Huxley | Kontrapunkt des Lebens | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 556 Seiten

Huxley Kontrapunkt des Lebens

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97661-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 556 Seiten

ISBN: 978-3-492-97661-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der vierte Roman Aldous Huxleys, 1928 erschienen, ist ein Schlüsselroman seiner Epoche In Huxleys satirischen Gesellschaftsbild der Zwanzigerjahre werden nicht nur die brillanten und frivolen Intellektuellen porträtiert, sondern auch der Frage nachgegangen, wie ein glückliches, gesundes Leben aussehen kann. Bei den Partys von Lady Tantamount feiern die schillerndsten Persönlichkeiten, an denen die moralischen Dilemmas ihrer Zeit offensichtlich werden. Marjorie hat ihre Familie verlassen, um mit Walter zu leben, Walter hingegen ist verliebt in die kaltherzige, verführerische Lucy. In »Kontrapunkt des Lebens« werden D.H. Lawrence, Katherine Mansfield und Huxley selbst auf höchst vergnügliche Weise dargestellt.

Aldous Leonard Huxley, geboren 1894 in Godalming/Surrey, in Eton erzogen, studierte nach einer schweren Augenkrankheit englische Literatur in Oxford und war ab 1919 zunächst als Journalist und Theaterkritiker tätig. 1921 begann er mit der Veröffentlichung seines ersten Romans »Die Gesellschaft auf dem Lande« seine literarische Laufbahn. Von 1938 an lebte er in Kalifornien. Huxley starb 1963 in Hollywood.
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ZWEITES KAPITEL


Drei italienische Gespenster geistern unaufdringlich am östlichen Ende von Pall Mall. Der Reichtum des frisch industrialisierten England und die Begeisterung, das bauliche Genie Charles Barrys hat sie aus der Vergangenheit und ihrem heimatlichen Sonnenschein hergezaubert. Unter dem inkrustierenden Schmutz des Reformklubs erkennt das gläubige Auge etwas, das angenehm an den Palazzo Farnese gemahnt. Ein paar Schritte weiter die Straße entlang ragen Sir Charles' Erinnerungen an das Haus, das Raffael für die Pandolfini entwarf, in die dunstige Londoner Luft auf – der Travellersklub; und zwischen ihnen erhebt sich, streng klassisch, dräuend wie ein Gefängnis und schwarz von Ruß, eine verkleinerte, aber immer noch riesenhafte Fassung der Cancelleria – Tantamount House.

