Imbler | So weit das Licht reicht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 284 Seiten

Imbler So weit das Licht reicht

Die Kreaturen der Tiefsee und was sie mir über das Leben erzählen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-406-80658-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Kreaturen der Tiefsee und was sie mir über das Leben erzählen

E-Book, Deutsch, 284 Seiten

ISBN: 978-3-406-80658-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine besondere Faszination geht von den geheimnisvollsten Kreaturen der Tiefsee aus, die verborgen vor den Augen der Welt ein Dasein fernab vom Sonnenlicht fristen. Weißhaarige Yeti-Krabben, unsterbliche Quallen, wilde Goldfische, hungernde Tiefseekraken und hybride Schmetterlingsfische – in jedem Kapitel verbindet Sabrina Imbler naturkundliche Beobachtungen mit Geschichten aus dem eigenen Leben und reflektiert über das Erwachsenwerden, Anpassung, fluide Sexualität, Migration, Gemeinschaft und Umweltzerstörung. Dabei entsteht ein dichtes Geflecht aus meeresbiologischen Fakten und persönlichen Erfahrungen, das einen unwiderstehlichen Sog entwickelt. «So weit das Licht reicht» ist ein faszinierender Tauchgang von der Oberfläche bis zum Meeresgrund und nicht zuletzt ein Plädoyer für neue Visionen unserer Welt und der erstaunlichen Kreaturen, die sie beherbergt.

