Honigmann | Georg | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Honigmann Georg


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26287-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-446-26287-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Mein Vater heiratete immer dreißigjährige Frauen. [Nur] er wurde älter... Sie hießen Ruth, Litzy, das war meine Mutter, Gisela und Liselotte...' Das ist die private Seite einer Lebensgeschichte, die um die halbe Welt führt: Herkunft aus Frankfurt, Odenwaldschule, Paris-London-Berlin, dazwischen Internierung in Kanada, nach der Emigration der Weg in die DDR. Und bei alldem die wiederkehrende Erfahrung: 'Zu Hause Mensch und auf der Straße Jude.' Barbara Honigmann erzählt lakonisch und witzig, traurig und mitreißend von ihrer deutsch-jüdisch-kommunistischen Sippe: Ein schmales Buch, aber ein großes Buch über Deutschland - und die bewegende nachgetragene Liebeserklärung an einen außergewöhnlichen Mann.

Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, dem Jakob-Wassermann-Preis, dem Bremer Literaturpreis 2020, dem Jean-Paul-Preis 2021, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2022 und zuletzt dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt 2023. Bei Hanser erschienen Damals, dann und danach (1999), Alles, alles Liebe! (Roman, 2000), Ein Kapitel aus meinem Leben (2004), Das Gesicht wiederfinden (2007), Das überirdische Licht (Rückkehr nach New York, 2008), Chronik meiner Straße (2015), Georg (2019) und Unverschämt jüdisch (2021).
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Mein Vater hieß Georg, so wie sein eigener Vater, dessen zweiter Name Gabriel war. Mein Vater trug neben dem Namen Georg noch die Vornamen Friedrich und Wolfgang. Seine Mutter hieß Leonie, und sein Bruder hieß Heinrich. Leonie und Heinrich verlor er früh.

»Meine arme Mutter hat ihr ganzes Leben lang immer und überall vierblättrige Kleeblätter gefunden, denen man doch nachsagt, dass sie Glück bringen, aber dann starb sie schon so jung, mit 34 Jahren«, erzählte Georg. Sie hatte sich außerdem noch taufen lassen mit ihren beiden Söhnen, da war Heinrich sechs Jahre alt und Georg ein Baby, aber auch das hat ihr Leben nicht verlängern können, und Georg hat sie nie in seinem Leben anders als krank erlebt, meistens im Bett liegend. Sie hat jahrelang mit niemandem mehr gesprochen außer mit ihm, mit Georg, meinem Vater, der damals noch ein Kind war, so hat er es erzählt, »ich war ihr Sprecher, ihr Vermittler nach draußen«. Er hat es sehr oft erzählt. »Meine arme Mutter«, sagte er immer, wenn er von ihr sprach. »Ich war elf Jahre alt, als meine arme Mutter starb.«

Sie wohnten in Wiesbaden, in einem großbürgerlichen Haus im neoromanischen Stil, voll herrschaftlichem Pathos, wie er es später nostalgisch beschrieb, nicht weit von dem Sanatorium am Fuße des Sonnenbergs, das Georgs Vater leitete, ein Sanatorium für Innere Medizin und Nervenheilkunde.

