Hüther Biologie der Angst
13., unveränderte Auflage 2016
ISBN: 978-3-647-99503-8
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wie aus Streß Gefühle werden
E-Book, Deutsch, 136 Seiten
ISBN: 978-3-647-99503-8
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern im deutschsprachigen Raum, ist Autor zahlreicher (populär-)wissenschaftlicher Publikationen und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Naturwissenschaften Biowissenschaften Biowissenschaften Neurobiologie, Verhaltensbiologie
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- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Biologische Psychologie, Neuropsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
Weitere Infos & Material
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückgegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt von einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Novalis
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Von unserem Hügel aus können wir nur beobachten, daß sich das vor uns ausgebreitete Netzwerk von Wegen und Straßen, ähnlich wie das Netzwerk von Nervenverbindungen in unserem Gehirn, verändert, wenn die Menschen beginnen, es auf andere Weise zu nutzen. Weshalb manche Menschen solche, andere jedoch jene Wege einschlagen, bleibt uns verborgen. Hier reicht die Hügelperspektive nicht mehr aus. Es scheint so, als müßten wir entweder höher hinaus, um uns einen noch größeren Überblick über das Geschehen zu verschaffen, oder hinunter, um die Einzelheiten besser erkennen zu können.
Seit altersher haben Menschen versucht, das nicht Faßbare entweder durch eine Vergrößerung der Entfernung von den konkreten Phänomenen vorstellbar, oder aber durch direktes Eindringen in die sichtbaren Formen begreifbar zu machen. Auch diejenigen, die wissen wollten, weshalb Menschen so fühlen, denken und handeln, wie sie es nun einmal tun, und weshalb sich ihr Fühlen, Denken und Handeln im Lauf der Zeit verändert, sind entweder weit zurückgetreten und haben beschrieben, was aus solcher Entfernung sichtbar wurde, oder sie haben versucht, so tief wie möglich in das Gehirn hineinzuschauen und zu beschreiben, was dort normalerweise abläuft, und wie sich diese Abläufe ändern, wenn in irgendeiner Weise in das Geschehen eingegriffen wird. Da ein und dasselbe Ding entweder aus großer Entfernung oder aber aus großer Nähe betrachtet, sehr verschieden aussieht, ist es kein Wunder, daß im Lauf der Zeit verschiedene Worte und Begriffswelten entstanden sind, um entweder unser Denken und Fühlen zu beschreiben oder die neuroanatomischen, neurophysiologischen und neurochemischen Merkmale unseres Gehirns und seiner Funktionsweise zu erfassen. Es ist auch kein Wunder, daß Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler einander immer weniger verstanden, und wie immer bei solchen Entwicklungen, Fronten gebildet und tiefe, scheinbar unüberbrückbare Gräben ausgehoben wurden.
Da solche Abgrenzungen auf Dauer wenig fruchtbar sind, finden sich irgendwann einzelne, später immer mehr, die darangehen, die entstandenen Gräben wieder aufzufüllen und die einstmals so deutlichen Fronten aufzuweichen. Auch das ist kein Wunder, wunderbar ist aber, daß sich diese Synthese zwischen philosophischen, psychologischen und neurobiologischen, also zwischen geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Ansätzen gerade jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, vollzieht.
Noch immer sitzen die Vertreter der zu langen und der zu kurzen Perspektive in ihren Stellungen. Aber sie hören schon das Lied, das auf der anderen Seite gesungen wird, und sie beginnen zu verstehen, daß beide Lieder sich nur im Text unterscheiden. Ihre Melodie ist gleich.
Sind Sie noch mit mir auf dem Hügel? Wir haben gemeinsam geschaut. Wir wollen nun gemeinsam lauschen, ob wir die Melodie erkennen, die über uns und unter uns gesungen wird. Vielleicht gelingt es uns, sie mitzusingen. Damit uns der unterschiedlich gesungene Text dabei nicht zu sehr stört, werden wir ihn im Druck etwas verkleinern.
Diese kleingedruckten Texte sollen eine Hilfe für diejenigen sein, die die Melodie besser erkennen, wenn sie auch den dazugehörigen Text hören oder mitlesen können. Diese Texte sind oft schwerfällig und in einer Sprache geschrieben, die manchem gar nicht zu der Melodie zu passen scheint, die in diesem Buch gesungen wird. Wem es so geht, der mag sie einfach überhören. Einige werden die großgeschriebene Melodie schnell erkennen und auch den kleingeschriebenen Text ein Stück weit mitverfolgen wollen. Damit das möglichst vielen gelingt, sind die unverständlichsten Fachausdrücke in Klammern und am Ende (S. 117) erklärt. Am schwersten haben es freilich diejenigen, die nur das Kleingedruckte lesen, um herauszufinden, weshalb die Melodie, die sie selbst nicht mitsingen können oder wollen, falsch sein muß. Für sie sind dort, wo es erforderlich schien, in Klammern Verweise auf die wichtigsten Originalarbeiten eingefügt, in denen noch einmal in aller Ausführlichkeit nachgelesen werden kann, was im kleingedruckten Text gesagt wurde.
Weiterführende Darstellungen finden sich in folgenden Übersichtsarbeiten:
Hüther, G. (1996): The central adaptation syndrome: Psychosocial stress as a trigger for the adaptive modification of brain structure and brain function. Progress in Neurobiology, Vol. 48, Seite 569–612.