Barry entwarf es 1839. Einhundert Arbeiter schufteten ein oder zwei Jahre. Und der dritte Marquis bezahlte die Rechnungen. Sie waren gewaltig; aber die Vorstädte von Leeds und Sheffield hatten begonnen, sich über das Land auszubreiten, das seine Vorfahren dreihundert Jahre früher den Klöstern gestohlen hatten. »Die katholische Kirche, vom Heiligen Geist inspiriert, lehrt nach den ehrwürdigen Schriften und alten Überlieferungen der Kirchenväter, dass es ein Fegefeuer gibt und dass die darin schmachtenden Seelen Hilfe finden durch die Fürbitten der Glaubenstreuen, besonders aber durch das gottgefällige Opfer auf dem Altar.« Die Reichen mit schlechtem Gewissen hatten ihre Ländereien den Mönchen hinterlassen, damit ein unaufhörlicher Vollzug des gottgefälligen Opfers auf dem Altar ihren Seelen durchs Fegefeuer helfe. Aber Heinrich VIII. hatte es sehr nach einem jungen Weib gelüstet und nach einem Sohn verlangt; und Papst Klemens VII. wollte, weil er in der Gewalt des Vetters der Tochter von Heinrichs erster Frau war, ihm die Scheidung nicht bewilligen. Infolgedessen wurden die Klöster aufgehoben. Ein Heer von Bettlern, Armen und Siechen starb elend Hungers. Die Tantamounts aber erwarben einige Dutzend Quadratmeilen Ackerlands, Walds und Weide. Ein paar Jahre später, unter Eduard VI., stahlen sie den Landbesitz zweier aufgelöster Lateinschulen; Kinder blieben ohne Unterricht, auf dass die Tantamounts reich seien. Sie bebauten ihr Land nach allen Regeln der Wissenschaft, ihr Augenmerk auf den höchsten Nutzen gerichtet. Ihre Zeitgenossen sahen in ihnen »Menschen, die leben, als gäbe es gar keinen Gott, Menschen, die alles in ihren eigenen Händen haben wollen, Menschen, die anderen nichts lassen, Menschen, die nie zufrieden sind«. Von der Kanzel in St. Paul herab beschuldigte Lever sie, sie hätten »Gott beleidigt und das gemeine Wohl in gemeines Wehe verkehrt«. Die Tantamounts störte das nicht. Der Grund gehörte ihnen. Die Pachtgelder gingen regelmäßig ein. Das Korn wurde gesät, wuchs und wurde geerntet, wieder und wieder. Tiere wurden geboren, gemästet und zur Schlachtbank geführt. Die Ackerknechte, die Schäfer, die Kuhhirten arbeiteten vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang, jahraus, jahrein, bis sie starben. Ihre Kinder traten an ihre Stelle. Ein Tantamount folgte auf den anderen. Elisabeth verlieh ihnen die Baronie; unter Karl II. wurden sie Viscounts, Earls unter Wilhelm und Maria, Marquis unter Georg II. Sie heirateten Erbin nach Erbin – zehn Quadratmeilen von Nottinghamshire, fünfzigtausend Pfund, zwei Straßenzüge in Bloomsbury, eine halbe Brauerei, eine Bank, eine Plantage mit sechshundert Sklaven in Jamaika. Mittlerweile erfanden obskure Männer Maschinen, mit denen man die meisten Dinge schneller herstellen konnte als mit der Hand. Dörfer verwandelten sich in Städte, Städte in Großstädte. Auf einstigem Ackerland der Tantamounts wurden Häuser und Fabriken gebaut. Unter dem Gras ihrer Wiesen hackten halbnackte Männer auf das schwarz glänzende Kohlenflöz los. Kleine Knaben und Frauen zogen die schwerbeladenen Förderwagen durch die Stollen. Aus Peru wurden die Exkremente Zehntausender Generationen von Seevögeln in Schiffen herübergebracht, um ihre Felder ertragreicher zu machen. Das Korn wuchs dichter; die neuen Mäuler konnten gefüttert werden. Und Jahr auf Jahr wurden die Tantamounts reicher und reicher, und die Seelen der frommen Zeitgenossen des Schwarzen Prinzen zappelten zweifellos auch weiterhin – da sie der Hilfe durch irgendwelche gottgefällige Opfer auf dem Altar entbehrten – in den unauslöschlichen Flammen. Das Geld, das, entsprechend verwendet, ihre Strafzeit im Fegefeuer verkürzt hätte, diente unter anderem auch dazu, ein Modell der päpstlichen Kanzlei in Pall Mall erstehen zu lassen.

Das Innere von Tantamount House ist ebenso edel römisch wie seine Fassade. Um ein zentrales Viereck laufen zwei Ränge offener Arkaden mit einem Dachgeschoß darüber, das durch kleine quadratische Fenster erhellt wird. Aber statt gegen den Himmel hin offen zu sein, ist das Viereck von einem Glasdach überdeckt, durch das es in einen riesigen Saal verwandelt wird, der bis zur vollen Höhe des Gebäudes reicht. Mit seinen Bogengängen und der Galerie ergibt er einen sehr edlen Raum – aber zu groß, zu öffentlich, zu sehr wie ein Schwimmbad oder ein Rollschuhpalast, als dass man viel darin wohnen könnte. Heute Abend jedoch rechtfertigte er sein Dasein. Lady Edward Tantamount gab eine ihrer musikalischen Soireen. Das Parkett war gedrängt voll von sitzenden Gästen, und in dem architektonischen Hohlraum über ihnen pulsierten kunstvoll verschlungen die Töne der Musik.

