E-Book, Deutsch, Band 9, 106 Seiten
Reihe: Queer*Welten
Iden / Is / Gerlach Queer*Welten 09-2022 - Das queerfeministische Phantastik-Magazin
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-947720-96-5
Verlag: Ach je Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 9, 106 Seiten
Reihe: Queer*Welten
ISBN: 978-3-947720-96-5
Verlag: Ach je Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Queer*Welten ist ein halbjährlich erscheinendes queerfeministisches Science-Fiction- und Fantasy-Magazin, das sich zum Ziel gesetzt hat, Kurzgeschichten, Gedichte, Illustrationen und Essaybeiträge zu veröffentlichen, die marginalisierte Erfahrungen und die Geschichten Marginalisierter in einem phantastischen Rahmen sichtbar machen. Außerdem beinhaltet es einen Queertalsbericht mit Rezensionen, Lesetipps, Veranstaltungshinweisen und mehr.
In dieser Ausgabe:
Auf See geblieben von Kaj Iden (Kurzgeschichte)
toxArt von June Is (Kurzgeschichte)
Vom Kinderkriegen von Gerit Virginia Ariel Gerlach (Kurzgeschichte)
Schwache Anziehung von Helen Faust (Kurzgeschichte)
Raya'sii: Die Legende von Raya von Jeannie Marschall (Kurzgeschichte)
Von Mythpunk bis amazofuturismo: Warum Mikrogenres und Movements die Phantastik facettenreicher machen von Alessandra Reß (Essay)
12 Mini-Fiction Texte zum Thema Queer Merfolk in 9 Sätzen
Autor*innen der 9-Satz-Texte: Jonathan Krupitza, Jeannie Marschall, Frank Reiss, kvmw, Anna Zabini, Laura May Strange, Liane Raposa, Emma Hogner, T. B. Persson, Lünn, Chris Balz, Jassi Etter
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
toxArt von June Is Inhaltshinweise Tod, Blut, Auslöschung von trans Identitäten, Polizei Tags Meer(jung)frauen, Unterwasserkunst, magische Gemälde, trans Künstler*innen, magische Ermittlungen „Das ist es?“ Ich starrte auf das Kunstwerk, das soeben vom Laborassistenten enthüllt wurde. Kommissar Hendryyk nickte. „Diese Harpune hier“, er zeigte mit dem Finger darauf, „hat angeblich bereits drei Betrachtende im Staatenbund Deunelux das Leben gekostet. Laut der letzten Message der Spurensicherung ist die Pfeilspitze aus der Jahrhundertwende, um 1890-1905. Sie gehen davon aus, dass das zugrunde liegende Bild auch in der Zeit entstand.“ Er blickte zurück zu mir. „Und jetzt kommen Sie ins Spiel, weil irgendein Esoterik-Heini denkt, das Bild sei magisch.“ Ich verkniff mir einen Kommentar, denn ich wusste, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gab, als meinem Kollegen lieb war. Ich glaubte, dass er sich dieser Erkenntnis nur aus Prinzip verweigerte. Aber vielleicht würde er irgendwann zugeben, dass es echte Magie gab. Die Hoffnung blieb. Jetzt musste ich herausfinden, wieso die Kunst, beziehungsweise die Person, von der sie stammte, bestimmte Menschen umbrachte. Langsam trat ich hin und her. Aus welcher Perspektive auch immer ich das Bild betrachtete, es wirkte auf mich eher grotesk als bedrohlich: eine Meerjungfrau mit nacktem, ungeschütztem Oberkörper, die mit einer Harpune direkt aus dem Bild heraus zielte. Sie schaute entschlossen drein. Um sie herum war das Leben im Ozean dargestellt; kleinere Fische umschwärmten sie, im Hintergrund hatte sich ein Kraken in einem Schleppnetz verheddert. Am Boden stand eine Schatztruhe mit einem vierstelligen Kombinationsschloss. Nicht sonderlich originell, wie ich fand. Der geschuppte Schwanz der Meerjungfrau war über den Rand des Bildes hinaus um die Ecke der Leinwand gemalt. Ich betrachtete die Rückseite genauer und verglich. Irgendwie passte die Farbe hinten nicht zur der vorn, aber das lag möglicherweise daran, dass die Vorderseite stets dem Licht ausgesetzt war. „Wieso zur Hölle glaubt irgendjemand, dass diese Möchtegernkunst gefährlich ist?