E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Illing / Frey / Farin Utopolis
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98857-073-4
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Wiederentdeckte Schätze der Science-Fiction
ISBN: 978-3-98857-073-4
Verlag: Hirnkost
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Werner Illing wurde 1895 in Chemnitz geboren und starb 1979 in Esslingen am Neckar. Der Journalist, Regisseur und Autor arbeitete u.a. für Rundfunk und Fernsehen. Seine Kurzgeschichte 'Der Herr vom anderen Stern' wurde mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle verfilmt.
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1
Als ich die Augen aufschlug, begriff ich endlich, dass ich nicht als stiller Mann zwischen Seegras und Meerdisteln umhertrieb, ein Tischleindeckdich für Krebse und Aale. Über mir war blauer Himmel. Eine frische Brise klatschte mir die nassen Kleiderfetzen an den Leib.
Ich fror wie ein junger Hund. Sprang auf, um mir Bewegung zu machen.
Zehn Schritt weit lag ein armseliger Lumpenhaufen, um einen Holzbalken gewickelt. Armer Kamerad! Es ist ein verteufelter Scherz des Schicksals, einen Schiffbrüchigen, nachdem er ertrunken ist, an Land zu werfen.
Ich trat näher.
Der Tote schnarchte fürchterlich.
Ich schüttelte ihn wie einen Baum, von dem man unreife Pflaumen abschütteln will. Endlich ließ er den hölzernen Notanker fahren, tastete mit vorsichtigen Händen in den trocknen Sand, setzte sich auf, rieb sich die Augen, gähnte, blickte mich ohne Erstaunen an und brummte:
»Hast du wat to essen?«
Da spürte ich, dass ich anstelle des Magens ein schwarzes, leeres Loch hatte.
Hein sah mit Interesse, wie ich mir die Fäuste in den hohlen Bauch drehte, seufzte und wusste Bescheid.
»Los!«, kommandierte er.
Wir rappelten uns zusammen hoch und erkletterten die nächste Düne. Etwa fünftausend Schritt vor uns lag an der Bucht eine Stadt von ansehnlicher Größe.
Hein nickte zufrieden und sagte mit der Sicherheit eines Menschen, der sich auf seine Ortskenntnis verlassen kann:
»Stimmt!«
Wir trotteten mühsam am Strand entlang, in der Hoffnung, noch diesen oder jenen unserer Kameraden auflesen zu können. Damit war es leider nichts.
Unvermittelt standen wir plötzlich in einer breiten Straße. Kein Mensch ließ sich blicken, in der Ferne sausten Autos und bogen schwarmweise um die Ecken.
Wir suchten nach einem Bäcker- oder Fleischerladen und hofften, durch unseren jammernswerten Aufzug eine Mahlzeit zu erbetteln. Die schönen bunten Häuser, jedes einen Straßenblock breit, zeigten uns weder Schaufenster noch Ladeneingänge noch Reklamen.
»Junge, Junge«, Hein kratzte sich hinterm Ohr, »dat is ’ne stinkfeine Gegend, ’ne Art Uhlenhorst mit lütten Wolkenkratzern – bloß für’n Sonntag.«
Er spuckte kräftig aus und meinte, wenn das ’n orntlicher seebefahrener Ort wäre, müsse sich ein Seemannsheim finden lassen.
Wir schleppten uns mühsam weiter in der Hoffnung, dass die vornehmen Paläste abbröckeln und in schmale dunkle Proletarierbudiken übergehen würden, wo man versteht, wie es armen Teufeln zumute ist, denen das Salzwasser näher war als Erbsensuppe mit Speck.
Es blieb aber, wie wir es angetroffen hatten, und unsere Verzweiflung wuchs. Ich schlug vor, Fensterscheiben einzuschmeißen, dann würde man sich schon um uns kümmern. Aber womit? Die Straßen waren mit Gummi gepflastert und reinlich und wir merkten auf Schritt und Tritt, dass wir nicht hineingehörten, denn die blitzblanke Sauberkeit verhöhnt allzu nüchterne Mägen. Als wir so in die Luft guckten, weil von dort die guten Gedanken kommen, sahen wir über der Straßenkreuzung elegant geschwungene Brücken, die die flachen Dächer der Häuser miteinander verbanden. Dort oben in sechs oder mehr Stock Höhe gingen Menschen spazieren, das war deutlich zu erkennen. Hein missbilligte diese wunderliche Einrichtung und fand sie verdächtig, trichterte aber doch seine Hände vor den Mund und schrie:
»Ahoi!«
Bevor eine Antwort herunterkam, schlug uns ein neuer Schrecken in die Glieder. Es jagte nämlich ein Wagen heran, völlig geräuschlos und so schnell, dass uns keine Zeit blieb, beiseitezuspringen. Feierabend, dachte ich und überließ das Weitere der Unfallstatistik. Aber kaum zwei Meter vor uns wich das Fahrzeug aus und hielt so rasch und sanft, als wäre es gegen einen Berg von Watte gerannt.
Drei Männer in weißen Hosen und Sandalen kletterten heraus. Sie sahen aus, als hätten sie gut gefrühstückt und wollten nun zum Tennisplatz fahren, um sich Appetit für das Mittagessen zu machen. Sie bewegten sich wie Leute, die der Not den Rücken zukehren, frei und ohne Zwang. Ihr Auto – wirklich hatte ich noch nirgendwo einen so prächtigen Wagen gesehen – verströmte Millionärsgeruch, obwohl es nicht nach Benzin roch.
