E-Book, Deutsch, Band 23, 260 Seiten
Reihe: wtb Wieser Taschenbuch
Ivanji Stalins Säbel
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-99047-037-4
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 23, 260 Seiten
Reihe: wtb Wieser Taschenbuch
ISBN: 978-3-99047-037-4
Verlag: Wieser Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Josef Wissarionowitsch Stalin schenkt Marschall Tito einen mit Diamanten besetzten Säbel – das ist der Ausgangspunkt von Ivan Ivanijs spektakulärem Politthriller, der uns an die Schauplätze von Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien führt. Das Geheimnis um diese Waffe ist so brisant, dass sich sogar die CIA und der Mossad dafür brennend interessieren. Ein packendes Buch aus der Feder eines der prominentesten serbischen Literaten.
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1.
Im Kino zögern Mörder bevor sie töten. Das sympathische Opfer ist gefesselt, möglicherweise ist eine Höllenmaschine an seinem Körper befestigt, oder es wird mit Benzin übergossen, der Verbrecher erklärt langwierig warum er foltern, sich rächen und töten will und gibt damit dem Retter Zeit im letzten Augenblick zu erscheinen. Happy End! Im wahren Leben, insbesondere in Serbien im Laufe der letzten Jahrzehnte, ist es nicht so. Es wird sofort und ohne Warnung geschossen. Belgrad im Herbst. Zwei Maschinenpistolensalven. Krähen steigen auf und kreisen nervös krächzend über den Baumkronen der Parkanlage Toptschider. Die wenigen Passanten schenken der Schießerei keine Aufmerksamkeit. In der unmittelbaren Nähe befinden sich die Kasernen und Schießplätze der Garde. Vielleicht ist eine Übung im Gange. Die Monate September und Oktober sind für die serbische Hauptstadt die schönste Jahreszeit. Der Winter ist kalt und lang, noch im April peitschen nur zu oft eisige Winde über die Stadt, der schlimmste heißt Koschawa und weht, wie so vieles andere Unangenehme, aus Rußland. Die Fernheizung ist kalendergerecht bereits abgeschaltet, in manchen Wohnungen friert man erbärmlich. Plötzlich bricht im Mai der Sommer aus, überspringt den Frühling, und Hitze quält die Menschen bis Ende August. Erst im Herbst wird es mild, die Sonne scheint und bringt Weintrauben und viel Obst zur Reife. Der Altweibersommer verdient hier seinen Namen. Auf dem herrschaftlichen, Dedinje genannten Hügel verbirgt sich hinter hohen Mauern die ehemalige Residenz von Marschall Tito. Außer der Villa, in der er gewohnt hat und die fast zwanzig Jahre nach seinem Tod von Bomben der NATO im Frühjahr 1999 zerstört wurde, stehen auf demselben Grundstück noch einige andere Gebäude. In dem einen, dem Treibhaus für Rosen, hat er unter einem Marmorblock seine letzte Ruhestätte gefunden. In anderen Bauwerken sind die Geschenke ausgestellt, die der langjährige Staatspräsident bekommen hat. Die wertvollsten befinden sich in einem Haus mit ovalem Grundriß, das von den übrigen abgetrennt ist und einen besonderen Eingang hat. Slobodan Miloševic, Diktator Serbiens und als mutmaßlicher Kriegsverbrecher im holländischem Gefängnis verstorben, war auf dem Höhepunkt seiner Macht in diese Villa eingezogen und benützte dort alles: Möbel, Bettwäsche, Handtücher, Geschirr, Eßbesteck, Teppiche, Bilder, Vasen, als sei es sein Privateigentum. Hier wurde er im Herbst 2000 verhaftet. Das berühmteste Exponat war ein Säbel, den 1944 Stalin persönlich Tito für seine Verdienste im Kampf gegen den Faschismus geschenkt hat. Wenn man von dem Eingangsportal die Straße Užicka-ulica westwärts geht, kommt man an der amerikanischen Botschafterresidenz und anderen Luxuspalais vorbei. So gelangt man zur Straßenkreuzung mit dem Boulevard des Friedens und von dort aus führt eine nach dem amerikanischen, kommunistischen Romancier, Theodor Dreiser benannte Gasse steil bergab. Auf der linken Seite befindet sich eine Anstalt für die Behandlung von Drogenabhängigen, danach Häuser mit Unterkünften für Offiziere und zuletzt der Eingang zum Gelände mit den Kasernen der Garde. Gegenüber stehen einige andere einfache Wohnblocks, nach ihnen folgt ein wild bewachsenes, anscheinend noch unbebautes Gelände, und am unteren Ende wartet die hübsche kleine, den heiligen Aposteln Petrus und Paulus geweihte Kirche auf fromme Besucher. Wenn man weiter spaziert, gelangt man in einen Park mit dem im alten serbischen Bauernstil erbauten Lustschloß des Fürsten Miloš Obrenovic. Vor ihm steht der würdigste Baum der ganzen Stadt, eine riesige, Jahrhunderte alte Platane in deren Rinde unzählige Generationen verliebter Paare ihre Namen eingeritzt haben. Anfang der Sechzigerjahre begannen Bohrarbeiten am Berg. Es sollte ein Geheimnis bleiben, aber in Belgrad bleibt nichts verborgen, man erfährt alles und noch mehr, was heißen soll, auch so manches, was gar nicht existiert. Es