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E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Horlock Das Geheimnis von Little Sark
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-311-70601-4
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-311-70601-4
Verlag: OKTOPUS bei Kampa
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nicht mehr als fünfhundert Seelen wohnen auf Sark, der wildesten und unberührtesten Insel im Ärmelkanal. Autos gibt es hier nicht, dafür das wohl kleinste Gefängnis der Welt. Sark eilt der Ruf voraus, dass hier nie auch nur irgendwas passiert. Doch als 1933 an der zerklüfteten Küste die ordentlich gefalteten Kleider eines Mannes und einer Frau gefunden werden, ohne dass irgendwer jemanden vermisst, steht Sark bald auf den Titel seiten der Zeitungen. Die zweiundzwanzigjährige Phyllis Carey hat gerade erst aus Gründen, über die sie nicht spricht, ihren Job bei einem Verlag in Southampton hingeschmissen und ist hierher zurückgekehrt. Warum nicht als Korrespondentin von dem Fall berichten?, schlägt ihre Mutter vor, und so macht sich Phyll auf die Suche nach der Wahrheit. Kann es Zufall sein, dass auch Everard Hyde genau jetzt wieder hergekommen ist, Phylls Freund aus Kindertagen, der zehn Jahre zuvor von einem Tag auf den anderen von der Insel verschwand? Erinnerungen an die mysteriösen Ereignisse von damals kehren zurück; verborgene Geheimnisse fordern ihren Tribut. Und dann wird eine Leiche aus den Fluten geborgen.
Weitere Infos & Material
Teil eins
1 GUERNSEY EVENING PRESS
Montag, 2. Oktober 1933
Willkommen, Fremder, auf Sark, der skurrilsten und am wenigsten beachteten der Kanalinseln. Sobald du sie siehst, wirst du wissen, warum. Sie liegt ungefähr sieben Meilen östlich der größeren Insel Guernsey und ist auf allen Seiten von kahlen, steilen Klippen umgeben. Wenn Besucher in vergangenen Zeiten diese nackten Felswände erblickten, hielten sie die Insel für viel zu karg und unwirtlich, als dass irgendein zivilisierter Mensch dort leben könnte. Was, wie oft behauptet wird, auch niemand tut.
Heute jedoch gib bitte nicht auf. Umschiffst du nämlich die tödlichen Felsen an der nördlichen, passenderweise Bec du Nez genannten Spitze, erreichst du einen Hafen, den kleinsten der Welt. Er hat eine ordentliche steinerne Kaimauer, an der sich örtliche Fischer versammeln, um dich neugierig zu beäugen. Beachte sie einfach nicht. Steuere auf die Lücke zwischen den Klippen zu. Genau, um nach Sark zu gelangen, musst du dich förmlich von der Insel verschlucken lassen. Du steigst einen steilen, mit Sträuchern und Bäumen bewachsenen Hügel hinauf, dann erreichst du eine offene Hochebene und atmest erleichtert auf.
Hier befindet sich die Avenue, ein völlig unpassender Name für eine Art Feldweg, der von flachen Bruchbuden gesäumt wird. Achte darauf, wie unglaublich still es ist. Auf Sark gibt es keine Autos, was erklärt, dass die Straßen keine richtigen Straßen sind, und wir hoffen, dass du vernünftige Schuhe trägst. Zu deiner Linken befindet sich das Bel Air Hotel, teilweise reetgedeckt, mit einer öffentlichen Bar, die so feucht und so spärlich beleuchtet ist, dass sie einfach authentisch sein muss. Zu einem anderen Zeitpunkt würden wir dir empfehlen, hier eine Pause einzulegen und Dolly Bihets köstliche Scones zu probieren.
Möglich, dass sie es getan haben.
Doch bis jetzt weiß das keiner genau, denn es ist Montag, der 2. Oktober, und zwei Sätze Kleidung liegen, kürzlich entdeckt und tropfnass, im Inselgefängnis. Alle warten, also beeilst du dich besser. Gehe zügig, bis du zu einem Wegweiser kommst. Er deutet nach links zum Gefängnis und nach rechts zum Postamt. Darunter steht eine kompakt gebaute Frau mit Adlernase und kurzen grauen Haaren. Das ist Elise Carey, die Postmistress. Wie alle Frauen in den Vierzigern spricht sie nicht über ihr Alter. Sie trägt eine kleine Brille mit runden Gläsern, die sie nicht braucht, und eine feste Wollhose, die sie selbst genäht hat. Heute hat sie angesichts des Regens eine lange Öljacke übergezogen. Ein richtiger Sensenmann-Schick. Das Postamt ist geschlossen, und sie marschiert in die andere Richtung, bahnt sich einen Weg durch die überschaubare Menschenmenge, die sich vor dem Gefängnis gebildet hat.
Das Gefängnis von Sark ist klein, wie alle Gebäude hier, so als wäre es für ein Kind gebaut. Es gibt keine Verbrechen auf der Insel, denn jeder kennt jeden, seine Gewohnheiten und seinen Tagesablauf. Warum eine Straftat begehen, wenn man so leicht gefasst werden kann? Genau das lässt das Geschehene noch merkwürdiger erscheinen. Die Kleider sind auf einem Tapeziertisch ausgebreitet, ihr leicht modriger Geruch verteilt sich im Raum und vermischt sich mit den beißenderen Duftnoten von abgestandenem Qualm und frischem Schweiß. Im Verlauf weniger Stunden sind alle gekommen, um sich die Sachen anzusehen, und da sich das Schulgebäude gleich nebenan befindet, versammelt sich jetzt auch noch eine Schar Kinder. Es hat sich herumgesprochen.
