E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: DuMont Taschenbücher
Houellebecq Die Möglichkeit einer Insel
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8321-8917-4
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: DuMont Taschenbücher
ISBN: 978-3-8321-8917-4
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nur archaisch lebende Wilde bleiben nach der Klimakatastrophe vom Menschengeschlecht übrig. Und auch der Neo-Mensch hat überlebt - geklont und unsterblich. Daniel24 ist ein Neo-Mensch der vierundzwanzigsten Generation, der auf seinen genetischen Prototyp Daniel1 zurückblickt. Dieser Daniel1 war ein Mensch unserer Gegenwart: Er war Komiker und zynisch-scharfer Beobachter einer Gesellschaft, die längst alle Tabus gebrochen hatte. Aber sein Leben mit der schönen Isabelle war ihm nicht genug ... In >Die Möglichkeit einer Insel< befreit sich Michel Houellebecq von der Gegenwart und liefert den radikalen Entwurf einer Zukunft, in der sich die Menschheit selbst erledigt hat. »Houellebecq ist etwas Seltenes gelungen: die poetische Beschwörung einer unmittelbar drohenden Entmenschlichung.« ECKHART NICKEL, WELT AM SONNTAG
Michel Houellebecq wurde 1958 geboren. Er gehört zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart, seine Bücher werden in über vierzig Ländern veröffentlicht. Für den Roman >Karte und Gebiet< (2011) erhielt er den renommierten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt. Sein Roman >Unterwerfung< (2015) stand wochenlang auf den Bestsellerlisten und wurde mit großem Erfolg für die Theaterbühne adaptiert und verfilmt. Zuletzt erschien >Serotonin< (2019).
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Daniel 1,2 »Wenn man sieht, welchen Erfolg die Sonntage ohne Auto und die Spaziergänge auf den Uferstraßen haben, kann man sich gut vorstellen, wohin das führt …« Gérard – Taxifahrer Ich kann mich heute beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, warum ich meine erste Frau geheiratet habe; wenn ich ihr auf der Straße begegnete, würde ich sie vermutlich nicht einmal wiedererkennen. Manche Dinge vergißt man einfach, vergißt sie tatsächlich; die Annahme, daß alles im Gedächtnis gespeichert wird, ist ein Irrtum; manche, sogar die meisten Begebenheiten werden ganz einfach getilgt, sie hinterlassen keine Spur, als hätte es sie nie gegeben. Um auf meine Frau zurückzukommen, meine erste Frau jedenfalls, glaube ich sagen zu können, daß wir zwei oder drei Jahre zusammengelebt haben; als sie schwanger wurde, habe ich sie fast augenblicklich sitzen lassen. Ich hatte damals noch keinen Erfolg, und daher hat sie nur eine dürftige Unterhaltsrente bekommen. An dem Tag, an dem mein Sohn Selbstmord beging, habe ich mir Rührei mit Tomaten zubereitet. »Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe«, meint der Prediger Salomo zu Recht. Ich hatte dieses Kind nie geliebt: Es war so dumm wie seine Mutter und so gemein wie sein Vater. Sein Tod war wirklich keine Katastrophe; auf solche Menschenwesen kann man verzichten. Nach meinem ersten Auftritt vergingen zehn Jahre, die von sporadischen, ziemlich unbefriedigenden Abenteuern gekennzeichnet waren, ehe ich Isabelle kennenlernte. Ich war damals neununddreißig und sie siebenunddreißig; ich hatte großen beruflichen Erfolg. Als ich die erste Million Euro verdient hatte (damit meine ich, als ich sie wirklich verdient hatte, nach Abzug der Steuern und sicher angelegt), begriff ich, daß ich keine Figur aus Balzacs Romanen war. Eine Balzacsche Figur, die gerade eine Million Euro verdient hätte, würde darüber nachgrübeln, wie sie an die zweite Million herankommt, zumindest traf das auf die meisten