E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Ibbotson Das Geheimnis von Bahnsteig 13
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-423-42919-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neuaufgelegter Kinderbuchklassiker ab 9
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-423-42919-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eva Ibbotson wurde 1925 in Wien geboren und emigrierte 1933 nach England, wo sie bis zu ihrem Tod im Herbst 2010 lebte. Sie war eine bekannte Bestsellerautorin in der Erwachsenenliteratur. Ihre Kinderbücher sind weltweit beliebt und äußerst erfolgreich und wurden in Großbritannien mehrfach ausgezeichnet.
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1. Kapitel
Ginge man heutzutage in eine Schule und fragte die Kinder »Was ist ein Gügel?«, so bekäme man sicher ein paar ziemlich dumme Antworten.
»Na, so ’n Mittelding zwischen Kugel und Kügelchen«, könnte ein Kind sagen. Und ein anderes: »Ein Küken, das gackert.« Oder sogar: »Das ist ein anderes Wort für Gugelhupf.«
Aber es gab eine Zeit, da war das nicht so. Da konnte dir jedes Kind im Land sagen, dass ein Gügel eine besondere Erhebung ist, ein grasbedeckter Hügel mit einer verborgenen Tür darin, die sich von Zeit zu Zeit öffnet, um einen Tunnel freizugeben, der in eine völlig andere Welt führt.
Damals wussten die Kinder auch, dass jedes Land seinen eigenen Gügel hat und dass sich der Gügel in Großbritannien an einem Ort unweit der Themse befindet, den man den Hügel von King’s Cross nennt.
Und kluge Kinder, die die alten Geschichten lasen und sich die alten Märchen erzählen ließen, hätten noch mehr gewusst. So zum Beispiel, dass sich dieser spezielle Gügel alle neun Jahre für genau neun Tage öffnet, nicht eine Sekunde länger, und dass es nicht ratsam ist, es sich in letzter Sekunde anders zu überlegen, wenn man zum Beispiel drin ist und wieder rauswill oder umgekehrt, weil nichts auf der Welt die Tür wieder öffnen kann, wenn sie erst einmal geschlossen ist.
Aber die Kinder haben das alles vergessen, und nicht nur die Kinder, man kann ihnen also keinen Vorwurf daraus machen.
Doch der Gügel in Großbritannien existiert noch immer, unter dem Bahnsteig 13 des Bahnhofs King’s Cross. Die geheime Tür befindet sich hinter der Wand der alten Herrentoilette, da, wo noch die Plakate rumhängen, auf denen steht: »Bequem und sicher mit der Bahn!« Da, wo die zerkratzten alten Holzbänke stehen und die schmutzigen Aschenbecher, in denen ältere Herren ihre stinkenden Zigarren ausgedrückt haben.
Der Bahnsteig wird längst nicht mehr benutzt. Es wurden neue, saubere Bahnsteige gebaut, mit langen Reihen von silbern schimmernden Kofferkulis, mit Spielautomaten, die wirklich funktionieren, und riesigen Anzeigetafeln, auf denen die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge erscheinen.
Bahnsteig 13 ist damit nicht zu vergleichen. Die große Uhr ist stehen geblieben, Spinnen haben ihre Netze um die Tür zur Herrentoilette gewebt und es gibt eine verlassene Gepäckaufbewahrung, an der ein Zettel hängt, auf den jemand »Geschlossen!« geschrieben hat. Drinnen liegt ein verschimmelter Regenschirm, den eine Dame im 5-Uhr-25-Zug aus Doncaster vergaß, in dem Jahr, in dem die Queen ihre Silberhochzeit feierte. Der Süßigkeitenautomat ist verrostet und hängt schief und wäre man so töricht und steckte eine Münze hinein, würde der Automat sie mit einem schmatzenden Geräusch verschlingen und man könnte den Rest seines Lebens darauf warten, dass ein Stück Schokolade herauskäme.