Nur vier Jahre nach seiner Mutter ist Heinrich gestorben, das heißt, er fiel auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in Frankreich, als Fähnrich in der 11. Kompanie des Infanterieregiments Nr. 113, durch einen Kopfschuss. Der genaue Hergang ist in der »Kriegsstammrolle« des Regiments beschrieben, und die arme Familie, die nun nur noch aus den beiden Georgs, Vater und Sohn, und Leonies Mutter Anna bestand, wird es so mitgeteilt bekommen haben. Das war kurz vor dem Ende des Krieges, im September 1918, und Heinrich war gerade, wie in der »Kriegsstammrolle« verzeichnet ist, von einem Heimaturlaub zurückgekehrt, hatte in Wiesbaden den Vater, den Bruder, die Großmutter und das Grab seiner Mutter besucht. Er selbst hat dann kein eigenes Grab bekommen können, da er in Feindesland fiel, und auch die »Kriegsstammrolle« kann ihn nur als »vermisst« vermelden. Erst später werden sie wohl all die Leichen eingesammelt und sie in einem Gemeinschaftsgrab beerdigt haben, keiner weiß genau, wo Heinrich begraben liegt, vielleicht irgendwo unter den Grabmälern und Gedenksäulen für den unbekannten Soldaten. Wie so viele von den unbekannten Soldaten war Heinrich noch keine 20 Jahre alt gewesen. Ich habe nie weiter etwas über ihn und seine Pläne und Projekte gehört; ob er studiert oder vielleicht eine Freundin oder Verlobte hatte, nur von dummen, ja sogar grausamen Spielen unter Brüdern erzählte Georg, Heinrich habe ihn manchmal nachts aus dem Schlaf gerissen und in die mit kaltem Wasser gefüllte Badewanne getaucht und über den Schreck, den er dem kleinen Bruder verpasste, noch gelacht. Das war eigentlich das einzige, was ich überhaupt je von Heinrich erfahren habe. Trotz seines so frühen, sinnlosen Todes hat Georg ihn nie »mein armer Bruder« genannt. Auch ein Foto von ihm gibt es nicht, ich habe keine Vorstellung davon, wie er ausgesehen haben mag.

Von Georg jedoch gibt es zwei Kinderfotos, das heißt, es gab diese Fotos, ich erhielt sie als Kopien von meiner Halbschwester, Georgs Tochter mit seiner letzten Frau, die er nach dem Misserfolg der Ehe mit der Schauspielerin heiratete, nachdem er aus dem möblierten Zimmer in Hirschgarten wieder ausgezogen war, zunächst in die ihm zugewiesene Anderthalb-Zimmer-Wohnung im »Hans-im-Loch-Viertel«, bis sie schließlich mit der kleinen Tochter zusammen in einem Villenviertel Berlins in ein Haus mit Garten drumherum zogen. Die Kopien der beiden Fotos habe ich verlegt oder verloren, aber die Bilder sind mir noch ganz gegenwärtig, man sieht Georg als kleinen Jungen in einem Faschingskostüm mit einer lustigen Faschingsmütze auf dem Kopf und einem albernen Kasperle in der Hand, und auf dem anderen Bild ist er mit seinem Vater zu sehen, er reicht ihm noch nicht einmal bis zur Brust und ist in einen dunklen Anzug und Krawatte eingeklemmt, der Vater legt ihm die Hand auf die Schulter. Der große Georg ist ein imposanter, breitschultriger Mann mit einem kräftigen dunklen Schnurrbart im Gesicht, der kleine Georg, mein Vater, ein schmächtiger Bub mit einem traurigen Gesicht.

Georgs Großmutter, Leonies Mutter, lebte während der Krankheit ihrer Tochter mit in dem neoromanischen Haus und überwachte den Haushalt und die Dienstboten, wohl um Leonie beizustehen, zu helfen, irgendetwas zu tun, Heinrich und Georg zu trösten, obwohl alles so hoffnungslos aussah. Leonie war ihr einziges Kind, und sie war selbst früh Witwe geworden. Nachdem Leonie gestorben und begraben war, warf ihr Schwiegersohn sie aus dem neoromanischen Haus in Wiesbaden raus. Das reichte nun. Sie hieß, wie gesagt, Anna, und Georg hat sie sehr geliebt, sie hatte immer »goldisch Bubsche« zu ihm gesagt, wie er erzählte, denn sie stammte aus Darmstadt. Das spricht man dort »Dammschtadd« aus, und dorthin zog sie wieder zurück und nahm Georg mit, bevor er später die Odenwaldschule besuchte und im Internat in Ober-Hambach lebte, nicht sehr weit von »Dammschtadd«.