wurde ein großer Komplex gebaut der sechs Stockwerke tief in die Erde reichte. Der Aufzug führte direkt aus der Wohnung des Staatschefs in ein Labyrinth von Tunneln mit mehreren geheimen Ausgängen. Einer von ihnen befand sich in einem anscheinend verwahrlosten kleinen Haus ohne Nummer in der Theodor-Dreiser-Straße gleich oberhalb der Kirche der heiligen Apostel Petrus und Paulus, gegenüber vom Haupteingang zu den Gardekasernen. Im Jargon der Gardesoldaten wird dieses geheimnisvolle Gebäude schlicht »Objekt« genannt. Es wird Tag und Nacht von Kameras und Bewegungssensoren überwacht, außerdem kreisen pausenlos Wachposten auf einem besonders angelegten Pfad um das Bauwerk herum, das wie eine Hütte ausschaut. Alles was außerhalb ihres vorgegebenen Weges liegt, nennen die Soldaten der Einfachheit halber, »Außen«, das Haus selbst, das sie nicht betreten, dem sie sich nicht einmal annähern dürfen, »Innen«. Am frühen Morgen des fünften Oktober 2004 sitzen die beiden Soldaten Draschen und Dragan in ihrer Kaserne beim Frühstück. Sie sind bester Laune, freuen sich, weil sie gemeinsam der Wache zugeteilt worden sind, die heute das Objekt bewachen muß, sie sind Freunde und haben die Absicht, sich über den Urlaub zu verabreden, den sie gemeinsam verbringen wollen. Im Dienst soll zwar nicht geplaudert, sondern aufgepaßt werden, aber schon jahrzehntelang wird hier auf dieselbe Weise Wache geschoben, und es ist noch nie etwas Denkwürdiges passiert. Als Soldat fragt man sich nicht, warum man wo was zu tun hat, alles scheint ohnehin sinnlos und nichts anderes als Schikane, aber man hat zu gehorchen. Schließlich gibt es auch weitaus unangenehmere Aufgaben als vormittags unter schönen Bäumen die Waffen spazieren zu tragen. Gefürchtet in der Garde sind Paradeauftritte zum Empfang von Staatsgästen aus dem Ausland, wenn man lange stramm stehen muß, oder das Schlimmste: die Teilnahme an Manövern, wobei man beweisen soll, daß man die beste militärische Einheit im Lande ist. Draschen und Dragan stammen aus benachbarten Dörfern der Region Schumadija, dem Herzen Serbiens. Beide sind einundzwanzig Jahre alt. In die Garde werden seit jeher vor allem Burschen vom serbischen Land einberufen; bärenstarke, hübsche Jungen. Sie gelten als verläßliche, verantwortungsvolle Soldaten, traditionell sind sie tapfer und nicht überflüssigerweise neugierig. Intellektuelle gelangen nur ausnahmsweise in diese Truppe. Für die Eltern im serbischen Dorf ist es ein Festtag, wenn der Sohn einzurücken hat. Das wird gefeiert wie eine Hochzeit. Man ist stolz, daß der Junge zum Mann geworden ist. Es wird sogar ein Lied gesungen, »Gern rückt der Serbe ein zu den Soldaten…« Hunderte von Gästen werden bewirtet, Verwandte, Nachbarn und Freunde der Nachbarn, möglichst das ganze Dorf. Man tanzt bis zur frühen Morgenstunde, zuerst Kolo, da halten sich die Burschen und Mädchen noch züchtig an den Händen, erst später kommen diese modernen Tänze an die Reihe, bei denen man sich umarmen und abtatschen darf. Das Soldatenfrühstück besteht aus dünnem Kaffee, Schwarzbrot mit Marmelade, aber sie tischen sich und ihren Kameraden auch einheimischen Schinken, getrocknetes Rindfleisch, Wurst und Speck auf. Das Fresspaket ist für einen von ihnen erst gestern angekommen. Jetzt haben sie den Geschmack der Heimat auf den Gaumen. Was immer einer hier von zu Hause bekommt, wird kameradschaftlich geteilt, so ist es Sitte, und jedermann freut sich. Das Gespräch dreht sich um Filme, die in den städtischen Kinos laufen, welchen von ihnen man am Samstag, wenn man Ausgang haben wird, besichtigen soll. Dann ist es Zeit für die beiden zum Spieß zu gehen, sich die Waffen und Munition ausgeben zu lassen. Sie ziehen die Windjacken ihrer Tarnuniform an und gürten sich. Der Feldwebel führt sie zur Wachablösung. Ein angenehmer Herbsttag. Noch sind die Äste nicht ganz kahl, sondern mit buntem Laub geschmückt, aber der Pfad ist von abgefallenen Blättern wie von einem bunten Teppich bedeckt. Zwei Stunden später sind Draschen und Dragan tot. Die Posten am Kasernentor haben das Feuer aus den Maschinenpistolen gehört. Der Feldwebel vom Dienst rennt zum »Objekt« und findet seine beiden Soldaten blutend auf dem Pfad. Einer von ihnen lebt noch und hat die Kraft zu röcheln: »Von Innen, von Innen…« Der Feldwebel beugt sich in Panik über die Gardisten, zieht unbedacht ihre Körper beiseite, zertritt das rot-braune Laub auf dem das Blut unnatürlich grell rot wirkt. Er zerstört Spuren. Der Mann ist kein Kriminalbeamter, sondern ein erschrockener Unteroffizier, der sich vor allem fragt, ob er selbst einen Fehler gemacht, etwas unterlassen hat und deshalb zur Verantwortung gezogen wird. Er löst Alarm aus, versucht Erste Hilfe zu leisten ? aber der verwundete Soldat stirbt ? zerrt dabei die Leichen...