Jachina | Suleika öffnet die Augen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 541 Seiten, E-Book Epub

Jachina Suleika öffnet die Augen

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1287-0
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 541 Seiten, E-Book Epub

ISBN: 978-3-8412-1287-0
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Dieser Roman trifft mitten ins Herz.' Ljudmila Ulitzkaja.

Mit fünfzehn wurde die tatarische Bäuerin Suleika verheiratet. Vier Kinder hat sie ihrem erheblich älteren Mann geboren. Alle hat sie bald beerdigen müssen. Für ihren Mann und ihre fast hundertjährige herrische Schwiegermutter ist sie nichts als eine Arbeitskraft von geringem Wert. Da bricht ein neues Unglück über sie herein: Die Familie wird enteignet, ihr Mann erschossen. Sie kommt auf den monatelangen Transport nach Sibirien. Unterwegs entdeckt sie, dass sie wieder schwanger ist. Sie muss beim Aufbau einer Siedlung fernab aller Zivilisation mitarbeiten und findet dort endlich die wahre Liebe.

'Dieser Roman ist ein literarisches Meisterwerk, das sich auf sorgfältig recherchierte historische Tatsachen stützt. Gusel Jachina fesselt ihre Leser von der ersten bis zur letzten Seite und führt damit die besten Traditionen des russischen Gesellschaftsromans fort.' Neue Zürcher Zeitung.

'Die Autorin schreibt uns ihre Heldin mit genauem Blick und leichter Hand mitten ins Herz hinein.' Brigitte Woman.



Gusel Jachina, geboren 1977 in Kasan (Tatarstan), russische Autorin tatarischer Abstammung, studierte an der Kasaner Staatlichen Pädagogischen Hochschule Germanistik und Anglistik und absolvierte die Moskauer Filmhochschule. Ihre Romane »Suleika öffnet die Augen«, »Wolgakinder« und »Wo vielleicht das Leben wartet« wurden in Dutzende Sprachen übersetzt. Gusel Jachina lebt in Kasachstan.

Jachina Suleika öffnet die Augen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Die Reise beginnt


Ein tolles Weib.

Ignatow reitet an der Spitze des Zuges. Hin und wieder hält er sein Pferd an und lässt die Karawane an sich vorüberziehen. Eindringlich mustert er jeden Einzelnen – die finster dreinblickenden Kulaken in den Schlitten und seine Männer mit den vom Frost geröteten Gesichtern. Dann jagt er wieder nach vorn, denn er mag es, an der Spitze zu reiten. Vor sich nichts als die lockende Weite und den Wind.

Er gibt sich Mühe, nicht zu der Frau hinzuschauen, damit die sich nichts einbildet. Aber wie soll das gehen bei den Formen, die einem so ins Auge springen?! Sie sitzt im Sattel wie auf einem Thron. Bei jedem Schritt des Pferdes wippt sie auf und ab, hält sich kerzengerade, die von dem weißen Schafpelz umhüllte Brust hervorgestreckt und leicht mit dem Kopf nickend, als wollte sie sagen: Ja, Genosse Ignatow, ja, Wanja, ja …

Er richtet sich in den Steigbügeln auf und prüft den ganzen Zug mit einem kritischem Blick. Dabei hält er die flache Hand über die Augen, als müsste er sie vor der Sonne schützen. Doch er will nur verhindern, dass sie immer wieder an Nastassja hängenbleiben. Das ist ihr Name.

Mit lautem Knirschen gleiten die Schlitten über den Schnee. Ab und zu hört man die Pferde schnauben, aus deren bereiften Nüstern Dampfwölkchen in den wunderlichsten Farben aufsteigen.

Ein Bauer mit grimmiger Miene und zottigem schwarzem Bart lenkt seine Stute nervös und gereizt. Hinter ihm sitzt seine bis zu den Augenbrauen in ein riesiges Tuch gehüllte Frau, auf jedem Arm ein Steckkissen mit einem Baby und dahinter eine bunte Kinderschar. »Ich bring euch um!«, hat er gebrüllt, als sie in sein Haus kamen. Mit einer Mistgabel hat er sich auf Ignatow gestürzt. Doch als der Trupp die Gewehre auf Frau und Kinder richtete, ist er rasch wieder zur Besinnung gekommen. Nein, mit einer Mistgabel kann man Ignatow nicht beeindrucken …

Der betagte Mullah hält die Zügel ungeschickt und hat sich die wollenen Fäustlinge verkehrt herum angezogen. Man sieht, dass er sein Leben lang nichts Schwereres als ein Buch in der Hand gehalten hat. Sein teurer Karakulmantel glänzt in der Sonne. Der wird die Reise nicht überstehen, denkt Ignatow gleichgültig. Entweder nehmen sie ihm den schon bei der Übergabe ab, oder er wird ihm unterwegs gestohlen. Was hat er sich auch so herausgeputzt, wir fahren doch nicht auf eine Hochzeit … Seine füllige Frau hockt wie ein Häufchen Unglück hinter ihm. Auf dem Schoß hält sie einen in eine Decke gehüllten eleganten Käfig. Sie konnte sich nicht von ihrer geliebten Katze trennen. Wie dumm kann man nur sein?