Aber jedes Mal, wenn dieser Teil des Bahnhofs abgerissen und neu gebaut werden soll, läuft alles schief.
Ein Architekt, der dort eine Ladenzeile errichten wollte, bekam plötzlich einen fürchterlichen Ausschlag und wanderte nach Spanien aus. Und als für die Elektrifizierung die Gleise erneuert werden sollten, sagte der Gutachter, dass der Untergrund ungeeignet sei, und murmelte was von Senken und Rissen im Boden. Es scheint fast so, als ob die Leute irgendetwas wüssten über Bahnsteig 13, sich aber nicht erinnern, was es ist.
Aber in jeder Stadt gibt es die, die weder die Vergangenheit noch die alten Geschichten vergessen haben. Geister, zum Beispiel …
Da ist Ernie Hobbs, der ehemalige Gepäckträger, der sein ganzes Leben auf dem Bahnhof King’s Cross gearbeitet hat und immer noch gern zwischen den Zügen herumgeistert; Ernie erinnert sich sehr wohl. Genauso wie seine Freundin, der Geist der Reinemachefrau Mrs Partridge, die früher – auf allen vieren rutschend – den Paketschalter schrubbte.
Und die Plodger erinnern sich natürlich, das Volk derer, die in den Abwässerkanälen unter der Stadt leben und die hin und wieder durch die Gullys vor dem Bahnhof auftauchen.
Und auf ihre Art wissen es auch die vielen Tauben. Sie wissen, dass der Gügel immer noch da ist, und sie wissen auch, wohin er führt: durch einen langen, nebligen, düsteren Tunnel in eine geheime Bucht, in der ein Schiff darauf wartet, alle, die es wünschen, auf eine Insel zu bringen, die so schön ist, dass es jedem den Atem verschlägt.
Ihre Bewohner nennen sie nur »Die Insel«, aber sie hat viele Namen: Avalon, Land des Heiligen Martin oder Eiland der fallenden Nebel.
Vor Hunderten von Jahren gehörte die Insel zum Festland, aber dann brach sie ab und trieb allmählich westwärts, so wie Madagaskar sich einst vom afrikanischen Kontinent löste. Inseln pflegen das alle paar Millionen Jahre zu tun, kein Grund zur Aufregung.
Mit der treibenden Insel kamen auch die, die auf ihr lebten. Im Großen und Ganzen ziemlich vernünftige Leute, die wussten, dass nicht jeder zwei Arme und Beine haben muss, sondern in Aussehen und Denken unterschiedlich sein kann. So lebten die Insulaner friedlich mit einäugigen Riesen zusammen oder mit Drachen, von denen es eine ganze Menge gab. Und wenn sie einer Meerjungfrau begegneten, die auf einem Felsen ihr Haar kämmte, stürzten sie sich nicht etwa vor Schreck ins Meer, sondern sagten einfach Guten Morgen. Die Insulaner wussten, dass Ellerfrauen einen hohlen Buckel hatten und es gar nicht schätzten, wenn man ihn an einem Samstag anschaute. Und wenn die Trolle nun mal Wert darauf legten, ihren Bart so lang zu tragen, dass sie bei jedem Schritt drauftraten, dann war das ganz allein ihre Angelegenheit.
Auch mit den Tieren lebten die Inselbewohner in Frieden. Auf der Insel gab es ganz gewöhnliche Schafe, Kühe und Gänse, aber auch jede Menge höchst seltsamer Tiere: riesige Vögel, die das Fliegen verlernt hatten und Eier in der Größe von Kesselpauken legten; dann die Brollachans, die aussahen wie ein Klacks Gelee mit dunkelroten Augen; und nicht zu vergessen die Seepferde mit ihren seidigen Mähnen, die schnaubend durch die Wellen galoppierten.
