Hüther | Abschied von der Öffentlichkeit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Hüther Abschied von der Öffentlichkeit

Eine kurze Theorie vom Ende der Moderne

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-451-82996-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Michael Hüther, Ökonom und Historiker, wirft einen Blick auf unsere Gegenwart und ihre gefährdeten Grundlagen. Für Hüther droht akut der Verlust von Modernisierungserfolgen der vergangenen zwei Jahrhunderte. Denn es gibt, so Hüther, verstärkt durch die fundamentalen Krisen der letzten Jahre, eine Erosion des öffentlichen Raums als Ort der Kommunikation und des Gesprächs, aber auch der wirtschaftlichen Geschäfts- und Austauschbeziehungen. Der öffentliche Raum war immer beides: Agora und Markt. Wenn wir uns alle immer weiter ins Private zurückziehen, stehen unsere politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen zur Disposition.
Ein großartiger Essay über die Veränderung des öffentlichen Raums und seine notwendige Sicherung und Neubestimmung.
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[Die Großstadt] ist mehr als nur der Ort oder das Laboratorium der Moderne. Denn sie ist nicht allein der Platz, an dem sich bestimmte Phänomene wie Geldwirtschaft und Konsumgesellschaft am frühesten ausbilden, sondern zugleich der Ort, an dem – am prominentesten in den Künsten – eine spezifisch moderne Wahrnehmungsweise entsteht. Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne, 2014 II. Im Maschinenraum der Moderne: Voraussetzungen und Bedingungen des öffentlichen Raums
Zwei begriffliche Konzepte stehen hier zur Diskussion: Moderne und Maschinenraum. Der Maschinenraum kann als mobilitätsbezogene Metapher gedeutet werden, denn ursprünglich findet sich der Begriff im Zusammenhang mit Schiffen und anderen Formen technikgetriebener Mobilität wie Lokomotiven. Maschinen werden eingesetzt, um in zielgerichteter Weise Energie für Bewegung zu produzieren. Maschinenräume sind Kinder der industriellen Revolution und damit eine Voraussetzung für die Modernisierung der vergangenen zwei Jahrhunderte. Die Moderne beschreibt einen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebensraum als Ergebnis dieser Modernisierung, und sie schafft neue Formen der Wahrnehmung sowie Möglichkeiten, die Welt anzuschauen und sich anzueignen. In den Gesellschaftswissenschaften, aber auch in der Geschichtswissenschaft ist das Konzept der Moderne konzeptualisiert und diskutiert worden. Dabei ist ebenso allgemein von »Moderne« die Rede, wenn die großen Linien gesellschaftlichen Wandels der letzten zweihundert Jahre thematisiert werden, als auch von »klassischer Moderne«, »Postmoderne«, »anderer Moderne«, »zweiter Moderne«, »Welt-Moderne«, »flüchtiger Moderne«, »verrufener Moderne« oder »Spätmoderne«, wenn speziellere Pfade oder spätere Zeiträume in den Blick genommen werden sollen. Moderne soll im Weiteren als Epochenbegriff verwendet werden, der die großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Trends seit der Epochenschwelle von 1750 bis 1850 – verbunden mit Reinhart Kosellecks Begriff der »Sattelzeit«, mit dem er in Anknüpfung an die Metapher eines Bergsattels den Übergang von der Vormoderne in die Moderne beschrieb – bündelt und deren gemeinsame Stoßrichtung herausdestilliert: die historisch bewusste, gesellschaftlich organisierte und politisch gerahmte Selbstermächtigung des Menschen im öffentlichen Raum bei gleichzeitiger Abgrenzung, Stärkung und Sicherung der Privatheit. Dieser Zugewinn an Kompetenz und Freiheit und damit das Hineinwachsen in die doppelgründige Wirklichkeit der Moderne als objektive Gegebenheit und als subjektive Aneignung sowie Deutung ist immer stärker Ambiguitäten ausgesetzt, die sich aus den technischen und prozessualen Bedingungen der Moderne, genauer des Lebens in der Moderne ergeben. Das verbirgt sich hinter den verschiedenen angeführten begrifflichen Konzepten. Daraus folgen Trends, die die Moderne aus sich selbst heraus unter Druck setzen, Herausforderungen und Gefährdungen sowie eine Überforderung des Individuums in der Freiheit begründen. 1. Die bürgerliche Selbstermächtigung des Menschen
