E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Reihe: Jaspari & van Loon ermitteln
Jacob Die Toten von Friesland
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-28437-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman. Ein Fall für Jaspari und van Loon
E-Book, Deutsch, Band 1, 368 Seiten
Reihe: Jaspari & van Loon ermitteln
ISBN: 978-3-641-28437-4
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schiermonnikoog, Aurich, Sylt. Kurz hintereinander werden drei Leichen in unterschiedlichen friesischen Regionen gefunden. Den Opfern sind Botschaften in die Haut geritzt, ein Mordmotiv ist nicht erkennbar. Der junge Kriminalhauptkommissar Marten Jaspari übernimmt die Ermittlungen in Deutschland, stößt jedoch schnell an seine Grenzen. Erst die Zusammenarbeit mit der niederländischen Kollegin Iska van Loon führt zu einem alten Geheimnis und zu einem ungeheuerlichen Verdacht. Als eine weitere Leiche auftaucht, rennt ihnen die Zeit davon – und der Fall spitzt sich dramatisch zu.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Schiermonnikoog. Freitag, 25. Juli
21:30 Uhr
Es war ihr Chef. Iska van Loon blickte mit einer Geste der Entschuldigung zu Maaike und Marc, bevor sie das Gespräch annahm. »Hey, Dirk, was kann ich für dich tun?«
»Arbeiten.« Er räusperte sich. »Einen Tatort ansehen. Hast du Zeit?«
Nein, hatte sie nicht. Heute war der letzte Tag ihres gemeinsamen Urlaubs. Zwei Wochen im Ferienhaus ihrer Familie, wie die letzten zehn Jahre schon, seitdem sie das Sorgerecht aufgeteilt hatten. Diese zwei Wochen gehörten die beiden ihr, bevor sie sie wieder an ihren Ex-Mann abgeben musste, von jedem zweiten Wochenende abgesehen. Und der letzte Abend war sowieso heilig. Die Skatkarten lagen schon auf dem Tisch, um Mitternacht würden sie einen Horrorfilm gucken, irgendetwas Trashiges mit viel Blut. Außerdem hatten sie vor fünf Minuten Pizza bestellt, es war ihr eigener Vorschlag gewesen.
»Worum geht es denn?«
»Du musst wirklich sagen, wenn es nicht passt. Es ist offensichtlich Mord. Ich dachte nur, weil du eh im Moment auf deiner Nordseeinsel bist …«
»Ein Mord. Hier auf Schiermonnikoog?«
»Die Kollegen von der Polizei vor Ort haben die Meldung eben erst herausgegeben. Eindeutig Mord, aber sehr undurchsichtige Begleitumstände. Vielleicht sowieso ein Fall für uns.« Der der Nationale Politie war unter anderem auf die Strafverfolgung bei schwerer und organisierter Kriminalität sowie die Terrorismusbekämpfung spezialisiert. »Wenn ich jetzt ein Team vom Festland losschicke, wären die erst in ein paar Stunden da. Darum kam ich auf dich.«
»Was ist denn passiert?«
Wenn sie den Fall jetzt annahm, dann würde sie ihn auch zu Ende führen müssen. Wer zuerst am Tatort ankam, übernahm in der Regel auch die Leitung bei den Ermittlungen. Eigentlich brauchte sie keine Entscheidung mehr zu treffen, die war schon gefallen. Urlaub hin oder her, es war ihr Fall. Es hätte sich komisch angefühlt, wenn einer der Kollegen ihn zugeordnet bekommen hätte. Mehr noch, wahrscheinlich hätte sie es Dirk übel genommen, wenn er sie nicht angerufen hätte.
»So ganz schlau bin ich aus den Kollegen nicht geworden, sie berichteten von runenartigen Schriftzeichen. Die Bilder waren verstörend, man muss aber auch sagen, das Licht war schlecht. Ich leite ihre Meldung an dich weiter. Schau dir das alles selbst an. Die Spurensicherung wird wahrscheinlich erst morgen früh eintreffen. Wir telefonieren nachher noch, wenn du dir einen Überblick verschafft hast.«
»Ich mache mich direkt auf den Weg.«
»Danke dir. Bis nachher.«
Sie beendete den Anruf. Marc und Maaike blickten sie an, die beiden hatten jedes Wort mitgehört und wussten, dass sich die Abendplanung gerade geändert hatte.