Doch die Tiere, die die Insulaner am meisten liebten, waren die Neblinge. Diese liebenswerten Tierchen gab es nirgendwo sonst auf der Welt. Sie waren klein und mit weichem weißen Fell bedeckt, fast wie Seehundbabys, nur dass sie keine Flossen hatten. Die Neblinge hatten kurze Beine mit großen Pfoten, wie die von jungen Hunden. Ihre dunklen Augen waren groß und feucht, die Nase behaart und kühl, und sie schnauften ein wenig beim Gehen, denn sie waren plustrig rund wie knuffige Kissen und mochten es nicht, schnell zu laufen.
Aber die Neblinge waren nicht nur reizend anzusehen, sie waren für die Insulaner auch außerordentlich wichtig.
Nach all dem, was sie aus angeschwemmten Zeitungen erfuhren oder von denen, die sich aus der Anderen Welt zu ihnen geflüchtet hatten, waren die Inselbewohner mit den Jahren zu der Überzeugung gelangt, dass es besser sei, für sich zu bleiben. Natürlich fanden sie, dass einige moderne Erfindungen wirklich nützlich waren, zum Beispiel elektrische Heizdecken zum Füßewärmen oder Zahnpasta mit Fluor für Zähne ohne Löcher, aber es gab eben auch andere Dinge, die sie überhaupt nicht schätzten: Atombomben zum Beispiel oder Hochhäuser, auf deren Dächern zitternd und bebend alte Damen standen, wenn der Fahrstuhl kaputt war. Oder Legebatterien, wo man die Hühner zu zweit in einen Käfig stopfte. Und so befürchteten die Insulaner nichts so sehr, als von vorbeifahrenden Schiffen oder tief fliegenden Flugzeugen entdeckt zu werden.
Und genau hier kamen die Neblinge ins Spiel. Diese äußerst empfindsamen Lebewesen liebten nichts so sehr wie Musik. Wenn man einem Nebling Musik vorspielte, dann wurden seine Augen noch größer. Und beim Ausatmen musste er seufzen. »Aahh«, machte er dann. »Aahh … Aahh …« Und bei jedem Seufzer kam Nebel aus seinem Maul: reiner, dicker weißer Nebel, der nach feuchtem Gras im Morgengrauen roch. Und da Hunderte und Aberhunderte von Neblingen über die Wiesen und Ufer der Insel watschelten, bedeutete das jede Menge Nebel.
Sobald ein Schiff auftauchte oder ein Punkt am Himmel, der ein Flugzeug sein konnte, liefen alle Kinder aus der Schule, ihre Flöten und Trompeten oder Rekorder unter dem Arm, und machten Musik für die Neblinge. Und diejenigen, die möglicherweise auf der Insel gelandet wären, um dort neugierig herumzuschnüffeln, sahen nur weiße Wolken und zogen ihres Weges.
Obwohl es auf der Insel so viele ungewöhnliche Lebewesen gab, waren König und Königin von jeher ganz normale Menschen. Die Königliche Familie war königlich im wahrsten Sinne des Wortes, nicht habgierig, nicht mit Juwelen behängt, sondern tapfer und gerecht. König und Königin betrachteten sich selbst als Diener ihres Volkes, so wie es alle guten Herrscher tun sollten, es aber leider nicht immer tun.
Das Königspaar lebte auch nicht in einem prunkvollen Palast, voll gestopft mit unbequemen goldenen Thronsesseln, die einen nur in den Hintern piken, wenn man sich draufsetzt, noch umgab es sich mit Dienern, die über Fußschemel stolpern, wenn sie sich im Rückwärtsgang von Ihren Majestäten entfernen.
König und Königin lebten in einem einfachen weißen Haus in einer Bucht aus goldenem Sand, der mit Kaurimuscheln übersät war. Bei Tag und Nacht konnten sie das Murmeln und Schlagen der Wellen hören und das zarte Säuseln des Windes.
Die Zimmer in diesem »Palast« waren einfach und luftig frisch, denn die Fenster standen weit auf, so dass die Vögel herein- und hinausfliegen...