von ihnen zu – mit Ausnahme der wenigen, die von dem Moment an zu träumen beginnen, in dem sie in zweistelligen Zahlen rechnen können. Ich dagegen fragte mich vor allem, ob ich meine Karriere nicht abbrechen könnte – ehe ich beschloß, es nicht zu tun. In den ersten Phasen meines Aufstiegs zu Ruhm und Reichtum hatte ich gelegentlich die Freuden des Konsums genossen, durch die sich unser Zeitalter den vorangegangenen so überlegen zeigt. Man konnte endlos die Frage wälzen, ob die Menschen in den früheren Jahrhunderten glücklicher waren als wir oder nicht; man konnte das Verschwinden der Religionen oder die Schwierigkeiten, sich zu verlieben, kommentieren, die Vor- und Nachteile dieser Entwicklung gegeneinander abwägen; konnte das Aufkommen der Demokratie, den Verlust des Sinns für das Heilige, den Zerfall der sozialen Bande anführen. Ich hatte es übrigens in vielen meiner Sketche, wenn auch in humoristischer Form, getan. Man konnte sogar den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in Frage stellen und den Verdacht äußern, daß die Verbesserungen in der Medizin zum Beispiel die soziale Kontrolle verstärkt und ganz allgemein die Freude am Leben verringert haben. Es ließ sich jedoch nicht leugnen, daß das 20. Jahrhundert auf dem Gebiet des Massenkonsums allen anderen Jahrhunderten überlegen war: In keiner anderen Zivilisation, zu keiner anderen Epoche hatte es etwas gegeben, das sich mit der Perfektion eines schnell reagierenden zeitgenössischen Einkaufszentrums vergleichen ließ, das auf Hochtouren lief. Ich hatte also mit dem Konsumrausch Bekanntschaft gemacht, vor allem was Schuhe anging, aber nach und nach verlor ich die Freude daran und begriff, daß mein Leben ohne dieses elementare, immer wieder erneuerte Vergnügen fortan nicht mehr so einfach sein würde. Zu der Zeit, als ich Isabelle kennenlernte, war ich bei etwa sechs Millionen Euro angelangt. Eine Balzacsche Figur würde sich in diesem Stadium eine Prachtwohnung kaufen, die sie mit Kunstgegenständen füllt, und sich wegen einer Tänzerin zugrunde richten. Ich wohnte in einer banalen Dreizimmerwohnung im 14. Arrondissement und hatte noch nie mit einem Top-Model geschlafen – hatte nicht mal die geringste Lust darauf verspürt. Ich hatte wohl nur einmal mit einem halbwegs bekannten Mannequin kopuliert; aber sie hat keinen unauslöschlichen Eindruck auf mich hinterlassen. Die Frau war nicht schlecht, hatte ziemlich große Brüste, aber auch nicht größer als viele andere; letztlich war ich nicht so gekünstelt wie sie. Das Gespräch fand in der Garderobe nach einem Auftritt statt, den man wohl als triumphal bezeichnen darf. Isabelle war damals Chefredakteurin von Lolita, nachdem sie lange bei 20 Ans gearbeitet hatte. Ich hatte anfangs keine große Lust auf dieses Interview. Beim Durchblättern der Zeitschrift war ich überrascht, was für ein unglaublich beknacktes Niveau die Zeitschriften für junge Mädchen hatten: T-Shirts in der Größe für Zehnjährige, weiße enge Shorts, der String, der auf allen Seiten hervorschaute, die kalkulierte Verwendung von Chupa-Chups … nichts fehlte. »Ja, aber sie sind seltsam positioniert …«, hatte die Pressefrau nachdrücklich gesagt. »Und die Tatsache, daß die Chefredakteurin persönlich kommt, ist doch, finde ich, ein gutes Zeichen …« Es scheint Leute zu geben, die nicht an die Liebe auf den ersten Blick glauben; auch wenn sie nicht immer buchstäblich durch den allerersten Blick ausgelöst wird, läßt sich nicht leugnen, daß man die gegenseitige Anziehung sehr schnell spürt; schon in den ersten Minuten, in denen ich mich mit Isabelle unterhielt, wußte ich, daß sich zwischen uns etwas abspielen und daß es eine lange Geschichte sein würde; ich wußte auch, daß ihr das klar war. Nach ein paar anfänglichen Fragen über Lampenfieber, die Methode, wie ich mich vorbereitete, usw., verstummte sie. Ich blätterte erneut die Zeitschrift durch. »Das sind doch keine richtigen Lolitas …«, bemerkte ich schließlich. »Sie sind sechzehn oder siebzehn.