“ Hendryyk war in seinem Element, wenn er sich selbst und anderen darlegen konnte, dass etwas absolut und ganz ausgeschlossen war. Ich arbeitete nicht das erste Mal mit ihm zusammen und kannte das schon. „Nehmen wir mal an, das Bild ist tatsächlich magisch“, sprach er weiter und schüttelte den Kopf. „Wieso tötet die Meerjungfrau nur manche, die es betrachten, und andere nicht? Das ergibt keinen Sinn!“ Hendryyk ging nun selbst vor dem Bild auf und ab. „Gibt es schon andere Erkenntnisse, Schmitz?“
Ich tippte den Code für die Akte toxArt, wie der Fall intern hieß, in mein Smartphone und las vor: „Öl auf Leinwand aus Baumwolle, Pinselabdrücke im Gewebe. Ansonsten zeigte eine erste Computertomographie keine Auffälligkeiten, außer dass die Farbe sehr dick aufgetragen ist und darunter eine weitere Schicht liegen muss. Weitere Bildaufschlüsselung folgt. Mehr steht da nicht.“ Eine längere Zeit verstrich, bis Hendryyk seufzte und damit die unheimliche Stille im Raum durchbrach. „Denken Sie, dass das Bild Leute umbringt?“ Ich schluckte, mir wurde heiß. Für mich war das durchaus im Bereich des Möglichen, ich war im Endeffekt für so etwas ausgebildet, auch wenn der Herr Kollege das immer wieder verdrängte. „Vielleicht müssen wir einfach ein bisschen Zeit mit dem Kunstwerk verbringen. Am besten in einem dunklen, abgeschlossenen Raum!“ „Eine Nacht mit der Hübschen verbringen …“, murmelte der Forensik-Laborassistent, der das Bild von hinten hielt, um es uns zu präsentieren, und kicherte. Hendryyks Blick sagte alles.
Ich zog mir Einweghandschuhe über und trat näher an das Gemälde. Vorsichtig berührte ich die herausgearbeiteten Haare, meine Fingerkuppen strichen über das Gesicht der Meerjungfrau. Es war mir persönlich zu ebenmäßig. Keine Ecken, keine Kanten. „Wenn wir wüssten, wer es gemalt hat und welcher Ozean das sein soll, könnten wir –“ „Was?“, unterbrach mich Hendryyk. „Ach, vielleicht wäre es eine Spur.“ „Nicht ernsthaft. Kommen Sie, wir gehen. Nachdenken.“ Zum Laborassistent gewandt sagte er: „Danke.“ 666 Zwanzig Minuten später kam im Dienstwagen auf dem Weg zurück ins Büro ein Anruf rein. „Kommen Sie bitte zurück, der Laborassistent hat einen Harpunenpfeil im Hals.“ „Das darf doch nicht wahr sein!“ Hendryyk schlug aufs Lenkrad, wendete und gab Gas. „Wie soll ein 2D-Bild bloß einen 3D-Harpunenpfeil abschießen? Das ist doch komplett absurd!“ Während ich mich am Griff der Seitentür festklammerte, kam mir ein Gedanke: „Haben die eigentlich eine Kamera, um das Labor zu überwachen?“ Er schaute von der Straße weg und zu mir. „Machen Sie Witze? Bei der letzten Kürzung von Forschungsmitteln wurden stundenweise Kamerazeiten festgelegt, um Speicherplatz und Geld zu sparen. Allerdings ist das Kontingent für diesen Monat bereits aufgebraucht.“ Ich verkniff mir eine sarkastische Bemerkung. Denen war einfach nicht zu helfen. Wer auch immer das angeordnet hatte, sparte an der völlig falschen Stelle. Im Labor fanden wir das Bild an die Wand gelehnt, davor lag der tote Assistent mit einem Harpunenpfeil im Hals. Das Team von der Spurensicherung sicherte den Tatort. Die gesamte Szene bot einen skurrilen Anblick. Ich ärgerte mich. Das hätte sicher verhindert werden können. Während ich näher an das Gemälde trat, fiel mir etwas auf. „Wissen Sie zufällig noch, was für ein Code vorhin an der Truhe eingestellt war?