E-Book, Deutsch, 430 Seiten
Houellebecq Interventionen 1992-2020
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8321-8241-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 430 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8241-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vielen seiner Bewunderer gelten Michel Houellebecqs Essays als sein eigentliches Hauptwerk: Sie sind Houellebecq pur, die Essenz seines Schaffens. Literatur, Religion, Glaube, Meinungsfreiheit, Konservatismus, Liebe – das sind die Themen, mit denen sich Michel Houellebecq seit jeher beschäftigt. In diesen Texten, die mal provozieren, immer intellektuell anregen, führt er uns wie so oft die Mittelmäßigkeit und Absurdität des menschlichen Daseins vor Augen. Was Houellebecq in seinen Essays betreibt, ist keine Sozial- und Kulturkritik – es ist nicht weniger als Weltkritik.
Das Kompendium verbindet die Einzelbände ›Die Welt als Supermarkt‹ (2000), ›Ich habe einen Traum. Neue Interventionen‹ (2010) und ›Ein bisschen schlechter‹ (2020). Letzterer ist damit erstmals als Taschenbuch erhältlich.
Weitere Infos & Material
1 An manchen Montagen Ende November oder Anfang Dezember fühlt man sich, besonders als Alleinstehender, wie im Todestrakt. Die Sommerferien sind längst vorbei, das neue Jahr ist noch weit weg; das Nichts ist ungewohnt nah. Am Montag, dem 23. November, beschloss Bastien Doutremont, mit der Métro zur Arbeit zu fahren. Als er an der Haltestelle Porte de Clichy ausstieg, stand er dem Schriftzug gegenüber, von dem ihm in den vergangenen Tagen mehrere seiner Kollegen erzählt hatten. Es war kurz nach zehn Uhr, der Bahnsteig war menschenleer. Seit seiner Jugend interessierte er sich für die Graffiti der Pariser Métro. Er fotografierte sie oft mit seinem veralteten iPhone – inzwischen war man wohl bei der 23. Generation angelangt, er war immer noch bei der elften. Er sortierte die Fotos nach Haltestellen und Linien, auf seinem Computer waren ihnen zahlreiche Ordner gewidmet. Es war ein Hobby, wenn man so will, aber er bevorzugte die prinzipiell ansprechendere, eigentlich aber brutalere Bezeichnung Zeitvertreib. Eines seiner liebsten Graffiti war im Übrigen der Schriftzug mit den präzisen schräg gestellten Buchstaben, den er in der Mitte eines langen weißen Gangs an der Haltestelle Place d’Italie entdeckt hatte und der energisch verkündete: »Die Zeit wird nicht vergehen!« Die Plakate der Aktion »Poésie RATP« mit ihrer Zurschaustellung belangloser Einfältigkeiten, die eine Zeit lang sämtliche Pariser Haltestellen überflutet und sich vermittels Kapillarwirkung sogar bis in einige Züge hinein ausgebreitet hatten, hatten bei den Fahrgästen mehrfach zu unausgewogenen, wütenden Reaktionen geführt. So hatte er an der Haltestelle Victor Hugo den folgenden Spruch entziffern können: »Ich beanspruche den Ehrentitel des Königs von Israel. Ich kann nicht anders.« An der Haltestelle Voltaire war das Graffito brachialer und aufgeregter: »Endgültige Botschaft an alle Telepathen, an alle Stéphanes, die versucht haben, mein Leben durcheinanderzubringen: Die Antwort ist NEIN!