E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Hoyer / Kries / Stederoth Was ist Popmusik?
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-534-74289-9
Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg)
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-534-74289-9
Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg)
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Das Phänomen Popmusik erfreut sich in Philosophie, Musik-, Literatur-, Medien- und Sozialwissenschaft einer lebhaften Debatte. Dennoch sind eine ganze Reihe von grundlegende Fragen, die die Popmusik im Kern betreffen, noch weitgehend offen: Welche Abgrenzungskriterien lassen sich für Popmusik gegenüber anderer Musik - etwa Klassik, Jazz, Schlager, Volksmusiken - bestimmen? Gibt es sie in allen Genres oder ist Popmusik ein eigenes Genre? Zeichnet sie sich durch spezifische Gehalte aus? Verlangt Popmusik eine bestimmte Aufführungspraxis? Ist Popmusik primär ein soziales oder musikalisches Phänomen? Gibt es ästhetische Kriterien für eine Unterscheidung zwischen gut und schlecht? Welchen Einfluss haben Publikum und Kulturindustrie auf das popmusikalische Geschehen? Diese und noch viele weitere Fragen beantworten die Autoren des Bandes. Interdisziplinär und facettenreich beleuchten sie das Wesen der Popmusik und machen dadurch ihre ganze schillernde Vielfalt sichtbar.
Timo Hoyer studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie und Neuere deutsche Literatur in Frankfurt am Main. Für seine Dissertation wurde er 2001 mit dem Georg-Forster-Preis der Universität Kassel ausgezeichnet. Anschließend habilitierte er ebenfalls an der Universität Kassel. Nach seiner Ernennung zum Privatdozenten im Jahr 2005 wechselte er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Sigmund-Freud-Institut nach Frankfurt am Main. 2011 wurde er von der Universität Kassel zum außerplanmäßigen Professor ernannt, 2013 erfolgte die Umhabilitation an die Pädagogische Hochschule Karlsruhe, wo er derzeit als apl. Professor lehrt und forscht. Carsten Kries studierte Geschichte, Psychologie, Musikwissenschaft, Soziologie und Philosophie in Göttingen und Kassel. Seit 2014 ist er Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Philosophie der Universität Kassel. Dirk Stederoth studierte Philosophie und Soziologie an der Universität Kassel und promovierte dort mit einer Arbeit über Hegels 'Philosophie des subjektiven Geistes'. Seit 2014 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel. Stefan Greif studierte Germanistik, evangelischen Theologie und Philosophie an der Universität Siegen. Er war Hochschuldozent im Fach Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn und hatte Lehrstuhlvertretungen in Paderborn und an der Universität Flensburg. Seit 2007 ist er Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Kassel. Thomas Phleps ist Professor für Musikpädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Musiken und musikalischen Umweltverhältnissen des 20. Jahrhunderts, der musikpädagogischen Auseinandersetzung mit projekt- bzw. themenorientierten Handlungskonzepten, den Strategien institutionalisierter Musikpädagogik und auf populärem Terrain. Er ist Vorstandsmitglied im Arbeitskreis Studium Populärer Musik (ASPM) resp. der Gesellschaft für Popularmusikforschung (GfPM).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Daniel Martin Feige
Über das Wesen der Popmusik
Was ist das Wesen der Popmusik? In zwei Schritten werde ich im Folgenden eine Antwort auf diese Frage formulieren. In einem ersten Schritt möchte ich die durchaus kontroverse Redeweise von einem „Wesen“ verteidigen. Das ist dann möglich, wenn man sie weder im Sinne einer empirischen Definition, noch im Sinne einer klassischen, am Erbe von Aristoteles orientierten Wesensdefinition versteht, sondern demgegenüber im Sinne einer retroaktiven Wesensbestimmung. Der erste Teil verfolgt damit insgesamt das Ziel, die logische Form dessen abzustecken, was überhaupt als Antwort auf die Frage, was Popmusik ist, in Frage kommen kann. Im zweiten Teil werde ich daraufhin primär unter musikontologischer Perspektive eine inhaltliche Antwort formulieren. Eine solche musikontologische Perspektive verstehe ich nicht als Suche nach einer unsere Praxis des Sprechens und Erfahrens übersteigende musikalische Tiefengrammatik, sondern vielmehr als Frage nach Momenten, die dieses Sprechen und Erfahren erst systematisch verständlich machen. Dabei werde ich die Begriffe Werk, Performance und Aufnahme als musikontologische Grundbegriff ausweisen und zugleich fragen, welche Rolle sie jeweils in der Tradition der europäischen Kunstmusik, des Jazz und des Pop spielen. Die leitende These ist, dass im Pop die Aufnahme von besonderer Relevanz ist. Empirisch, primordial oder retroaktiv?
