Jaeger | Das Freudenhaus | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Jaeger Das Freudenhaus

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-943758-04-7
Verlag: B3 Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-943758-04-7
Verlag: B3 Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Henry Jaeger knüpft mit "Das Freudenhaus" an den Erfolg seines ersten Romans "Die Festung" an. Wieder beschreibt er eine Randgruppe der Gesellschaft.

Im Mittelpunkt stehen die verlebte Rosa und Leopold, ein in die Jahre gekommener zweitklassiger Clown, die sich zu einer Zweckehe verbinden. Sie eröffnen die Gaststätte "Artistenklause" und versuchen ein ehrbares Leben zu führen. Um das schlecht laufende Lokal auf die Beine zu bringen, lädt Rosa immer öfter alte Bekannte ein, die offensichtlich aus dem Rotlichtmilieu stammen. Als dann noch Zimmer in den oberen Stockwerken angemietet werden, ist der Wandel des Hauses zum Bordell vollzogen, zu einer Bühne der Schicksale, Sehnsüchte und Illusionen. Henry Jaeger schildert eindringlich das Leben, die Probleme und Begegnungen der Prostituierten, Freier, Luden und Bordellbetreiber, die auf der Schattenseite des Wirtschaftwunders stehen.
Dass Geld allein nicht glücklich macht, erfahren die Protagonisten auf ganz unterschiedliche Weise. Letztlich zerbricht nicht nur die Ehe von Leopold und Rosa, auch die Lebensperspektiven der anderen scheinen zerstört.

"Henry Jaeger ist der erfolgreichste Frankfurter Schriftsteller nach Goethe." (Peter Zingler in BILD vom 9.10.12)

