Hope Was wir sind
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-446-26733-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-446-26733-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach einer atemlosen gemeinsamen Zeit in London stehen Hannah, Cate und Lissa mit Mitte dreißig an ganz unterschiedlichen Punkten. Hannah liebt ihr Leben und das Leben mit Nathan, doch alles scheint wertlos ohne ein Kind. Cate ist nach der Geburt ihres Sohnes nach Canterbury gezogen und hat das Gefühl, sich mehr und mehr selbst zu verlieren. Und Lissa steht nach einer schwierigen Beziehung auf der Schwelle zu ihrem Traum. Was wollen wir, was können wir sein? 'Beeindruckend scharfsinnig und voller emotionaler Weisheit' (The Observer) erzählt Anna Hope von drei Frauen unserer Zeit und kommt dabei ihren Figuren so nah wie wir sonst nur uns selbst.
Anna Hope wurde 1974 in Manchester geboren. Sie studierte Englische Literatur in Oxford und Schauspiel an der Royal Academy of Dramatic Art. 2014 stand sie mit 'Wake' auf der Shortlist des National Book Award für den besten Debütroman. Anna Hope lebt in Sussex, südlich von London. Bei Hanser erschienen ihre Romane Was wir sind (2020) und Der weiße Fels (2023).
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London Fields
2004
Es ist Samstag, Markttag. Es ist später Frühling, oder früher Sommer. Es ist Mitte Mai, und im verwilderten Garten vor dem Haus blühen die Heckenrosen. Für einen Morgen am Wochenende ist es noch früh, nicht einmal neun Uhr, aber Hannah und Cate sind schon auf. Sie sprechen wenig, während sie nacheinander am Wasserkocher stehen und sich Tee und Toast zubereiten. Das Sonnenlicht fällt schräg durchs Zimmer und trifft auf die Regale mit den willkürlich zusammengestellten Töpfen, die Kochbücher und die nachlässig gestrichenen Wände. Bei ihrem Einzug vor zwei Jahren hatten sie sich geschworen, das grässliche Lachsrosa der Küche zu übermalen, doch dann sind sie nie dazu gekommen. Inzwischen mögen sie die Farbe, sie fühlt sich warm an, wie alles in diesem freundlichen, schäbigen Haus.
Lissa ist oben und schläft. Am Wochenende steht sie nur selten vor zwölf auf. Sie jobbt im Pub um die Ecke und geht nach der Arbeit oft noch feiern. Auf eine Party in einer Wohnung in Dalston, in einer Bar an der Kingsland Road, oder etwas weiter draußen in einem der Künstlerateliers von Hackney Wick.
Cate und Hannah essen ihren Toast und lassen Lissa schlafen. Sie nehmen die verwaschenen Stofftaschen vom Türhaken und treten in den hellen Morgen hinaus. Sie gehen nach links, und biegen dann nach rechts ab in den Broadway Market, wo gerade die Stände aufgebaut werden. Die Stunden vor dem großen Andrang sind ihnen die liebsten. Beim Bäcker an der Ecke kaufen sie Marzipancroissants; sie kaufen würzigen Cheddar und einen kleinen, in Asche gerollten Ziegenkäse. Sie kaufen reife Tomaten und Brot. Vor dem türkischen Kiosk ziehen sie eine Zeitung aus dem hohen Stapel, dann gehen sie hinein und suchen zwei Flaschen Wein für später aus. (Rioja, immer Rioja. Sie haben keine Ahnung von Wein, aber eins wissen sie: Sie mögen Rioja.) Sie schlendern an den Marktständen vorbei, begutachten billigen Schmuck und Secondhandklamotten. Vor den Pubs halten die Leute um neun schon ein Bier in der Hand, wie auf fast allen Londoner Märkten.
Zu Hause packen sie ihre Einkäufe auf den Küchentisch. Sie kochen eine riesige Kanne Kaffee, legen Musik auf und öffnen die Fenster zum Park, wo sich die ersten kleinen Gruppen auf dem Rasen versammeln. Gelegentlich wirft jemand einen Blick herüber, und sie wissen, was er denkt: Wie kommt man an so ein Haus? Wie landet man in einer dreigeschossigen viktorianischen Villa unmittelbar neben Londons schönstem Park? — Mit viel Glück. Eine entfernte Bekannte hatte Lissa ein Zimmer angeboten, später im selben Jahr wurden zwei weitere frei, und seither wohnen sie hier zu dritt zusammen. Sie haben sich die Villa in jeder Hinsicht angeeignet, außer auf dem Papier vielleicht. Irgendwo im fernen Stamford Hill sitzt eine Hausverwaltung, die aber anscheinend nicht weiß, wie die Gegend sich entwickelt hat, und so ist die Miete seit zwei Jahren nicht gestiegen. Die drei haben sich geschworen, niemals irgendwelche Forderungen zu stellen; sie werden sich weder über die Wellen im Linoleum beschweren noch über den fleckigen Teppichboden. In einem Haus, das so innig geliebt wird wie dieses, spielen solche Kleinigkeiten keine Rolle.
Gegen elf wacht Lissa auf und kommt die Treppe herunter. Sie hält sich den Kopf, trinkt ein großes Glas Wasser, nimmt ihren Kaffee mit nach draußen, dreht sich eine Zigarette und setzt sich auf der breiten Steintreppe in die warme Morgensonne, die bis an die unteren Stufen herangekrochen ist.