« Der Schriftzug an der Haltestelle Porte de Clichy war genau genommen gar kein Graffito: In gewaltigen dicken, mit schwarzer Farbe aufgemalten Buchstaben von zwei Metern Höhe erstreckte er sich über die gesamte Länge des Bahnsteigs in Richtung Gabriel Péri-Asnières-Gennevilliers. Selbst im Vorbeigehen auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig hatte er es nicht geschafft, ihn ganz aufs Bild zu bekommen, aber er hatte den gesamten Text entziffern können: »Es überleben die Monopole/Im Herz der Metropole«. Das war nicht sehr beunruhigend und nicht einmal besonders eindeutig; dennoch gehörte es zu den Dingen, die geeignet waren, das Interesse des Inlandsgeheimdienstes DGSI zu erwecken, so wie all die mysteriösen, vage bedrohlichen Mitteilungen, die seit einigen Jahren in den öffentlichen Raum eindrangen und sich keiner eindeutig identifizierbaren politischen Gruppierung zuordnen ließen und deren spektakulärstes und besorgniserregendstes Beispiel die Botschaften im Internet waren, mit deren Entschlüsselung er derzeit beauftragt war. Auf seinem Schreibtisch fand er den Bericht des lexikologischen Labors; er war mit der ersten Zustellung am Morgen gekommen. Bei der Untersuchung der bestätigten Botschaften hatte man dreiundfünfzig Zeichen unterscheiden können – alphabetische Zeichen und keine Ideogramme; durch die Abstände hatten sich diese Zeichen in Wörter unterteilen lassen. Daraufhin hatte man sich um eine Bijektion mit einem bestehenden Alphabet bemüht und es zunächst mit dem französischen versucht. Dabei schien es unverhoffte Übereinstimmungen zu geben: Fügte man den sechsundzwanzig Grundbuchstaben diejenigen mit Akzenten, Ligaturen oder Cedillen hinzu, erhielt man zweiundvierzig Zeichen. Herkömmlicherweise zählte man darüber hinaus elf Interpunktionszeichen, was insgesamt dreiundfünfzig Zeichen ergab. Die Experten sahen sich also mit einem klassischen Entschlüsselungsproblem konfrontiert, das darin bestand, eine eindeutige Übereinstimmung zwischen den Zeichen der Botschaft und denen des erweiterten französischen Alphabets herzustellen. Bedauerlicherweise stellten sie nach zwei Wochen Arbeit fest, dass sie in eine Sackgasse geraten waren: Mit keinem der bekannten Entschlüsselungssysteme hatte sich irgendeine Entsprechung herstellen lassen; seit der Gründung des Labors passierte das zum ersten Mal. Botschaften über das Internet zu verbreiten, die niemand zu lesen vermochte, war offensichtlich ein absurdes Unterfangen, die Botschaften mussten an irgendjemanden gerichtet sein; aber an wen? Er stand auf, machte sich einen Espresso und trat mit seiner Tasse in der Hand an die Glasfront. Die Wände des Landgerichts warfen ein blendend helles Licht zurück. Er hatte in diesem unstrukturierten Nebeneinander riesenhafter Quader aus Glas und Stahl, die über einer morastigen und trostlosen Landschaft aufragten, nie irgendeinen besonderen ästhetischen Wert erkennen können. In jedem Fall hatten sich die Planer nicht Schönheit und nicht einmal wirklich Charme, sondern vielmehr die Zurschaustellung eines gewissen technischen Könnens zum Ziel gesetzt – als ginge es vor allem darum, bei etwaigen außerirdischen Besuchern Eindruck zu schinden. Bastien hatte die historischen Gebäude am Quai des Orfèvres 36 nicht gekannt und dachte daher im Gegensatz zu seinen älteren Kollegen auch nicht wehmütig an sie zurück, doch dieses Viertel im sogenannten »neuen Clichy« bewegte sich mit jedem Tag unübersehbar weiter auf eine städtische Katastrophe in Reinform zu; das Einkaufszentrum, die Cafés und die Restaurants, die im ursprünglichen Bebauungsplan vorgesehen gewesen waren, waren nie verwirklicht worden, und tagsüber außerhalb des Arbeitsumfelds zu entspannen, war an dem neuen Standort nahezu unmöglich; dafür gab es keinerlei Schwierigkeiten beim Parken. Fünfzig Meter weiter unten fuhr ein Aston Martin DB11 auf den Besucherparkplatz; Fred war also angekommen. Dieses Festhalten an den überkommenen Reizen des Verbrennungsmotors war bei einem Geek