Jaeger Das Freudenhaus jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


DRITTES KAPITEL
Emil kam zurück. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er hatte wieder einmal für wenig Geld viel geleistet. Die beiden ungleichen Männer bewegten sich in der Enge des Wagens wie Hanswurste auf einer schmalen Bühne. Leopold Grün trug jetzt sein rotweiß gestreiftes Trikot mit den halblangen Beinen, das aussah wie ein Badeanzug um die Jahrhundertwende. »Geh mir aus dem Weg!« knurrte Leopold. »Was hast du da ständig ’rumzuwuseln, wenn ich mich schminke!« Sorgfältig zog er die Linien seines Gesichts nach, vergröberte die Mundpartie mit Rot und Weiß, legte schwarze Dreiecke unter die Augen, die nun melancholisch wurden. »Es ist unser letzter Abend«, seufzte Emil. Leopold wandte sich vom Spiegel ab und blickte Emil an, der auf einer der Kojen saß. Seine krummen Beinchen baumelten im Sitzen herunter, ohne den Boden zu erreichen. Sie warteten auf ihren Auftritt. So hatten sie oft gesessen und gewartet. Die Glühbirne leuchtete sie an. Sie waren wie Karikaturen von Männern. Das Hundefell lag schon bereit, und Leopold Grün würde bald sagen: »Hilf mir in das Fell …« »Erinnerst du dich«, fragte Emil, »als ich zu dir in den Wagen kam? Das war in Holland. Wie hieß diese Stadt wieder? Damals war der Zirkus noch groß.« »Ja, ich erinnere mich.« »In Schweden war es kalt, aber Schweden war schön. Wir standen neben einem Jahrmarkt. Du gingst jeden Tag zu einer Schaubude, einem Flohzirkus. Die Flöhe hatten es dir angetan. Als dein Hund starb, hast du da nicht davon gesprochen, daß du vielleicht selbst einen Flohzirkus aufmachen würdest?« »Ja, ich erinnere mich. Man könnte davon leben. Ich habe mit dem Schausteller manchen Aquavit getrunken. Er hat mir alles über Flöhe beigebracht.« »Jetzt ist der Zirkus tot. Du wirst sehen, das geht nicht mehr lange. Ich bin bei den ersten, die abgetakelt werden. Und wo soll ich dann hingehen – als Liliputaner?« »Zu mir! Glaubst du etwa, ich ließe dich im Stich? Ich werde ein Restaurant führen. Du hast meine Adresse. Wenn es dir schlecht geht, dann kommst du zu mir!« Leopold Grün sprach mit Pathos. »Ich will es mir merken«, sagte Emil. »Du hast es gerade noch geschafft, noch rechtzeitig abgesprungen. Willst du sie gleich heiraten? Du kennst sie doch gar nicht.« »Doch, wir kennen uns, wir schreiben uns schon seit Monaten.« »Hoffentlich geht nichts schief … Du warst schon einmal verheiratet …« »Erinnere mich nicht daran!« rief Leopold. »Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde«, murmelte Emil. Sie schwiegen, saßen sich gegenüber auf den Kojen. Vom Zelt her war Lachen und prasselnder Beifall zu hören. Sie waren schon beklommen vom Abschied. Emil, der Liliputaner, erwog seine Heiratsmöglichkeiten, dachte daran, daß ihm vielleicht eine hübsche Liliputanerin über den Weg laufen könne, dämpfte jedoch diese Hoffnung mit der Erkenntnis: Leider gibt es nur wenige hübsche Liliputanerinnen. Die Kapelle schmetterte den Tusch. Dann rief der Ansager durch das Mikrophon: »Jetzt kommt der große Adolfo!« Hereinmarschiert kam dieses Muskelbündel mit dem lockigen Blondhaar, mit wehendem Seidenmantel über dem Trikot, mit herausgedrücktem Brustkorb, mit wichtigem Gesicht, aufgeplustert in dem Bewußtsein, ein starker Mann zu sein. Und dazu spielte die Kapelle den Einzugsmarsch der Gladiatoren. Eilfertige Diener nahmen dem stolz Umherblickenden den Seidenmantel von der Schulter. Dann stand er inmitten der Manege, breitete die Arme aus zum Gruß an alle. Er spreizte sich wie ein Pfau, zeigte seine Muskeln in der Bewegung, ließ sie schwellen, daß die Muskelstränge aussahen wie Schlangen, die sich um seine Glieder ringelten. Alles an diesem Mann mißfiel Leopold Grün, der sich im Hundefell hinter dem Vorhang am Eingang der Manege herumdrückte und auf sein Stichwort wartete. Aber noch blieb etwas Zeit. Der Sprecher deutete auf den Athleten und rief: »Sie sehen den großen Adolfo in seiner einmaligen Nummer, wie er Eisenstangen und Hufeisen biegt, als wären sie aus dünnem Draht! Sodann hantiert Adolfo mit Zentnergewichten – einarmig und beidarmig! Er stößt, stemmt und reißt! Sodann fängt er mit dem Genick Granaten und Bomben auf, die mittels eines Schleuderbrettes hochgeschnellt werden! Im vorigen Jahr hat in England einer der stärksten Männer der Welt diese Nummer nachmachen wollen. Die Bombe zerschmetterte ihm das Genick! Meine Damen und Herren: Sie sehen den großen Adolfo in seinem Spiel mit dem Tode!« Danach kamen die Helfer und rollten unter Grimassen die Bomben und Granaten in die Manege. Jeder konnte sehen, welche Gewichte dort transportiert wurden. Die Bomben fielen einige Male um, rissen auch zwei oder drei der Helfer mit zu Boden. Stolz lächelte der große Adolfo. Leopold Grün kannte diese einstudierte Vorstellung. Er nannte das Theater, und es gefiel ihm nicht. Außerdem schien ihm seine Nummer völlig sinnlos. Sie war eingefügt worden, paßte nicht in den Kraftakt. Der große Adolfo brauchte Atempausen. Er war in den letzten zwei Jahren kurzatmig geworden, denn der große Adolfo soff. Er schüttete beträchtliche Mengen Bier, Wein und Schnaps in sich hinein und hatte sich mit dieser Lebensweise auch schon einen Bauch angesoffen. Unter dem Trikot mußte er deshalb ein Korsett tragen. Er war der Bruder des Inhabers, und oft polterte es in dem Wagen der Brüder, wenn sie sich schlugen, weil der Besitzer keinen Schnaps, kein Bier und kein Geld spendieren wollte. »Wir sind ruiniert!« warnte der Bruder. »Du kannst mich am Arsch lecken! Ich brauche Bier!« rief der große Adolfo. So ging das seit zwei Jahren. Es war ein Zirkus auf Abruf, ein gefährdetes Unternehmen, das sich von heute auf morgen in ein Nichts auflösen konnte. Adolfo bog Eisenstangen. Seine Muskeln hüpften. Tusch der Kapelle! Beifall! Ein lächelnder Athlet. Und nun wurden die zentnerschweren Gewichte gehoben, gestemmt, gerissen. Beifall! Das Schleuderbrett wurde vorbereitet. Und diese Vorbereitung war das Stichwort für Leopold Grün. In die Manege trottete ein Hund – schwarzweiß gefleckt, mit hängenden Ohren, mit einem traurigen Hundegesicht. Und dies war der erste Teil seiner Nummer. Er wedelte mit dem Schweif, schnupperte an den Granaten, hob auch das Bein. Der große Adolfo scheuchte das Tier entrüstet fort. Hundsgeschnupper, Hundsgebaren, das hatte er gelernt, der Hundemensch. Jahre hatte er damit verbracht, seinen Hund zu belauschen, die Seele seines Hundes zu erkennen. Und nun war jeder Schritt echt. Es war eine Anstrengung. Der Mann in dem Hundefell keuchte bereits nach wenigen Sprüngen. Die Zuschauer lachten. Aus zwei Löchern im Fell konnte er sie sehen. Sein Auftritt hatte Nuancen. Jetzt mußte er an den Rand der Manege hoppeln und einige der Frauen beschnuppern, nur in der Andeutung. Das Bein heben! Die Zuschauer kreischten auf. Ein komischer Tapser mit der rechten Vorderpfote, alles einstudiert, tausendmal vorgeführt, dem Hundeleben nachgeahmt. Adolfo schnaufte. Die Eisenstangen und Gewichte hatten ihn angestrengt. Er stand mit verschränkten Armen, musterte mit gemäßigter Verachtung die Mühen der Manegehelfer. Er stand jetzt im Scheinwerferlicht wie sein eigenes Denkmal. Leopold Grün lief seine Kreise. Vier Minuten lang mußte er die Lücke füllen, sie zum Lachen bringen, seine Pflicht erfüllen. Auf dem Manegenrand kreiste er, trieb seine Hundespäße. Und plötzlich, die Zuschauer fanden es komisch, stutzte der Hund, hielt wie erschreckt mitten in der Bewegung inne, ließ die aufgehobene Vorderpfote wie erstarrt eine Sekunde oben und sprang dann mit einem Satz zurück in die Manege. Auf allen vieren hatte er vor Rosa gekauert. Mit einem Silberfuchs um die wuchtigen Schultern saß sie in der Loge, lachte und hieb sich mit der rechten Hand auf den Schenkel. Sie war bereit gewesen, auf den Spaß des Hundes einzugehen, lachte noch immer schallend, während der Hund hinaustrottete und sich noch einmal furchtsam nach ihr umwandte, als sei er beleidigt worden. Adolfo fing die Granaten auf. Sie landeten in seinem Genick. Die Zuschauerrunde spendete Beifall. Leopold Grün stand wieder hinter dem Vorhang. Er schnaufte nicht weniger als der große Adolfo. Der Schreck steckte ihm noch in den Gliedern. Um Gottes willen! dachte er. Um Gottes willen! Und jetzt kam die erste Bombe, der Stahlmantel einer Bombe, immerhin noch schwer genug, einem Mann das Genick zu zerschmettern. Aufgefangen und Bravo! Der Athlet lächelte. Ein Sieger, der...