»Du hast gerade einen Fall bekommen?«, fragte Marc. Sie konnte den Stolz aus seiner Stimme heraushören. Ich bin eine Mutter, mit der man angeben kann, dachte Iska. Na ja, schränkte sie ein. Marc war dreizehn Jahre alt. Sie sollte sich nichts einbilden, das war nicht unbedingt das Alter, in dem man sich als Junge so sehr mit seiner Mutter identifizierte, cooler Beruf hin oder her.
»Ja. Tut mir leid, dass ich unsere Abendplanung durcheinanderbringe.«
»Cool.« Er schien sich zu freuen. Vielleicht ein wenig zu sehr.
Maaike sagte nichts. Sie saß in ihrer Lieblingsecke auf dem Sofa, in die Kuscheldecke eingehüllt, und tippte auf ihrem Smartphone herum, als wäre nichts passiert.
»Ist alles okay?« Maaike antwortete nicht, sie hatte ihren verliebten Gesichtsausdruck aufgesetzt und grinste gedankenverloren in Richtung Display, wie immer, wenn ihr Typ ihr geschrieben hatte. Erste Liebe. Iska erinnerte sich daran, wie sie und Daniel, Maaikes und Marcs Vater, sich damals so oft geschrieben hatten, das waren noch SMS gewesen, und vor allem nicht kostenfrei. Es war ein Kampf um jedes Wort gewesen, um das Zeichenlimit nicht zu überschreiten. Ein Leben mit Schmetterlingen im Bauch. Sie hatte früh gewusst, dass er der Richtige für Nachwuchs war. Maaike war ihr gemeinsames Wunschkind gewesen, sie hatte viel von ihrem Vater, die gleiche liebe, aufopfernde, ehrliche Art. Sie würde auf ihre Tochter aufpassen, versprach sich Iska in Gedanken. Wehe, dieser Kerl brach ihr das Herz.
Ihr eigenes Smartphone vibrierte, die von Dirk weitergeleitete Meldung. Der Tote war bereits identifiziert worden, Ruben Veenstra, der örtliche Fahrradhändler. Ein Aussteiger, vormals Manager eines IT-Unternehmens aus Amsterdam. Er hatte sich während seiner Urlaube in die Insel verguckt und war schließlich übergesiedelt. Sie erinnerte sich, wie eines Tages das Namensschild über der Tür des Geschäftes geändert wurde. Das war bestimmt über zehn Jahre her. Sie hatte ihn als ruhigen, freundlichen Menschen in Erinnerung. In den letzten Jahren hatte er sich im Stadtrat immer wieder mit neuen Ideen dafür eingesetzt, die Insel für Bewohner und Touristen attraktiver zu machen. Zuletzt hatte er sich für eine Modernisierung des Gemeindehauses von Schiermonnikoog engagiert, in dem nun auch Räumlichkeiten und Säle für Seminare, Kongresse und Feiern angemietet werden konnten.
Der Nachricht waren Fotos des Opfers beigefügt. Iska schluckte, es war eindeutig Ruben. Eine Detailaufnahme des Oberkörpers war dabei, zwar schlecht ausgeleuchtet, zeigte aber eindeutig Schnittwunden.
Die Kollegen würden am Tatort auf sie warten. Keine Adresse, nur ein Kreuz auf einer Landkarte.
Die festen Wanderstiefel lagen noch im Hausflur, wo sie sie nachmittags ausgezogen hatte. Ruben war östlich des Dorfes aufgefunden worden, in dem Naturschutzgebiet, in dem die Wiesen und Dünen weitgehend sich selbst überlassen waren. Gegen den allgegenwärtigen Wind wickelte sie sich einen Schal um den Hals.