Selbstermächtigung setzt voraus, dass die Menschen sich selbst gewiss werden, dass sie ihren Lebenslauf nicht mehr (nur) als vorbestimmt ansehen und dass sie sich auf organisierte sowie gesicherte öffentliche Räume verlassen können. Erst das langsame kollektive Durchbrechen der gläsernen Decke des Standesdenkens eröffnet die Perspektive auf eine freie Gestaltung des eigenen Lebens. Dadurch wird offenbar, dass die Selbstermächtigung nicht nur als individuelle Herausforderungen erscheint, sondern ebenso als kollektive Leistung. Der Einzelne wird erst in der modernen bürgerlichen Gesellschaft wirklich zum Akteur, weil neue, leicht zugängliche Kommunikationsmedien um ihrer selbst willen entstehen (wie Zeitungen und Informationsschriften als Wissensspeicher), weil Kunst, Theater und Wissenschaft aus höfischen Bezügen befreit werden; es kommt »zu einem Bedeutungsaufschwung öffentlicher Verständigung«.1 Damit wird der Blick auf die Voraussetzungen für den Einzelnen ebenso gerichtet wie auf die historische Bedingtheit des Daseins. In diesem Sinne ist der Begriff der »bürgerlichen Selbstermächtigung« zu verstehen. Geistesgeschichtlich greift die Selbstermächtigung des Menschen weit zurück, nämlich auf die Gesinnungsfreiheit im Verständnis Martin Luthers und auf die politische Freiheit im Sinne von Thomas ­Hobbes. Beide haben im Zusammenspiel mit den späteren politischen und ökonomischen Revolutionen neue Handlungsräume eröffnet und neue Handlungsmöglichkeiten geschaffen. »Was der Protestantismus auf spirituellem Gebiet zur Befreiung des Menschen begann, hat der Kapitalismus auf geistig-seelischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet fortgeführt. […] Die individuelle Beziehung zu Gott war die psychologische Vorbereitung für den individuellen Charakter der weltlichen Betätigung des Menschen.«2 Doch zugleich wurde die Überforderung des Menschen in der Freiheit, sein »Doppelgängertum« (Plessner), erlebbar. Die mit der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit eingeläutete, durch die Reformation mitbetriebene und in der politischen Philosophie reflektierte Neubestimmung des Menschen hat nicht nur die Potenziale deutlich gemacht, sondern ebenso die Herausforderungen, Überforderungen und Konflikte. Die Freiheit als absolute, nicht kompensierbare Anforderung an den einzelnen Menschen ist nur zu bewältigen, wenn es zugleich Mechanismen und Strukturen der partiellen Entlastung gibt, die selbst allerdings wiederum durch formale und anonyme Ordnung als Zumutung erscheinen. Der Mensch sucht deshalb nach besonderen Räumen der Unbelangbarkeit, weil es in der westlichen Moderne eine Befreiung von der Freiheit nicht geben kann. Er braucht diese Entlastung, um die Fähigkeit zur Freiheit zu entwickeln. Er braucht sie umso mehr, weil mit der Aufklärung der Mensch selbst in die Verantwortung für die Welt geriet.3 Raum für Verantwortungsfähigkeit entsteht im bürgerlichen Miteinander, in der konkreten Lebensumgebung dort, wo die Moderne organisiert und gelebt werden kann: in den Städten europäischen Typs. Dabei handelt es sich um Städte, die topografisch und historisch bis heute einzigartig geprägt sind, weil sie vom Zentrum her entstanden, hochverdichtet auf kleiner Fläche eine große Vielfalt von öffentlichen Einrichtungen und öffentlichen Räumen verbinden. Die Innenstadt ist kompakt gestaltet, verbindet alle zentralörtlichen Funktionen und beinhaltet die denkmalpflegerisch aufwendig gestalteten weltlichen und kirchlichen Repräsentationsbauten; der Bodenwert ist dort regelmäßig am höchsten; die Straßenführung ist eng und zumeist komplex; die Mehrgeschossbauweise nahm seit der Industrialisierung zu und führte zu einer vorher nicht gekannten Trennung