Ich möchte in diesem ersten Teil noch keine inhaltliche Antwort auf diese Frage, was Popmusik ist, formulieren, sondern zunächst vielmehr drei logische Formen von Antworten unterscheiden: Die erste besteht in einer empirischen Definition (i), die zweite in einer primordialen Wesensdefinition (ii), die dritte schließlich in einer retroaktiven Wesensbestimmung (iii). Zugleich werde ich zeigen, dass die dritte logische Form sich aus einer Kritik der Probleme der ersten beiden ergibt. Zuvor ist es aber wichtig, einige Festlegungen zu klären, die meinen Gebrauch des Begriffs „Popmusik“ betreffen. Mindestens zwei Ausgangspunkte lassen sich bestimmen. Einerseits lässt sich dieser Begriff so deuten, dass das, was unter ihn fällt, entweder anhand der Funktion bestimmter Arten von Musik und/oder anhand des Grades der Verbreitung bestimmter Arten von Musik definiert wird. Eine solche Erläuterung würde Popmusik als Musik bestimmen, die keine Gattung oder Tradition sui generis wäre, sondern bestimmte Werke, Darbietungen, Stile usf. aller musikalischen Traditionen meinen würde. Der 1930er Jahre Big Band Swing wäre ebenso wie die Musik von Johann Strauss Popmusik. An einem solchen Verständnis von Popmusik ist aber problematisch, dass wir hier wohl eher von Popularmusik und nicht von Popmusik sprechen würden. Zugleich wäre zumindest im Fall von Strauss und vergleichbaren Komponisten in der Tradition europäischer Kunstmusik eine entsprechende Debatte um den Begriff der Popmusik mit einer Debatte um die Frage nach leichter und ernster Musik, nach Unterhaltungsmusik und Kunstmusik amalgamiert. Auch wenn der Unterschied zwischen Musik, die Kunstcharakter beanspruchen kann und solcher, die das nicht kann, von großer Relevanz ist: Die These wäre problematisch, dass Popmusik per se schon jenseits der Kunst läge (HINDRICHS 2014, Einleitung behauptet das). Denn die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst liegt quer zu der Einteilung von Traditionen musikalischer Praxis. Damit ist bereits die Alternative benannt, wie sich auch über Popmusik nachdenken lässt – eine Alternative, der ich im Folgenden verpflichtet bin: Popmusik kann selbst als eine bestimmte Tradition musikalischer Praxis begriffen werden (mit Blick auf den Jazz als Verteidigung dieser These auch FEIGE 2014, Kapitel 4). Das heißt auch, dass Popmusik eine bestimmte Art von Musik ist, die sich von anderen Arten von Musik unterscheidet (vgl. kontrastiv dazu DIEDERICHSEN 2014, Einleitung). Damit stellt sich die Frage, was diese Art von Musik von anderen Arten von Musik unterscheidet. Nach dieser Vorbemerkung komme ich nun zu den drei genannten logischen Formen, im Rahmen derer eine Antwort auf diese Frage formuliert werden könnte. Eine herkömmliche Antwort auf die Frage, was Popmusik ist, besteht in einer empirischen Definition (i). Unter einer solchen Definition verstehe ich die Suche nach jeweils notwendigen und zusammen hinreichenden Eigenschaften, die trennscharf Popmusik und nur Popmusik von Arten von Musik und sonstigen Gegenständen der Welt herauszugreifen erlauben (vgl. dazu auch KANIA 2011b). Empirisch ist eine solche Definition von Popmusik, weil sie nach Eigenschaften fragt, die von allen tatsächlichen popmusikalischen Gegenständen exemplifiziert werden. Entdecken wir Musik, die mit der gegebenen Definition nicht kompatibel ist und die wir dennoch unzweideutig als Popmusik charakterisieren würden, so müssen wir die entsprechende Definition verändern. Eine solche Definition kann in verschiedenen Hinsichten scheitern: Sie kann zu inklusiv sein und entsprechend zu vieles einschließen, wie sie zu exklusiv sein kann und entsprechend zu vieles ausschließen kann. Man könnte freilich mutmaßen, dass eine Definition anhand jeweils notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen hinsichtlich ihrer Extension nicht unbedingt so verstanden werden muss, dass sie alle existierenden – und das heißt auch: vergangene wie zukünftige – popmusikalischen Gegenstände herausgreift. Anstelle dessen könnte sie auch so verstanden werden, dass sie nur paradigmatische popmusikalische Gegenstände herausgreift. Letztlich ist aber eine solche Reformulierung Augenwischerei. Es müssten hier nämlich auch wieder jeweils notwendige und zusammen hinreichende Eigenschaften genannt werden, die für alles, was paradigmatisch sein soll, gelten – wenn man etwa Van Halen berücksichtigt, aber nicht Sting, etwa David Bowie, aber nicht R.e.m. Ebenfalls Augenwischerei wäre es, eine solche Definition nicht länger als deskriptive, sondern als präskriptive verstehen zu wollen: Man würde dann gar nicht länger definieren, was bestehende popmusikalische Gegenstände wären, sondern die Grenzen des Begriffs anhand stipulativer Bedingungen neu ziehen. Ich bin der Auffassung, dass der gesamte Versuch, Popmusik derart zu definieren, zum Scheitern verurteilt ist. Das wäre selbst dann noch der Fall, wenn eine solche Definition kontrafaktischer Weise zu einem bestimmten Zeitpunkt für alle geltende Popmusik gefunden werden könnte. Denn das in einer solchen Definition investierte Verständnis des Zusammenhangs von Begriff und Gegenstand oder auch Allgemeinem – Pop – und Besonderem – David Bowie, Van Halen, Sting und R.e.m. – ist problematisch. Zwei Einwände können das zeigen – Einwände, die meines Erachtens auch für die produktiven Weiterentwicklungen bzw. internen Überwindungen dieses herkömmlichen Verständnisses von Definition gelten, da diese negativ auf ein solches bezogen bleiben und dessen Problem gewissermaßen mitschleppen (vgl. v.a. WITTGENSTEIN 2003, 56ff., WEITZ 2002, GAUT 2002; systematisch zu einer Erweiterung der folgenden Kritik auch auf diese Positionen FEIGE 2015, Kapitel 2). Als erster Einwand ist festzuhalten, dass eine entsprechende empirische Definition die Gegenstände, die sie exemplifizieren, immer als austauschbare Fälle der Definition behandelt. Der Unterschied von David Bowie und Sting spielt für die Frage, ob es sich bei ihnen um Popmusik handelt, keine Rolle – handelt es sich bei ihnen um Popmusik, handelt es sich bei ihnen in genau derselben Weise um Popmusik. Ein solch gewissermaßen monotones Verständnis von Gegenstand und Begriff ist problematisch: Eine Explikation von Popmusik sollte in irgendeiner Weise entsprechende Unterschiede in der Definition selbst zur Geltung bringen können. Das sollte dabei nicht derart geschehen, dass von einem definitorischen Kern von Eigenschaften ausgegangen wird und von weiteren, für die Definition irrelevanten Eigenschaften, die unterschiedliche popmusikalische Gegenstände exemplifizieren. Die Unterscheidung von konstitutiven wie kontingenten Eigenschaften würde nämlich ein problematisches Verständnis von popmusikalischen Gegenständen voraussetzen: Sie würde diese nicht länger als ästhetische Gegenstände behandeln. Ästhetische Gegenstände sind holistisch konstituiert (vgl. dazu ADORNO 1973, etwa 205ff.; als unterschiedliche Weiterentwicklungen dieses Gedankens auch MENKE 2008 und BERTRAM 2014): Ihre verschiedenen Elemente stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Konstitution; sie können nicht wie austauschbare Atome von einem Gegenstand in einen anderen verfrachtet werden, ohne dass sich der Charakter des letzteren insgesamt ändern würde. Aus der Tatsache, dass zwei Popsongs dieselbe harmonische Struktur aufweisen, folgt entsprechend nicht sonderlich viel – denn Instrumentierung, Rhythmik, aber vor allem auch Sound, Geste (vgl. dazu DIEDERICHSEN 2014, v.a. Teil zwei) und Aspekte der Musikproduktion gehen in das ein, was der jeweilige Popsong ist. Kurz gesagt: Eine Definition von...