John de Carteret blickt auf die Kleidungsstücke und kratzt sich am Kinn. Für die Zeitung ist er Chief Constable Carteret, aber wir nennen ihn einfach John. Er hat Wangen, die wie frisch gewienert glänzen, Brauen, die sich über der Nase treffen, und einen Schnurrbart, den seine Frau Maria verabscheut. Er hat ihn sich 1914 stehen lassen, um älter auszusehen, und inzwischen erzielt er die gewünschte Wirkung. John nickt Elise Carey zu, als sie eintritt, dann kratzt er sich weiter am Kinn.
Die Angelegenheit ist wirklich rätselhaft. Mittlerweile wurden die Passagierlisten der Fährboote gesichtet und die vier Hotels überprüft. Keine Besucher fehlen, niemand wurde als vermisst gemeldet. Sark hat eine Einwohnerzahl von fünfhundert Seelen, die zwischen Mai und September um mehrere Hundert anschwillt. Anschließend endet die Touristensaison, als legte man einen Lichtschalter um. Momentan sind die Leute dabei, sich vorzubereiten, weil Sark in den kommenden Wochen und Monaten wegen der heftigen Südwestwinde vom Rest der Welt abgeschnitten sein wird. Im Winter ist die Insel eine andere, das wird dir jeder bestätigen. Ihre Isolation macht einen Teil ihres Reizes aus, aber auch ihres Schreckens.
»Ich verstehe das nicht«, sagt John zu Elise. »Und Dinge, die ich nicht verstehe, gefallen mir nicht.«
Doch für die versammelten Insulaner bildet das Geheimnis um die Kleider und ihre verschwundenen Besitzer eine willkommene Abwechslung von den Gesprächen über das Wetter und das Wandern der Makrelen. Das kleine Gefängnis hat sich gefüllt, hat sich in einen aufregenden Ort verwandelt, in eine Bühne, auf der man sich einfinden kann, um seine Meinung kundzutun. Und wie typischerweise in solchen Situationen, haben diejenigen, die am wenigsten Bescheid wissen, das meiste zu sagen. Die staunenden Schulkinder sind sich schon einig, dass es Hexerei sein muss. Der Glaube an das Übernatürliche ist noch heute fester Bestandteil des Insellebens, und Samstagnacht war Vollmond, da sind die Hexen meistens am Werk. Angeblich trifft sich bei Ebbe eine große Gruppe am Grande Grève, dem längsten Strand der Insel, wo man hervorragend schwimmen kann.
Die Kleidungsstücke haben eine eigenartige Wirkung auf alle Anwesenden. Selbst so flach ausgebreitet scheinen sie eine Botschaft vermitteln zu wollen. An der Damenjacke fehlt ein Knopf. Der Herrenmantel ist voller Schlammflecken, und die Etiketten wurden herausgerissen. Was kann ihren Besitzern wohl zugestoßen sein? Vielleicht weiß Phyllis Carey es. Sie hat sich einen Weg ins Gefängnis gebahnt und steht nun neben ihrer Mutter. Wir dürfen sie übrigens nur Phyll nennen. Sie hasst ihren Namen und lastet ihn ihrer Mutter an. Sie lastet ihrer Mutter vieles an, aber dazu kommen wir später. Phyll ist zweiundzwanzig, gertenschlank und hat kräftige braune Haare, die sie kürzlich hat abschneiden lassen (ein Fehler, da sind wir uns alle einig). Sie ist gerade erst auf die Insel zurückgekehrt, nachdem sie einen äußerst respektablen Posten in Southampton aufgegeben hat; aus weniger respektablen Gründen, die sie noch nicht preisgeben will. Sie trägt ein narzissengelbes Kleid. Es hat kurze Ärmel und Perlmuttknöpfe auf der Vorderseite und ist zu luftig für Oktober. Das könnte ein Grund dafür sein, dass sie die zurückgelassenen Kleider so aufmerksam betrachtet. Der Damenblazer und der Rock sind aus beige meliertem Tweed und mit dem Etikett eines Schneiders aus Edinburgh versehen. Die Bluse ist aus pfirsichfarbener Seide und hat einen doppelrandigen Kragen. Phyll lässt die Hände über die Kleidungsstücke gleiten, dann nimmt sie die Bluse und hält sie vor sich in die Höhe. Einen Moment lang ist sie eine Frau in einem Geschäft, die sie anprobieren möchte.
Sie schaut John de Carteret nicht an, während sie seine Fragen beantwortet, doch sie versichert ihm, nein, sie habe in den letzten Tagen weder zwei Fremde mit einem Boot ankommen sehen, noch diese Kleider jemals zuvor zu Gesicht bekommen. Mit verträumten Blick wendet Phyll die Bluse auf diese und auf jene Seite, und ihre Mutter räuspert sich, als wäre ihr das peinlich. Elise hat John zuvor schon erklärt, dass sie das verschwundene Paar nicht gesehen habe. Das bedauert John sehr, denn Elise hat ein Talent dafür, Ereignisse vorauszuahnen, bevor sie passieren, und hätte sie die beiden gesehen, wären seine Probleme wahrscheinlich gelöst.
Phyll dreht sich um und zeigt die Bluse ihrer Mutter. »Ist sie nicht hübsch?«
Elise zieht die Brauen noch höher. Ihr gefallen elegante Kleider wie jeder anderen, aber weiblichen Inselbesuchern würde sie doch etwas Strapazierfähigeres empfehlen. Sarks Hecken sind genauso unsanft wie Sarks Felsen, und Sarks Ginsterbüsche gehören zu den dornigsten überhaupt. Wenn man unbedingt ein Kleid tragen muss, dann sollte es keinen überflüssigen Schnickschnack...