»So eine Pantomime!«, sagte der alte John Bidlake zu seiner Gastgeberin. »Meine liebe Hilda, sieh dir das nur an!«

»Sch-sch!«, protestierte Lady Edward hinter ihrem Federfächer. »Du darfst die Musik nicht so stören. Und überdies, ich sehe ja.«

Ihr Flüstern klang kolonial, und das R von »stören« wurde ganz weit hinten in der Kehle gerollt; denn Lady Edward stammte aus Montreal, und ihre Mutter war eine Französin gewesen. Im Jahre 1897 hatte die British Association ihren Kongress nach Kanada einberufen. Lord Edward Tantamount hielt der Sektion für Biologie einen vielbewunderten Vortrag. »Einer der kommenden Männer«, so hatten ihn die Professoren genannt. Aber von Leuten, die keine Professoren waren, mochte ein Tantamount und Millionär wohl als bereits angekommen betrachtet werden. Hilda Sutton war ganz entschieden dieser Meinung. Während seines Aufenthalts in Montreal war Lord Edward Gast ihres Vaters. Sie nützte die Gelegenheit. Die British Association fuhr heim; Lord Edward blieb in Kanada.

»Glaub mir«, hatte Hilda einmal einer Freundin anvertraut, »ich habe weder vorher noch seither jemals so viel Interesse für Osmose aufgebracht.«

Das Interesse für Osmose erweckte Lord Edwards Aufmerksamkeit. Er wurde eine Tatsache gewahr, die er früher nicht bemerkt hatte: Hilda war außerordentlich hübsch. Und Hilda verstand sich auch auf ihre weibliche Wissenschaft. Ihre Aufgabe war nicht schwer. Lord Edward war mit vierzig Jahren in allen Dingen, mit Ausnahme der Vernunft, ein großes Kind. Im Laboratorium oder am Schreibtisch war er so alt wie die Wissenschaft selbst, aber seine Gefühle, seine Anschauungen, seine Triebe waren die eines kleinen Knaben. Aus Mangel an Gebrauch hatte sich der größere Teil seines geistigen und seelischen Wesens nie entwickelt. Er war ein Kind, dessen kindliche Gewohnheiten sich aber durch vierzig Lebensjahre tief eingefleischt hatten. Hilda half ihm über seine lähmende Schüchternheit eines Zwölfjährigen hinweg und kam ihm, so oft Furcht ihn hinderte, die nötigen Avancen zu machen, den halben oder sogar den ganzen Weg entgegen. Seine Liebesglut war knabenhaft – zugleich heftig und furchtsam, verzweifelt und stumm. Hilda redete für zwei und war diskret draufgängerisch. Diskret – denn Lord Edwards Vorstellungen davon, wie ein junges Mädchen sich benehmen solle, entstammten größtenteils den »Pickwickiern«. Unverhülltes Draufgängertum hätte ihn erschreckt, hätte ihn verjagt. Hilda hielt den vollen Anschein dickensischer Jungmädchenhaftigkeit aufrecht, wusste aber zugleich alle Avancen zu machen, alle Gelegenheiten herbeizuführen und das Gespräch in alle gebührlich amourösen Bahnen zu lenken. Sie hatte ihren Lohn. Im Frühjahr 1898 war sie Lady Edward Tantamount.

»Aber ich schwöre dir«, hatte sie einmal ganz zornig zu John Bidlake gesagt – denn er hatte sich über den armen Edward lustig gemacht, »ich habe ihn aufrichtig gern. Aufrichtig gern.«

»Auf deine Art zweifellos«, spottete Bidlake. »Auf deine Art. Aber du wirst zugeben, dass es ein Glück ist, sie ist nicht jedermanns Art. Sieh dich nur einmal im Spiegel dort an!«

Sie sah hin und erblickte das Abbild ihres nackten Körpers, der halb in Kissen versunken auf einem Diwan...


Huxley, Aldous
Aldous Leonard Huxley, geboren 1894 in Godalming/Surrey, in Eton erzogen, studierte nach einer schweren Augenkrankheit englische Literatur in Oxford und war ab 1919 zunächst als Journalist und Theaterkritiker tätig. 1921 begann er mit der Veröffentlichung seines ersten Romans »Die Gesellschaft auf dem Lande« seine literarische Laufbahn. Von 1938 an lebte er in Kalifornien. Huxley starb 1963 in Hollywood.



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