wie Fred, der sich konsequenterweise einen Tesla hätte kaufen müssen, ein merkwürdiger Zug – mitunter blieb er minutenlang im Wagen sitzen und ließ sich vom Schnurren des V12 einlullen. Schließlich stieg er aus und warf die Tür hinter sich zu. Die Sicherheitsmaßnahmen am Empfang eingerechnet, würde er in zehn Minuten da sein. Er hoffte, Fred würde Neuigkeiten haben; ehrlich gesagt, war das sogar seine letzte Hoffnung, wollte er in der nächsten Sitzung über irgendwelche Fortschritte berichten. Als sie sieben Jahre zuvor auf Vertragsbasis von der DGSI eingestellt worden waren – mit einem mehr als komfortablen Gehalt für junge Leute ohne irgendein Diplom, ohne jegliche Berufserfahrung –, hatte sich das Einstellungsgespräch auf eine Demonstration ihrer Fähigkeit zum Hacken verschiedener Internetseiten beschränkt. Sie hatten den etwa fünfzehn anwesenden Vertretern der Untersuchungseinheit für Computer- und Netzwerkkriminalität BEFTI und anderer technischer Abteilungen des Innenministeriums erklärt, wie sie nach dem Eindringen in das Identifikationsportal mit einem einzigen Klick eine Krankenversicherungskarte hatten deaktivieren oder wieder aktivieren können; wie sie vorgegangen waren, um das Regierungsportal für die Online-Steuererklärung zu hacken und von dort aus ganz einfach die Höhe der angegebenen Einkommen zu ändern. Sie hatten ihnen sogar vorgeführt – dieses Verfahren war schwieriger, die Codes wurden regelmäßig geändert –, wie sie, hatten sie sich erst einmal Zugang zur automatisierten nationalen Datenbank für genetische Fingerabdrücke verschafft, ein DNS-Profil verändern oder löschen konnten, selbst wenn es sich um einen bereits verurteilten Straftäter handelte. Das Einzige, was sie lieber verschwiegen, war ihr Eindringen in das IT-System des Kernkraftwerks Chooz. Innerhalb von achtundvierzig Stunden hatten sie die Kontrolle über das System erlangt und konnten einen Notfallunterbrechungsprozess des Reaktors in Gang setzen und damit mehreren französischen Départements den Strom abdrehen. Einen schwerwiegenden atomaren Zwischenfall hätten sie dagegen nicht auslösen können – das Vordringen zum Reaktorkern verhinderte ein Verschlüsselungscode von 4096 Bits, den sie noch nicht geknackt hatten. Fred hatte ein neues Crackprogramm, das er gern angewandt hätte; aber an diesem Tag waren sie sich einig gewesen, dass sie vielleicht zu weit gegangen waren; sie hatten sich zurückgezogen, hatten alle Spuren ihres Eindringens gelöscht und nie wieder darüber gesprochen – weder mit irgendjemand anderem noch miteinander. Nachts hatte Bastien einen Albtraum gehabt, in dem er von monströsen Chimären verfolgt wurde, die aus lauter verwesenden Neugeborenen zusammengesetzt waren; am Ende des Traums war ihm der Reaktorkern erschienen. Sie hatten einige Tage verstreichen lassen, ehe sie sich wieder getroffen hatten, nicht einmal miteinander telefoniert hatten sie, und wahrscheinlich war das der Moment gewesen, in dem sie erstmals in Betracht gezogen hatten, sich in den Dienst des Staats zu stellen. Für sie, deren Jugendhelden Julian Assange und Edward Snowden gewesen waren, war es alles andere als selbstverständlich, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, aber Mitte der 2010er-Jahre herrschten besondere Umstände: Die französische Bevölkerung hatte in der Folge mehrerer islamistischer Mordanschläge begonnen, ihre Polizei und ihre Armee zu unterstützen und ihnen sogar eine gewisse Wertschätzung entgegenzubringen. Fred jedoch hatte seinen Vertrag mit der DGSI am Ende des vergangenen Jahres nicht...