Wenn sie genug Kaffee getrunken und geraucht haben und aus dem Vormittag Nachmittag geworden ist, packen sie Teller, Essen und Decken ein, gehen in den Park, legen sich in den gesprenkelten Schatten ihres Lieblingsbaums und picknicken in aller Ruhe. Hannah und Cate lesen abwechselnd Zeitung, Lissa schirmt sich die Augen mit dem Kunstteil ab und stöhnt. Später entkorken sie den Wein, er trinkt sich gut. Der Nachmittag schreitet voran, das Licht wird zäher und die Unterhaltungen im Park stetig lauter.
So sieht es aus, ihr Leben im London Fields des Jahres 2004. Sie arbeiten viel und gehen oft ins Theater, ins Museum oder zu Auftritten befreundeter Bands. Sie essen in vietnamesischen Restaurants in der Mare Street oder der Kingsland Road. Donnerstags fahren sie zu den Galerien in der Vyner Street, wo es regelmäßig Vernissagen und das Bier und den Wein gratis gibt. Sie nehmen sich vor, beim Einkaufen keine Plastiktüten mehr zu verwenden, was sie manchmal aber vergessen. Sie fahren Rad, immer und überallhin. Und tragen dabei selten einen Helm. Sie schauen sich Filme im Rio an, einem Kino in Dalston, und danach gehen sie in ein türkisches Restaurant und bestellen türkisches Bier und Pide, mit diesem sauer eingelegten Gemüse, von dem einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Auf dem Blumenmarkt an der Columbia Road kaufen sie frische Schnittblumen, ganz früh am Sonntagmorgen. (Manchmal bringt Lissa vom Heimweg nach einer Party Blumen fürs ganze Haus mit, Armladungen voll Gladiolen und Iris. Und weil sie schön ist, bekommt sie sie manchmal geschenkt.)
Einmal gehen sie total verkatert zur Hackney City Farm. Sie sitzen zwischen Eltern und weinenden Kindern vor dem fettigen Frühstück und schwören sich, nie wieder einen Sonntagvormittag hier zu verbringen, es sei denn mit eigenen Kindern.
An manchen Sonntagen unternehmen sie lange Spaziergänge am Regent’s Canal entlang bis zum Victoria Park und noch weiter. Sie folgen dem alten Greenway bis zur Three Mills Island und genießen die Blickschneisen in die Stadt, die sich hier am Wasser bieten.
Sie interessieren sich für die Geschichte des East End. Im Buchladen in ihrer Straße kaufen sie Literatur zum Thema Psychogeografie und versuchen sich an Iain Sinclair, scheitern aber schon an den ersten Kapiteln. Sie wenden sich anderen, leichter verständlichen Büchern zu und informieren sich über die Einwanderungswellen aus Hugenotten, Juden und Bengalen, die den Stadtteil bis heute prägen. Sie machen sich bewusst, dass auch sie auf einer Welle hergeschwommen sind. Eigentlich würden sie diese jüngste Entwicklung gern aufhalten, denn sie fürchten, eines Tages nur noch von ihresgleichen umgeben zu sein.
Sie machen sich Sorgen. Um den Klimawandel, und um die Geschwindigkeit, in der der sibirische Permafrost taut. Sie machen sich Sorgen um die Kinder in den Hochhäusern hinter dem Deli, wo sie regelmäßig Kaffee und Tabouli bestellen. Sie fragen sich, welche Chancen diese Kinder haben. Sie sorgen sich um die eigenen, bescheidenen Privilegien. Die zunehmenden Messerstechereien und Schießereien machen ihnen Angst, aber dann lesen sie in einem Artikel, die Gewalt bleibe meist auf kriminelle Gangmitglieder beschränkt; sie sind erleichtert und fühlen sich gleich schlecht deswegen. Sie fürchten die Gentrifizierung, die von Londons Zentrum heranschwappt und jetzt schon den Park erreicht hat. Manchmal glauben sie, sich noch viel größere Sorgen um all diese Dinge machen zu müssen, aber in diesem Moment sind sie zufrieden mit ihrem Leben und lassen es bleiben.
Sie machen sich keine Gedanken um einen drohenden Atomkrieg oder steigende Zinsen, um die eigene Fruchtbarkeit, den Sozialstaat, alternde Eltern oder Studienkredite.
Sie sind neunundzwanzig und alle kinderlos. Jede andere Generation der Menschheitsgeschichte hätte den Umstand ganz erstaunlich gefunden, aber hier staunt niemand.
Sie wissen, dass London Fields — der Park und das Gras, auf dem sie liegen — immer schon der Allgemeinheit gehört hat. Früher haben die Leute ihre Kühe und Schafe hier weiden lassen. Der Gedanke gefällt ihnen, und zu einem gewissen Teil erklärt er die Anziehungskraft, die das fleckige Grün auf sie ausübt. Sie fühlen sich als seine rechtmäßigen Besitzerinnen, und in der Tat gehört es ihnen, denn es gehört allen.
Am liebsten würden sie die Zeit anhalten, hier und jetzt, in diesem Park und diesem herrlichen Nachmittagslicht. Sie wünschten, die Mieten würden bezahlbar bleiben. Sie möchten rauchen und Wein trinken, als wären sie jung und als machte es nichts aus. Am liebsten würden sie sich für immer in diesem wunderschönen, warmen Nachmittag im Mai vergraben. Sie bewohnen das schönste Haus neben dem schönsten Park im schönsten Teil der schönsten Stadt des Planeten. Ihr Leben liegt vor ihnen, größtenteils. Sie haben Fehler gemacht, aber keiner davon war wirklich...