Sein Vater aber hatte auch in so kurzer Zeit erst seine Frau und dann seinen Sohn verloren. Er hatte sich erst ziemlich spät in seinem Leben mit der deutlich jüngeren Leonie verheiratet und ihr zur Hochzeit einen ganzen »Liederkranz« gedichtet und auch drucken lassen. »Jüngst im Palmengartensaal / sah ein Ärzte-Bacchanal / Frankfurt an dem Maine. / Lackbeschuht und schwarz befrackt / schwang auch ich im Walzertakt / eine liebliche Kleine.« Nach dem Tod der lieblichen Kleinen allerdings nahm er sich bald wieder, viel zu schnell, wie sein Sohn fand, eine neue Frau, eine Christin, die hieß auch noch Hanna, fast wie die geliebte Großmutter, die sein Vater einfach so hässlich abserviert und rausgeworfen hatte, er habe die neue Frau wirklich gehasst, hat Georg gesagt.

Er hat immer nur schlecht über seinen Vater gesprochen, ich glaube, er mochte ihn nicht, manchmal klang es gar, als habe er auch ihn gehasst. Dabei trug er dann später als erwachsener Mann genauso einen kräftigen Schnurrbart wie sein Vater auf dem Foto, ihrer beider Handschriften waren ununterscheidbar, und offensichtlich in einem uneingestandenen Wunsch nach Nähe sah sich Georg auch als Arzt, der er ja nun wirklich nicht war; er gab immer viele ärztliche Weisheiten von sich, diagnostizierte jedes Symptom, missbilligte und urteilte jeden anderen Arzt und seine Diagnose ab, von der Behandlung ganz zu schweigen, und erklärte ihn und alle anderen Ärzte für völlig unfähig. Er selbst war nie krank, er mochte auch keine Kranken, er war kein eingebildeter Kranker, sondern ein eingebildeter Arzt, und seine ärztliche Anmaßung bestand zum Beispiel in solchen Therapien wie: »Wir bekämpfen das Fieber, indem wir es nicht messen.«

Noch heute glaube ich, dass er gerne Arzt geworden wäre, wie sein Vater und wie sein Großvater und sein Urgroßvater, denn in »Dammschtadd« verheirateten die jüdischen Bankiers ihre Töchter mit Ärzten, Hofärzten des Großherzogs von Hessen-Darmstadt, versteht sich. Und sogar seine Dissertation, mit der er, wenn auch nicht zum Dr. med., sondern zum Dr. phil. promoviert wurde, galt Georg Büchner, der ja auch Mediziner war.

In der Zeit, als mein Vater schon lange in der DDR lebte und weit weg von jeder ärztlichen Wissenschaft in einem sozialistischen Kulturbetrieb herumlavierte, erhielt ich einmal einen Brief von ihm. Ich glaube, er hatte ihn während der Zeit der Trennung von der Schauspielerin, die sich ziemlich lange hinzog, geschrieben, es ging ihm nicht gut in der Seele, und sein Körper bescherte ihm, auch wenn er es nicht zugeben mochte, eine Angina pectoris, also eine Herzkrankheit, eine »Enge in der Brust«, man hatte ihm deswegen eine Kur in Bad Elster, dem Kurort im sächsisch-bayrisch-böhmischen Länderdreieck verordnet, und von dort schrieb er mir. »Weißt Du, mein liebes Kind, ich lebe hier während dieser vier Wochen ganz einsam und finde das wohltuend, denn wenn ich mir die Leute ansehe, die da herumlaufen und im Speisesaal und manchmal sogar an meinem Tisch sitzen, und mir vorstelle, welchen fürchterlichen Unsinn sie erzählen würden, tut es mir gar nicht leid. So komme ich viel zum Nachdenken und möchte Dich an einer meiner Erkenntnisse teilhaben lassen: Richte, liebes Kind, Dein Leben heute so ein, dass Du nicht später sagen wirst — oh, hätte ich doch damals —, wie es sich Dein armer Vater immer wieder sagt.«

Georgs Vater schloss nach Leonies Tod und nach dem Ende des Krieges sein Sanatorium ...


Honigmann, Barbara
Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, dem Jakob-Wassermann-Preis, dem Bremer Literaturpreis 2020 und zuletzt dem Jean-Paul-Preis 2021. Bei Hanser erschienen Damals, dann und danach (1999), Alles, alles Liebe! (Roman, 2000), Ein Kapitel aus meinem Leben (2004), Das Gesicht wiederfinden (2007), Das überirdische Licht. Rückkehr nach New York (2008), Chronik meiner Straße (2015) und Georg (2019).



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