder und war eigentlich nicht sehr lange geblieben.
Danach wurden Lomi, Brauni und ich zur Krisensitzung beordert. Nie wieder eine Auskunft geben. Nichts sagen. Kein Wort zu jemandem, der nach Mrs. Hannnigmänn fragt. So lautete die Order, und wir wußten noch nicht einmal, worüber wir nichts sagen durften. Meine Mutter beeilte sich nicht, es uns mitzuteilen.
In den nächsten Wochen kamen immer mehr westlich wirkende Männer, die mit starkem englischem Akzent nach Mrs. Hannnigmänn fragten. Meine Mutter hat sie wieder weggeschickt und denen, die sie doch zu einem Gespräch...