Henry Jäger, eigentlich Karl-Heinz Jäger, wurde 1927 als Sohn eines Handwerkers in Frankfurt am Main geboren. Mit 15 Jahren musste er zunächst als Flakhelfer zur Wehrmacht, später als Fallschirmspringer an die Front. Gegen Ende des zweiten Weltkrieges geriet er in britische Kriegsgefangenschaft. Er gehörte damit zu jener Generation, denen der Krieg Jugend, Frieden und Freiheit gestohlen hatte, sie dafür aber mit der brutalsten Gewalt eines Vernichtungskrieges und ideologischem Wahnsinn verrohte.
Nach Kriegsende schlugen seine Versuche, im bürgerlichen Leben Fuß zu fassen, fehl. Ein angestrebtes Medizinstudium wurde ihm verwehrt. Nach ersten Schwarzmarktgeschäften rutschte er immer stärker ins kriminelle Milieu ab. Als Anführer der sogenannten "Jägerbande", die in den 50iger Jahren zahlreiche Überfälle und Einbrüche verübte, sorgte er für Schlagzeilen. Sie galt als "raffinierteste und trickreichste Räuberbande" (DER SPIEGEL) in Nachkriegsdeutschland und ihr ist im Kriminalmuseum Frankfurt eine Vitrine gewidmet. Nach einer groß angelegten Polizeiaktion wird Henry Jäger 1956 verhaftet und zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt.
In der Haft findet Henry Jäger zum Schreiben. Als Insasse des "Schweigehofs" sind ihm lesen und schreiben verboten. Er notiert heimlich erste Kurzgeschichten auf Toilettenpapier. Diese Texte beschäftigen sich allerdings nicht mit seinem persönlichen Schicksal, sondern sind literarische Entwürfe und erzählende Sequenzen. Jäger zeigt seine Arbeiten dem Geistlichen der Strafanstalt, Dr. Hans Kühler. Dieser ist von den Texten begeistert und schmuggelt sie nach draußen. So entsteht in der Haftanstalt sein erster Roman "Die Festung", der ein fulminanter Erfolg wird.
Auf Initiative Kühlers und des Verlegers Desch wird Henry Jäger nach acht Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen. Es folgen weitere Romane, die alle in einem gesellschaftlichen Randmilieu spielen. Der Erfolg bleibt Jäger in diesen Jahren treu und er zieht ins mondäne Ascona, der damaligen Kolonie internationaler Künstler und Autoren. Anfang der Achtziger Jahre ist er mit seinem Stoff am Ende und versucht sich mit seichteren Themen. Keines der Bücher kann mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Dazu kommen private Auseinandersetzungen und Krisen. Nach und nach verblasst sein Ruhm, er gerät in Vergessenheit. Im Jahr 2000 verstirbt Henry Jäger völlig verarmt in der Schweiz.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.