“ Es schien unmöglich, aber ich hätte schwören können, dass die Fische jetzt anders positioniert waren. Hendryyk kam näher. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!“ „Solange wir nichts Besseres haben, müssen wir jeder Spur nachgehen. Jetzt steht da 1-8-9-8, fürs Protokoll.“ Wir warteten, bis der Tote abtransportiert war. Es war immer noch ungewöhnlich warm im Labor. Ich zog meine Jacke aus, Einweghandschuhe an und betrachtete das Bild aus der Nähe, prüfte die Konturen des Rahmens auf magische Einschlüsse. Dabei sah ich die Linien meines Handgelenk-Tattoos rötlich schimmern. Wie merkwürdig. Das Tattoo wand sich seit meiner Studiumszeit als gezeichnete Kette um mein Handgelenk. An einem der Kettenglieder hing eine Kombination aus Venus-und-Mars-Symbolen. Es erinnerte mich stets an meine Wohnheimclique. Vor allem an Maria, eine meiner ehemaligen Mitbewohnerinnen, die trans ist. Da wir mittlerweile alle in anderen Städten wohnten und nur noch einmal im Jahr zu einem regelmäßigen Treffen zusammenkamen, hatte jede von uns so ein Tattoo als Zeichen der Verbundenheit. Ich dachte gern an unsere gemeinsame Zeit zurück und fragte mich, was Maria wohl von diesem Bild halten würde. Soweit ich wusste, hatte sie Kunst schon immer gemocht. Mein Kollege schaute irritiert zum Gemälde. „Das ergibt doch gar keinen Sinn.“ Dem musste ich wohl oder übel zustimmen, wusste aber nicht genau, ob er das Aufleuchten des Tattoos auch gesehen hatte. Da beantwortete er meine Frage von selbst. „Ich meine, es gibt drei, jetzt vier Tote, und immer war dieses Gemälde in der Nähe. Gespenstergeschichten gibt es öfter, da, wo sie hingehören: ans Lagerfeuer. Aber allmählich könnte man wirklich glauben, dass das Bild dafür verantwortlich ist.“ „Dafür ist eine Sonderprofilerin von Ihrem Chef zum Fall hinzugezogen worden“, gab ich zurück. Irgendwo steckte die Lösung, davon war ich überzeugt. Und sie war magisch, so viel müsste selbst meinem Alleswisserkollegen mittlerweile klar sein. „Schmitz, mal ehrlich, da ist es doch wahrscheinlicher, dass hier jemand eine Mordserie verübt. Vermutlich versteckt sich die Person hier im Gebäude irgendwo und lacht über unsere Unfähigkeit. Ich sollte einen Suchtrupp rufen! Stattdessen diskutiere ich mit Ihnen über magisches Wirken und Zauberei.“ Ich ignorierte ihn und suchte stattdessen die Ränder nach einer Signatur ab. Es musste doch irgendwo einen Hinweis auf die Person hinter dem Bild geben. Sicher hatte das Team der Spurensicherung das Bild auch schon darauf hin untersucht, aber man wusste nie. „Haben Sie mal eine Taschenlampe?“ Ich schob das Bild auf den Labortisch, als Stütze diente ein Karton mit Labormaterial. Dann streckte ich eine Hand nach hinten aus, ohne Hendryyk anzusehen. „Was darf’s denn sein? Antiker Charme durch Stehlampenlicht oder vielleicht doch eher das moderne LED-Geflacker? Bin ich eigentlich neuerdings Ihr Handlanger? Lassen Sie mal den Fachmann da ran.“ Hendryyk schob sich lächelnd an mir vorbei und beleuchtete den Rahmen mit seinem Smartphone. „Wirklich sehr witzig!“ Ich verschränkte die Arme vorm Körper und starrte ungläubig auf Hendryyk und das Bild. Bildete ich mir das nur ein oder hatten die Augen der...