»Es könnte später werden, Mama, oder?« Marc schlurfte zu ihr in den Flur, auch er hatte sein Smartphone in der Hand, auch er tippte dort irgendetwas ein. Und grinste recht ähnlich wie eben noch seine Schwester. »Dann bin ich nach der Pizza auch gleich noch mal weg.«
Bloß nicht. Und die Pizza hatte sie auch schon wieder vergessen. »Moment – äh, ich meine, nein!«
»Was?«
»Mir wäre es lieber, wenn ihr beide heute Abend zu Hause bleibt.« Die Verblüffung war ihrem Sohn deutlich im Gesicht abzulesen. »Ich möchte erst wissen, was da draußen passiert ist, okay?«
»Wenn mir jemand mit einer blutigen Axt entgegenkommt, laufe ich vor ihm weg, versprochen.«
»Marc, das ist nicht witzig. Bleibt zu Hause, bitte.«
»Vergiss es.«
Und Marc kommt ganz nach mir, stellte sie resigniert fest. »Ich verbiete es, verstanden? Ende der Diskussion.«
»Ich hab dich lieb, Mama«, sagte er grinsend. »Wir sehen uns morgen.«
»Ich verlasse mich auf euch!« Das würde nun auch nichts nützen, da machte sie sich keine Illusionen. Sie winkte noch einmal zu Maaike ins Wohnzimmer, dann zog sie die Tür hinter sich zu.
Das Ferienhaus hatten einst ihre Großeltern väterlicherseits gebaut, deren Familie schon immer als Fischer hier gelebt hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es die van Loons zwar auf das Festland verschlagen, aber sie hatten den Grund und Boden auf Schiermonnikoog nie aufgegeben. Und mit irgendwelchen Tricks hatte ihr Vater es auch geschafft, eine Fahrerlaubnis für Autos zu erhalten, die eigentlich nur den Insulanern zustand. Sie öffnete das vom Wetter gezeichnete hölzerne Garagentor und stieg in den uralten Passat, das »Inselauto«, wie sie ihn nannten.
Behutsam steuerte sie den Wagen durch den abendlichen Trubel im Dorf. Touristen flanierten in Ausgehkleidung im Dämmerlicht, die Restaurants waren gut besetzt. Die typische Unbeschwertheit auf einer Urlaubsinsel in der Nordsee. Iska mochte die Ironie, dass der Name der Insel an ganz andere Wurzeln erinnerte: Auf Westfriesisch hieß »grau«, »Mönch« und »Insel«, die Insel der grauen Mönche. Die Zisterziensermönche, die die Insel im Mittelalter bewirtschaftet hatten, trugen graue Kutten.
Hinter den letzten Häusern bog Iska auf den Heereweg ab, die zentrale Straße des Banckspolders. Vor Ewigkeiten schon hatten die Inselbewohner dieses Gebiet zwischen Dorf und heutigem Hafen eingedeicht und damit dem Meer abgetrotzt. Heute war der inzwischen entsalzte Boden so fruchtbar, dass er Viehzucht auf der an sich eher kargen Nordseeinsel ermöglichte. Sie passierte die Entenkoje, einen idyllischen Teich, in dem die Inselbewohner in früheren Zeiten Wildenten gefangen und getötet hatten. Als Kind war ihr das Gelände unheimlich gewesen.
Die Sonne war bereits untergegangen, das Restlicht lag grau über dem Naturschutzgebiet, die Scheinwerfer beleuchteten tiefgrüne Wiesen am Wegesrand, im Hintergrund bewegten sich niedrige Büsche und gedrungene Bäume auf den sanft geschwungenen Dünen. Die Straße war zwar befestigt, aber schmal, der Wagen passte gerade so drauf, eigentlich war sie für Fahrräder ausgelegt.
Sie parkte am Fahrradparkplatz, der auch das Ende des für Autos befahrbaren Teils der Straße markierte. Vor ihr stand das Geländefahrzeug samt leerem Fahrradanhänger der Firma Veenstra. Daneben der Polizeiwagen der Insel, er verdeckte den Anfang des Wanderweges, der von hier weiter in das Naturschutzgebiet führte. Es war niemand zu sehen, erst als sie ausstieg, kam eine junge Kollegin in Uniform von ihrem Streifenwagen auf sie zu. Sie betrachtete prüfend erst ihren Dienstausweis, ihr Gesicht, dann wieder den Dienstausweis. »Entschuldigen Sie. Ich hatte Sie nicht direkt...