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Meine Mutter und der verhungernde Oktopus
Vor Jahren, als ich in der siebten Klasse war, stieg ein Oktopusweibchen vom Meeresgrund auf und fand Halt an einem Felsvorsprung vor der Küste Kaliforniens, eintausendfünfhundert Meter unter der Wasseroberfläche und Tausende von Metern außerhalb der Reichweite der Sonnenstrahlen. Doch im hellen Schein eines Tauchboots leuchteten die Umrisse des Tieres rötlich-violett wie eine gesalzene japanische Pflaume. Ich weiß von dem lila Oktopusweibchen, weil ein ferngesteuertes Tauchboot beobachtet hat, wie es sich auf die Klippe zubewegte. Das Tauchboot des Forschungsinstituts vom Monterey Bay Aquarium war unterwegs gewesen, um die vielen Graneledone-boreopacifica-Oktopusse zu beobachten, die dafür bekannt waren, an dieser Klippe Halt zu finden. Aber das Oktopusweibchen war das einzige Tier dort, und es bewegte sich langsam auf den Felsen zu. Als das Tauchboot etwas mehr als einen Monat später noch einmal zu diesem Felsen zurückkehrte, traf es auf denselben Oktopus – die Forscher*innen konnten das Tier an seinen Narben erkennen. Es hing an der Seite des Felsvorsprungs, die Arme um sich geschlungen wie eingerollte Straußenfarnspitzen und hielt auf diese Weise ein frisches Gelege umschlossen. In dieser Körperhaltung hatte der Oktopus etwa die Größe einer Pizza. Die großen schwarzen Augen blickten in den Abgrund des Canyons. Das Tauchboot kehrte wiederholt zurück, um die Oktopusmutter zu besuchen, die in ihrer Wachsamkeit erstarrt war. Sie bewegte sich nicht. Sie fraß nicht. Sie schrumpfte. Bei jedem Besuch war sie noch blasser geworden, gerade so, als hätte man sie in Milch getaucht. Ihre schwarzen Augen bewegten sich in fahlen Wolken. Die kieselige Haut hing ihr lose vom Körper. Immer wieder kehrte das Tauchboot zurück, bis es die Oktopusmutter in viereinhalb Jahren achtzehn Mal besucht hatte und die Forscher*innen eines Tages feststellen mussten, dass sie verschwunden war. Zurückgelassen hatte sie eine Silhouette aus zerfetzten Eikapseln, die wie zusammengeschrumpelte Luftballons am Felsen hingen. Dies verstanden die Wissenschaftler*innen als Zeichen dafür, dass die Brut erfolgreich geschlüpft war und ihre Mutter zum Sterben freigegeben hatte. Die meisten Oktopusmütter legen in ihrem Leben nur ein einziges Mal Eier ab und sterben, sobald die Brut geschlüpft ist. Die Wissenschaftler*innen, die die Oktopusmutter beobachtet hatten, erklärten, eine Brutdauer von viereinhalb Jahren sei bislang – also seit Beginn der Aufzeichnungen – bei keinem anderen Tier beobachtet worden. Mit anderen Worten: Kein anderes Lebewesen auf der Erde hat seine Eier so lange an seinem Körper gehalten und geschützt wie sie; in einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters wurde sie zur «Mutter des Jahres» im Tierreich erklärt. Die bisherige Rekordhalterin unter den Oktopussen, Bathypolypus arcticus, hatte offenbar vierzehn Monate lang in Gefangenschaft gebrütet, was damals noch weltbewegend zu sein schien. Als ich den obigen Artikel über den Oktopus las, überlegte ich kurz, ihn meiner eigenen Mutter zu zeigen, befürchtete aber, das wäre zu aufdringlich. Ich wollte unbedingt alles nur Mögliche über diese Oktopusmutter in Erfahrung bringen. Ich wollte wissen, wie sie diesen Felsen ausgesucht hatte und was für eine Strecke sie dafür hatte zurücklegen müssen. Und wie ihre Eier sich anfühlten, bevor sie sie ablegte, ob sie schwer waren, ob sie einen Abdruck auf ihrem Körper hinterließen. Und was sie bis dahin sonst noch vom Meer gesehen hatte, und woher sie wusste, wann es Zeit war, den Abgrund zu verlassen, die ihr vertraute, dimensionslose Weite. Im Abyss kann sich ein Körper dreidimensional bewegen. Im Abyss, wo ein Mensch vor Kälte erstarrt und vom Wasserdruck zermalmt auf den Meeresgrund sinken würde, kann ein Oktopus mäandern. Er kann umherstreifen und jagen und seine acht Gliedmaßen wie eine erblühende Blume entfalten. Wissen weibliche Oktopusse, was sie erwartet, wenn sie brüten? Lernt jede Mutter während des Wachehaltens etwas über diesen Vorgang dazu und fragt sich täglich, wie lange er noch dauern mag? Man stelle sich eine von Hunderten von Oktopusmüttern gesprenkelte Klippe vor, und jede von ihnen hungert, und jede ist allein. Womöglich ist der lila Oktopus in seiner Jugend an immer bleicher werdenden Oktopussen vorbeigezogen, die sich an den Rändern einer Schlucht festhielten, und hat erkannt, dass dies eines Tages auch sein – oder vielmehr ihr – Schicksal sein würde. Mehr als alles andere wollte ich wissen, warum die Oktopusmutter mit ihrem großen und fremdartigen Gehirn nicht aß, während sie ihre Eier bebrütete. Sie musste doch sicher Hunger gehabt haben. Ahnte sie womöglich, dass viele ihrer Babys es vielleicht nicht überleben würden, wenn sie ihren Wachposten verlassen würde, um zu jagen, zu fressen oder ihre Gliedmaßen zu strecken? Natürlich war mir bewusst, dass ich anthropomorphisierte, und doch konnte ich mir nicht vorstellen, wie ein mit Bewusstsein begabtes Lebewesen ohne so etwas wie Hoffnung viereinhalb Jahre lang hungern konnte. Was ich damit meine: Ich wollte wissen, ob sie es irgendwann bereut hat. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich meinen Körper erstmals irgendwann in der Unterstufe wahrgenommen, nachdem ich ein Weihnachtsgeschenk ausgepackt hatte – ein Trompe-l’œil-Shirt, das scheinbar aus zwei übereinanderliegenden Shirts bestand, obwohl es in Wirklichkeit nur eines war. Als ich es vor dem Spiegel anprobierte, bemerkte ich meinen Bauch, der sich weich und rund deutlich gegen den Stoff abzeichnete und unten herausschaute. Ich schämte mich dafür, dass ich ihn nicht früher bemerkt hatte und dass ich nicht darauf geachtet hatte. Meiner Mutter zufolge habe ich meinen Körper zu jener Zeit irgendwann in der Küche zum ersten Mal wahrgenommen. Sie sagt, ich sei reingekommen und auf sie zugegangen, hätte mein Shirt hochgezogen, meinen Bauch entblößt und zu ihr gesagt, ich sei dick. Sie sagt, diese Szene habe sich so sehr in ihr Gedächtnis eingebrannt, dass sie sie nach all den Jahren immer noch deutlich vor Augen habe. Meine Mutter, die 1,60 Meter groß ist, hat selten mehr als 52 Kilo gewogen. Und wenn doch, so sagte sie, sie sei dick. Als ich ein Kind war, erzählte sie mir, dass sie früher, als sie jünger war, 44,5 Kilo wog. Sie sagte, damals sei sie dünn gewesen. Als meine Mutter 50 Kilo wog, wog ich 52, dann 53,5 und dann über 56. Ich wusste das, weil ich es jeden Tag überprüfte, jeden Tag in ihr Badezimmer schlich und mich auf ihre digitale Waage stellte. Ich zog meine Kleidung aus und ließ sie neben die Waage fallen. Die Zahlen wirbelten durcheinander, und ich schloss die Augen. Ich glaube, ich hielt sie länger geschlossen als nötig, weil ich Angst hatte, diesen Zustand der Unwissenheit aufzugeben. Manchmal, wenn die Zahl enttäuschend war, und das war sie oft, wog ich mich erneut, stellte meine Füße um und verlagerte vergeblich mein Gewicht, als könnte ich dadurch die Masse meines Körpers günstiger positionieren oder auslagern. Aber die Anzeige blieb unverändert. Also stieg ich von der Waage, verdrückte mich in eine Ecke und zog mich wieder an. Schon damals wusste ich, dass ich nie so dünn sein würde wie meine Mutter – selbst in ihrer schlimmsten Version. Als ich die Highschool besuchte, entwickelten meine Mutter und ich ein Ritual. Sie zog mich zu ihrem Kleiderschrank, öffnete Säcke voller sorgfältig zusammengefalteter Kleidung und fragte, ob ich sie haben wolle – die Hosen, die nicht mehr passten, die Shirts, die nicht mehr hip waren. Und ich nahm das Bündel mit in mein Zimmer, probierte alles an und sah, wie meine Hüften herausquollen und wie mein eingeengter Körper um Platz rang. Und ich gab das Bündel zurück und sagte etwas wie «Das ist nicht mein Stil», und dann verging ein Jahr, bis wir die ganze Prozedur wiederholten, mein tapferes Quetschen und Stopfen, und so machte jede von uns sich auf ihre Weise etwas vor. Im Tierreich gibt es zwei Möglichkeiten, Mutter zu werden. Einige Tiere können sich im Laufe ihres Lebens mehrmals fortpflanzen, andere nur einmal. Der Mensch, wie die meisten Pflanzen und Wirbeltiere, hat mehr als eine Chance, sich zu vermehren. Wir können uns um unsere Babys kümmern und auf sie aufpassen, und dadurch erhöhen wir ihre Chancen, das Erwachsenenalter zu erreichen. Gegebenenfalls können wir sogar mit ihnen alt werden. Aber Lebewesen wie Oktopusse genießen keine mütterlichen Privilegien dieser Art. Die einzige Gelegenheit, die sie zur Fortpflanzung haben, bringt Hunderte oder Tausende von Babys hervor. Dadurch steigen die Chancen, dass zumindest ein paar von ihnen überleben. ...


Sabrina Imbler ist Schriftsteller:in und Wissenschaftsjournalist:in, lebt in Brooklyn und veröffentlicht Essays und Reportagen unter anderem in der New York Times, "The Atlantic", "Catapult" und "Sierra". "So weit das Licht reicht" ist Imblers Debüt und wurde vom Time Magazine zu einem der zehn besten Nonfiction-Bücher des Jahres 2022 gekürt.



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