Hüther, G.; Doering, S.; Rüger, U.; Rüther, E. und Schüßler, G. (1996): Psychische Belastungen und neuronale Plastizität. Zeitschrift für psychosomatische Medizin, Band 42, Seite 107–127.
Rothenberger, A. und Hüther, G. (1997): Die Bedeutung von psychosozialem Stress im Kindesalter für die strukturelle und funktionelle Hirnreifung: Neurobiologische Grundlagen der Entwicklungspsychopathologie. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie (Heft 9, 1997, im Druck)
Hier also die erste kleingedruckte Erläuterung:
Seit der Antike wird das abendländische Denken von einem dualistischen Modell der Leib-Seele-Spaltung beherrscht. Lange Zeit standen die beiden Pole einander isoliert gegenüber, und bis heute ist es nicht gelungen, den »geheimnisvollen Sprung vom Seelischen ins Körperliche« (Freud 1895) wissenschaftlich zur Gänze zu vollziehen. Es hat sich aber doch eine Entwicklung vollzogen von einem dualistischen zu einem integralen Denken (Schüßler 1988): Wir sehen Leib und Seele nicht mehr als voneinander getrennte, sondern als zwei sich gegenseitig beeinflussende und durchdringende Wesenheiten an, die eine »komplementäre Identität« (Kirsch und Hyland 1987) bilden. Diese gegenseitige Durchdringung wird in weiten Teilen der aktuellen neurobiologischen und psychologischen Forschung immer deutlicher. In diesem Bereich entstehen immer differenziertere Kenntnisse über die Beeinflußbarkeit biologischer Prozesse durch psychische Faktoren und über die Auswirkungen neurobiologischer Voraussetzungen und Gegebenheiten auf psychische Phänomene.
Nachdem noch bis vor wenigen Jahrzehnten die Überzeugung herrschte, daß ein Umbau der während der Hirnentwicklung einmal angelegten Verschaltungen im adulten Gehirn nicht mehr stattfindet, wissen wir heute, daß das Gehirn auch im Erwachsenenalter noch in hohem Maße zu struktureller Plastizität fähig ist. Zwar können sich Nervenzellen im Anschluß an die intrauterine Reifung des Gehirns schon vor der Geburt nicht mehr teilen, sie bleiben jedoch zeitlebens zur adaptiven Reorganisation ihrer neuronalen Verschaltungen befähigt (»experience dependent plasticity«). Im Zuge derartiger Umbauprozesse kommt es zur Veränderung der Effizienz bereits vorhandener Synapsen (Kontaktstellen), etwa durch Vergrößerung oder Verringerung der synaptischen Kontaktflächen, durch verstärkte oder verminderte Ausbildung prä- und postsynaptischer Spezialisierungen oder durch Veränderungen der Eigenschaften und der Dichte von Rezeptoren für Transmitter (Botenstoffe) und damit der Effizienz der Signalübertragung. Verstärktes Auswachsen und »kollateral sprouting« (Bildung zusätzlicher Seitenäste) von Axonen (Fortsatz der Nervenzelle zur Verbindung mit anderen Nervenzellen) kann zur Neubildung von Synapsen, terminale retrograde Degeneration (Rückbildung) zur verstärkten Elimination vorhandener Synapsen führen. Durch plastische Veränderungen des Dendritenbaumes (vielfach verästelte Zellfortsätze) oder durch Änderung der Abschirmung von Neuronen durch Astrozyten (Hüllzellen) kann das Angebot postsynaptischer Kontaktstellen erhöht oder vermindert werden. Unter normalen Bedingungen findet so im Gehirn eine ständige Stabilisierung, Auflösung und Umgestaltung synaptischer Verbindungen und neuronaler Verschaltungen statt.
Derartige Umbauprozesse können beispielsweise verstärkt nach Deafferenzierungen (Nervendurchtrennungen) durch Extremitätenamputationen beobachtet werden. Es findet hier eine Reorganisation kortikaler somatosensorischer Projektionsfelder statt, das heißt, die vorher für die verlorene Extremität zuständigen Gehirnareale übernehmen nach und nach neue, andersartige Funktionen (Ramachandran 1993; O’Leary u.a. 1994). Steroidhormone spielen eine besondere Rolle als Trigger (Auslöser) für strukturelle Umbauprozesse im adulten ZNS (Zentralnervensystem). Sie wirken als sogenannte Liganden-gesteuerte Transkriptionsfaktoren und nehmen so direkten Einfluß darauf, welche Gene einer Nervenzelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden. Ein beeindruckendes Beispiel für einen solchen Einfluß von Steroidhormonen ist die sich in Abhängigkeit vom Sexualzyklus weiblicher Ratten ändernde Dichte synaptischer Verbindungen in verschiedenen Hirngebieten (Olmos u.a. 1989; Wooley und McEwen 1992). Die intensivsten strukturellen Reorganisationsprozesse im adulten Gehirn wurden bisher beim Erwachen von Tieren aus dem Winterschlaf beobachtet. Im Zuge der hierbei stattfindenden massiven hormonellen Veränderungen kommt es innerhalb weniger Stunden zum...