Auf den nächsten Schlitten einen Blick zu werfen ist Ignatow unangenehm. Ja, er hat ihren Mann erschossen, und jetzt ist sie ganz allein. Das passiert ihm nicht zum ersten Mal. Aber der Kerl war selber schuld, was musste er auch mit der Axt gegen ihn ausholen wie ein Wahnsinniger? Er hat ihn doch nur nach dem Weg fragen wollen … Doch ein flaues Gefühl im Magen wird Ignatow nicht los. Ist es Mitleid? Das Weib ist ja wirklich winzig, und so dünn. Ihr Gesicht ist blass, als sei es aus Papier. Die übersteht die Reise nicht. Zusammen mit dem Mann vielleicht, aber so … Ignatow kommt es vor, als habe er nicht nur den Mann, sondern auch sie getötet.

Jetzt tun ihm schon die Kulaken leid. Das fehlte gerade noch.

Als die kleine Frau vorüberfährt, hebt sie den Blick. Was die für riesige grüne Augen hat, du meine Güte! … Sein Pferd beginnt zu tänzeln. Ignatow dreht sich im Sattel, um sie genauer anzuschauen, aber der Schlitten ist schon vorbei. Im hinteren Teil klafft eine große schwarze Kerbe. Die ist von der Axt, und Ignatow hat sie am Tag zuvor geschlagen.

Während seine Augen sich nicht davon lösen können, spürt er bereits, dass sich ihm von hinten ein rotbraunes zottiges Pferd nähert, über dessen Mähne Nastassjas üppiger Busen auf und ab wogt, den der Tulup kaum zu bändigen vermag und der bei jeder Bewegung über die ganze Ebene zu schreien scheint: Ja, Wanja, ja, ja, ja …

Diese Nastassja war ihm schon am Sammelpunkt aufgefallen.

Die frisch Mobilisierten stellten sich gewöhnlich im Hof direkt unter seinem Fenster auf. Zwei Tage lang hörten sie dort Agitationsreden und übten mit dem Gewehr. Am dritten Tag erhielten sie ihre Teilnahmebescheinigung und wurden dem Mitarbeiter der GPU für Sonderaufträge unterstellt, der sie sogleich mit dem ersten Auftrag losschickte. Am nächsten Morgen füllte bereits eine neue Gruppe den Hof. Es kamen viele Freiwillige, die bei der gerechten Sache mittun wollten. Darunter auch Frauen, doch die meldeten sich häufiger bei der Miliz zum Polizeidienst. Daran taten sie recht, denn die GPU, die Geheimpolizei, war eine ernste Sache, etwas für Männer.

Nastassjas Fall bestätigte das nur. Als sie auftauchte, stockte auf dem ganzen Hof die Arbeit. Die frisch Mobilisierten starrten sie mit aufgerissenen Augen an und verdrehten sich wie verhext die Hälse nach ihr, dem Instrukteur hörten sie kaum noch zu. Der war selber hin und weg, geriet ins Schwitzen, als er ihr den Aufbau des Gewehrs erklären sollte. Das konnte Ignatow von seinem Fenster genau sehen. Als man die Gruppe, der sie zugeteilt war, schließlich irgendwie eingewiesen und zum Einsatz geschickt hatte, atmeten alle erleichtert auf. Doch die süße Erinnerung an das schöne Weib saß ihm wie ein Eisklümpchen im Bauch.

An diesem Abend ging Ignatow nicht zu Ilona. Die war für ihn eigentlich genau richtig – nicht zu jung (schon vom Leben gebeutelt und daher nicht zu stolz) und nicht zu alt (immer noch hübsch anzuschauen). Sie hatte die richtige Figur (etwas zum Anfassen) und war total in ihn verschossen. Außerdem hatte sie in einer Gemeinschaftswohnung ein großes Zimmer – zwölf Quadratmeter. Mit ihr hätte er leben können, aber er wollte nicht. Sie hatte es ihm direkt angeboten: »Leben Sie mit mir, Iwan!«, aber er brachte es nicht über sich.

Wenn er sich auf seinem harten Bett im Wohnheim hin und her wälzte, hörte er die Bettnachbarn schnarchen und dachte über das Leben nach. War es nicht eine Gemeinheit, an ein neues Weib zu denken, wenn das bisherige sich noch Hoffnung machte, auf ihn wartete und bestimmt schon die Kissen aufgeschüttelt hatte? Nein, entschied er, eine Gemeinheit war das nicht. Gefühle sind dem Menschen gegeben, damit er brennt. Wenn er keine Gefühle mehr hat, dann brennt da auch nichts mehr.