der Arbeits- und Wohnfunktion von Gebäuden.4 Für den Bedeutungszuwachs der europäischen Städte kam seit der revolutionären Epoche vieles zusammen. Während Reformation und Aufklärung auf der geistesgeschichtlichen Seite stehen, ermöglichten realgeschichtliche Innovationen in der Landwirtschaft (Fruchtwechselwirtschaft, bessere landwirtschaftliche Geräte) und neue Formen der Lebensgestaltung (Wegfall der Heiratsverbote), dass die Bevölkerungsentwicklung aus der Malthusianischen Falle – jede dynamischere Bevölkerungsentwicklung gerät schnell an die Grenzen der nur linear sich entwickelnden Ernährungsbasis – ausbrechen und das Leben in Städten an Bedeutung für viele Menschen gewinnen konnte. Das Pro-Kopf-Einkommen begann in den fortschrittlichen Ökonomien kontinuierlich zu steigen, Bevölkerungszunahme und Produktivitätsanstieg griffen auf zuvor unbekannte Weise ineinander. Gewerbebetriebe mit einer neuen räumlichen Organisation der Produktion traten in den Mittelpunkt und beförderten den Handel; der technische Wandel ermöglichte Massenproduktion. All das erforderte erhebliche Anstrengungen zur Entwicklung der Energieversorgung und der Verkehrsinfrastruktur, was wiederum neue Potenziale schuf. Eine besondere Bedeutung erlangte der Ausbau der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert. Damit wurden Raumerschließung, Raumüberwindung und Zeitmanagement in neuer Qualität für grundsätzlich jeden zugänglich. Die Menschen erlebten ungeahnte Gewinne an selbstbestimmter Zeit, weil die Steigerung der Lebenserwartung mit einer Separierung von privatem Leben und Beruf sowie mit einer Verkürzung der Arbeitszeit einherging, ermöglicht durch die dank technischen Fortschritts erzielten Produktivitätsgewinne. Der Kampf der Arbeiterbewegung in nahezu allen Industrieländern nach Mitte des 19. Jahrhunderts um den Achtstundentag und dessen dann erreichte Einführung steht symbolisch dafür. Neue Zeitmuster, vor allem Zeitsouveränität sind Folgen der Modernisierung. Damit stellten sich Fragen nach der Zeitverwendung, auch nach der Möglichkeit und Akzeptanz der Langeweile. Die produktive Nutzung souverän zu gestaltender Zeit traf in den Städten auf andere Angebote als im ländlichen Raum. Kultur, Bildung und Sport als sinnvolle, sozial gebundene Zeitverwendung in der Freizeit erhielten eine ganz neue und tiefgreifende Bedeutung für die Lebensgestaltung. Die Latenz der städtischen Vielfalt wurde zum realistischen Versprechen: Museen, Theater, Konzerte sowie Volks- und Bürgerfeste antworteten auf die neuen Möglichkeiten und Wünsche der Menschen. Das Ineinandergreifen des geistesgeschichtlichen und des realgeschichtlichen Aufbruchs zu neuen...


Hüther, Michael
Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft und Honorarprofessor an der EBS Business School in Oestrich-Winkel. In den akademischen Jahren 2016, 2019 und 2022 war er Adjunct Professor an der Stanford University. Hüther war Mitglied zahlreicher Regierungskommissionen sowie über mehrere Legislaturperioden Mitglied im Mittelstandsbeirat beim Bundeswirtschaftsministerium. 2019 wurde er zudem zum Aufsichtsratsvorsitzenden der TÜV Rheinland AG ernannt. Er ist außerdem stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der SRH-Holding und Aufsichtsrat der Allianz Global Investors.

Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft und Honorarprofessor an der EBS Business School in Oestrich-Winkel. In den akademischen Jahren 2016, 2019 und 2022 war er Adjunct Professor an der Stanford University. Hüther war Mitglied zahlreicher Regierungskommissionen sowie über mehrere Legislaturperioden Mitglied im Mittelstandsbeirat beim Bundeswirtschaftsministerium. 2019 wurde er zudem zum Aufsichtsratsvorsitzenden der TÜV Rheinland AG ernannt. Er ist außerdem stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der SRH-Holding und Aufsichtsrat der Allianz Global Investors.


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