« »Ja«, räumte sie ein. »Nabokov hat sich um fünf Jahre geirrt. Den meisten Männern gefällt an den jungen Mädchen nicht die Zeit vor der Pubertät, sondern der Moment direkt danach. Wie auch immer, er ist kein besonders guter Schriftsteller.« Ich habe diesen mittelmäßigen, manierierten Pseudodichter auch nie ausstehen können, der Joyce so ungeschickt nachzuahmen versuchte und nicht einen Funken von dem Feuer hatte, das einen die gelegentliche Anhäufung von Schwerfälligkeiten bei dem verrückten Iren verzeihen läßt. Mich hat Nabokovs Stil immer an einen mißlungenen Blätterteig erinnert. »Ja«, fuhr sie fort, »aber wenn ein so schlecht geschriebenes Buch, das noch dazu durch einen groben Fehler hinsichtlich des Alters der Protagonistin gehandikapt ist, trotzdem als ausgezeichnetes Buch durchgeht, das sogar zu einem dauerhaften Mythos geführt und Eingang in die Umgangssprache gefunden hat, kann das nur heißen, daß der Autor an etwas Wesentliches gerührt hat.« Wenn wir uns über alles einig waren, drohte das Interview ziemlich langweilig zu wirken. »Vielleicht können wir die Diskussion beim Essen weiterführen …«, schlug sie vor. »Ich kenne ein tibetisches Restaurant in der Rue des Abbesses.« Wie bei allen ernsten Geschichten haben wir schon in der ersten Nacht miteinander geschlafen. Als sie sich auszog, wirkte sie erst ein wenig verlegen und dann plötzlich stolz: Ihr Körper war unglaublich straff und geschmeidig. Erst viel später sollte ich erfahren, daß sie siebenunddreißig war; im ersten Augenblick schätzte ich sie auf höchstens dreißig. »Was tust du, um dich so in Form zu halten?« fragte ich. »Klassisches Ballett.« »Kein Stretching, Aerobic oder so was Ähnliches?« »Nein, das ist alles völliger Humbug; das kannst du mir glauben, ich arbeite schließlich nicht umsonst seit zehn Jahren für Frauenzeitschriften. Das einzige, was wirklich Effekt hat, ist klassisches Ballett. Aber das ist ganz schön hart, das erfordert eiserne Disziplin; doch das stört mich nicht, ich bin ziemlich rigide.« »Was, du und rigide?« »Ja, ja … du wirst schon sehen.« Wenn ich an Isabelle zurückdenke, dann wundert mich vor allem, wie offen und ungezwungen unsere Beziehung von Anfang an war, sogar was Themen anging, die Frauen im allgemeinen lieber mit einem Schleier des Geheimnisses umgeben, weil sie in dem Irrglauben sind, daß Geheimnisse den erotischen Reiz einer Beziehung steigern, dabei finden die meisten Männer eine direkte sexuelle Anmache viel aufreizender. »Es ist nicht sehr schwer, einen Mann zum Orgasmus zu bringen …«, hatte sie beim Abendessen in dem tibetischen Restaurant halb im Spaß, halb im Ernst zu mir gesagt. »Mir ist es auf jeden Fall immer gelungen.« Und damit hatte sie recht. Sie hatte ebenfalls recht, wenn sie behauptete, daß dieses Geheimnis nichts Besonderes und auch nichts Seltsames hat. »Man darf nur nie vergessen«, fuhr sie seufzend fort, »daß Männer auch einen Sack haben. Daß sie einen Pimmel haben, das wissen die Frauen nur zu gut, denn seit die Männer zu einem Sexualobjekt herabgewürdigt worden sind, interessieren sich die Frauen nur noch für den Pimmel; aber wenn sie mit einem Typen schlafen, vergessen sie fast immer, daß auch die Eier ein höchst empfindliches Organ sind. Egal, ob es sich um eine Masturbation, eine Penetration oder um eine Lutschpartie handelt, ab und an...