Sie schimpften nicht etwa, weil wir ihnen den Weg versperrt hatten, sondern lachten freundlich und schüttelten uns die Hände. Was sie dabei sprachen, verstanden wir nicht, aber es klang angenehm. Ehe wir recht zum Bewusstsein kamen, hatten sie uns im Auto verstaut. Wir sausten los, ohne dass jemand das Steuerrad hielt, flitzten um Ecken, wichen andern ebenso feinen Kraftkutschen aus, niemand hupte ...
Wir saßen steif und starr vor Angst, während die drei Herren, die uns zu dieser Spazierfahrt im Rekordtempo eingeladen hatten, sorglos wie Kinder lächelten und sich nicht im Geringsten darum kümmerten, dass die wild gewordene Maschine mit uns durchging.
Hein stieß mich leise an und flüsterte misstrauisch zwischen den Zähnen, ohne den Kopf zu drehen:
»Dat gefällt mich nich, Korl – dat is ’n gemeingefährlicher Jux. Keen Taifun schlägt mir in die Kaldaunen, aber dat Geschunkel in die Achterbahn bekömmt mich nich.«
– Und er war blass im Angesicht.
Wir fuhren durch ein Tor. Im Innenhof des Hauses schraubte sich die Straße wie ein ausgebohrtes Gewinde von Stockwerk zu Stockwerk. Dicht unterm Himmel hielten wir und durften aussteigen. Die Tennisspieler fassten uns unter die Arme, das hieß, wir sollten mit ihnen gehen. Heins Muskeln zuckten unter dem zerschlissenen Wollschwitzer. Ich riet ihm aber ab, schon jetzt handgreiflich zu werden, die Leute sähen nicht wie Bösewichter aus, auch mache eine allzu schnelle Faust am Kinn des Nachbarn keinen guten Eindruck. Da bezwang er sich. Das war zu unserm Vorteil. Wir traten in einen großen Speisesaal mit langen, weiß gedeckten Tafeln. Blumen waren zierlich zwischen den Tellern ausgestreut. Ich hatte Ähnliches in großen Hotels von außen durch die Fenster gesehen. Während wir den Ort musterten, rückten auf einem blanken Metallband inmitten des Tisches Schüsseln an, aus denen es dampfte. Wir sahen und hörten nichts mehr, die Welt hatte nur noch durch die Nasenlöcher Zutritt zu unserm Innern. Die Schüsseln machten vor uns halt und öffneten ihre silbrigen Deckel. Uns wurde schwach in den Knien, da saßen wir schon auf den Stühlen.
Es war uns anfangs peinlich, in Anwesenheit so sauber gekleideter Leute, die sich so bequem und wohlhabend in ihren Gebärden hielten, unsern Hunger zu stillen. Aber wir gewöhnten uns rasch, zumal noch einige Gerichte heranschwebten und uns niemand die Bissen in den Mund zählte. Die drei Leute in Tennisanzügen freuten sich über unsern Appetit – später staunten sie. Wir schnallten an die drei- oder viermal den Leibgurt nach. Endlich lehnten wir uns in die Sessel zurück und fühlten uns leiblich neu geboren.
Den Rosinenkuchen ließen wir unversehrt. Wir gedachten ihn als Proviant an uns zu nehmen, aber die Gelegenheit war gegen uns, mindestens einer von den dreien hatte immer ein Auge auf uns, wenn auch nur zufällig.
Wir reckten und dehnten uns, wobei unversehens Hein seinen Dank für die reichliche Mahlzeit kurz, aber sehr heftig zum Ausdruck brachte. Wir erschraken peinlich, traten doch gerade in diesem Augenblick einige sehr schöne junge Frauen durch die Tür, denen dieses unbedachte Geräusch nicht entgangen war. Sie waren indessen nicht beleidigt, sondern lachten und vermieden es nur, unsere Nähe zu suchen, wie auch die drei Tennisspieler, ohne uns zu verjagen, heiter blieben und lediglich einige Schritte zurückwichen.
Nachdem sie der Natur ihre Zeit gelassen hatten, schüttelten sie uns wie guten Freunden die Hände und gingen. Bezahlt hatten sie nicht, wir erwarteten mit einiger Besorgnis den Kellner. Stattdessen winkte uns eine von den Damen. Weil wir jedoch nicht glauben konnten, dass es uns galt, drehten wir die Köpfe weg. Sie kam näher, berührte unsere Schultern mit ihren feinen Händen und redete sehr zutraulich. Obwohl wir es nicht verstanden, merkten wir doch, dass wir mit ihr gehen sollten. Wir wussten keinen Grund, ihr diesen Wunsch zu verweigern, denn sie war sehr hübsch, nur etwas zu mager, meinte Hein.
Wir folgten ihr in den Fahrstuhl, sausten abwärts, trabten durch einige gekachelte Gänge und kamen in einen weiten hellen Raum. In dem großen runden Wasserbecken inmitten der Halle schwammen und plantschten Männer und Frauen. Badehosen trug niemand, aber sie bewegten sich trotzdem ganz natürlich und waren sehr lustig. Sie spielten wie schöne Tiere, freuten sich an der Gewandtheit ihrer prächtig geformten Leiber. Scheele Blicke auf...