Ein Schürzenjäger war Ignatow nie. Hochgewachsen, gut anzuschauen und mit einer festen Überzeugung fiel er den Frauen auf, ohne dass er etwas dafür tun musste. Viele wollten ihm gefallen. Aber er hatte keine Eile, sich mit einer einzulassen oder sich gar ernsthaft zu verlieben. Die Frauen, mit denen er bisher etwas gehabt hatte, konnte er an den Fingern einer Hand abzählen – das war ihm regelrecht peinlich. Lange hatte es sich einfach nicht ergeben. 1918 trat er der Roten Armee bei, und los ging’s: Zuerst der Bürgerkrieg, dann schlug er sich in Mittelasien mit den Basmatschen … Wahrscheinlich würde er immer noch in den Bergen den Säbel schwingen, wäre da nicht Bakijew gewesen. Der galt zu dieser Zeit in Kasan bereits als ein großer Mann. Aus dem schlaksigen, rothaarigen Mischka war der gesetzte Tochtamysch Muradowitsch mit glattrasiertem Schädel und einem goldenen Kneifer in der Brusttasche geworden. Er holte Ignatow nach Tatarien zurück, wo er zu Hause war. Komm zu mir, Wanja, sagte er, ich brauche unbedingt Leute, denen ich vertrauen kann. Ohne dich geht es nicht. Der Schlaukopf wusste genau, wie man Ignatow kriegen konnte. Der ließ sich überreden und eilte in die Heimat zurück, um dem Freund beizustehen.

Das war der Beginn seiner Tätigkeit bei der GPU von Kasan. Besonders aufregend war sie nicht (Papiere, Versammlungen, dies und das), aber wozu sich jetzt darüber beklagen … Bald darauf lernte er eine Sekretärin aus einem Büro an der Bolschaja Prolomnaja-Straße kennen. Sie hatte weiche, üppige Schultern und hörte auf den traurigen Namen Ilona. Erst jetzt, als er schon dreißig war, erlebte Ignatow zum ersten Mal die Freuden einer längeren Gemeinschaft mit einem einzigen Menschen: Schon ganze vier Monate ging er bei Ilona ein und aus. Verliebt in sie war er nicht. Er fand es angenehm und gemütlich bei ihr – das ja. Aber lieben …

Ignatow begriff nicht, wie man eine Frau lieben konnte. Man liebte große Dinge – die Revolution, die Partei, das eigene Land. Aber eine Frau? Wie konnte man sein Verhältnis zu so verschiedenen Dingen mit ein und demselben Wort ausdrücken, gleichsam irgendein Weib und die Revolution auf eine Stufe stellen! Das war einfach Blödsinn. Das traf selbst auf Nastassja zu. Die war aufregend und sehr verführerisch, aber doch nur ein Weib. Mit der konnte man ein, zwei Nächte verbringen, maximal ein halbes Jahr, sie als Mann genießen, aber das war’s. Was für eine Liebe sollte das sein? Gefühle, ein Feuer von Emotionen – ja. Solange es brennt, ist es schön; wenn es erlischt, pustet man die Ascheflocken fort und lebt weiter. Daher gebrauchte Ignatow nie das Wort »lieben«, um es nicht zu entweihen.

Eines Morgens ruft ihn Bakijew zu sich. Jetzt, Freund Wanja, so sagt er zu ihm, kriegst du endlich einen richtigen Auftrag. Du reitest aufs Land, um gegen die Feinde der Revolution zu kämpfen. Davon gibt es dort noch viele. Ignatows Herz hüpfte vor Freude: Endlich wieder aufs Pferd und in den Kampf! Er erhielt das Kommando über ein paar Rotarmisten und einen Trupp frisch Mobilisierter. Unter ihnen im weißen Tulup auf rotbraunem Pferd – sie, sie, die Begehrte … Das Schicksal hatte sie...


Ettinger, Helmut
Dr. Helmut Ettinger, Dolmetscher und Übersetzer für Russisch, Englisch und Chinesisch. Er übersetzte Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Polina Daschkowa, Darja Donzowa und Sinaida Hippius, Michail Gorbatschow, Henry Kissinger, Roy Medwedew, Valentin Falin, Antony Beevor, Lew Besymenski, Gusel Jachina und viele andere ins Deutsche.

Jachina, Gusel
Gusel Jachina, geboren 1977 in Kasan (Tatarstan), russische Autorin und Filmemacherin tatarischer Abstammung, studierte an der Kasaner Staatlichen Pädagogischen Hochschule Germanistik und Anglistik und absolvierte die Moskauer Filmhochschule . “Suleika öffnet die Augen“ ist ihr erster Roman.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.