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E-Book, Deutsch, 276 Seiten

Jäger Gletscher und Glaube

Katastrophenbewältigung in den Ötztaler Alpen einst und heute

E-Book, Deutsch, 276 Seiten

ISBN: 978-3-7065-5999-7
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



(ÜBER-)LEBEN IM SCHATTEN DES EWIGEN EISES – EINST UND HEUTE
Das LEBEN IN HOCHALPINEN LAGEN war und ist ein Leben der EXTREME. Den NATURKATASTROPHEN und ihren Auswirkungen ausgesetzt, entwickelten die Menschen KULTURELLE STRATEGIEN, mit denen sie auf die Folgen von Klimazyklen reagierten. Während zwischen 1650 und 1850 die „KLEINE EISZEIT“ für Gletschervorstöße, Muren, Überschwemmungen und Lawinen sorgte, ist es seit 1850 die KLIMAERWÄRMUNG, die das Leben im hochalpinen Raum beeinflusst.

Franz Jäger untersucht die Auseinandersetzung mit der „wilden Natur“ in den ÖTZTALER ALPEN – dem hinteren Ötztal, Pitztal und Passeiertal – und begibt sich auf die Spur kultureller Bewältigung. Dabei unterzieht er die EPOCHENÜBERGREIFENDEN KULTURELLEN PROZESSE einer breiten INTERDISZIPLINÄREN ANALYSE und zieht auch einen Vergleich mit dem Gebiet des Oberwallis in der Schweiz, dessen Bewohner mit ähnlichen Naturgefahren zu rechnen hatten.

Im Umgang mit Naturkatastrophen in den Alpen kommt insbesondere VOLKSFROMMEN PRAKTIKEN ein herausragender Stellenwert zu, der sich in Ansätzen bis in die heutige Zeit erhalten hat. Der Autor begab sich zum Studium solcher MITTEL KULTURELLER KATASTROPHENBEWÄLTIGUNG auf eine intensive Feldforschung und eröffnet auch einen Blick auf die gegenwärtige Lage dieser Region im Schatten der Gletscher.
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Teil II
Gletschervorstöße während der „Kleinen Eiszeit“ in den Ötztaler Alpen und im Wallis – ihre Folgen und Bewältigung
Das Zusammenwirken von politischer Geschichte, Klimaanomalien und Religion formte die Reaktionen der Bevölkerung auf Schadensereignisse aus der Natur. Die Wechselwirkung von Naturereignissen und Kultur der betroffenen Bewohner tritt in diesem ständig bedrohten hochalpinen Lebensraum deutlich zu Tage. Welche Strategien machten es möglich, neben den Einwirkungen einer nicht beherrschbaren, übermächtigen Natur existieren zu können? Dazu werden zunächst die Auswirkungen der Klimaanomalien während der „Kleinen Eiszeit“ beschrieben, sodann die Bewältigungsformen der betroffenen Bewohner und die Reaktionen der weltlichen Obrigkeit dargestellt. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die zeitgenössische Beschreibung von Chaos und Elend – heute dem Begriff „Katastrophe“ untergeordnet – sowie auf die Bedeutung religiöser Praktiken zur Bewältigung von Gefahrensituationen, Not und Zerstörung gelegt. Die Beschreibung wird im Raum Ötztaler Alpen auf das Anwachsen der Gletscher, die dadurch aufgestauten Eisseen und ihre Auswirkungen eingegrenzt, zumal dieser Themenbereich schon damals in zahlreichen schriftlichen Berichten beschrieben war.454 Im Passeiertal hingegen bestimmen Zerstörungen durch Lawinenabgänge und Ausbrüche des „Kummersees“ das Forschungsinteresse. Ein Vergleich mit ähnlichen Naturgegebenheiten im Wallis (Schweizer Alpen) soll zeigen, wie Bewohner anderer hochalpiner Regionen auf Gletschervorstöße und die daraus resultierenden Folgen reagiert haben. Der Vernagtferner – der Dämon des Ötztales
Im Hinterland der Ortschaft Vent/Ötztal stießen während der Neuzeit die Eismassen des Vernagtferners gemeinsam mit jenen des kleineren Guslarferners mehrfach quer zum Rofental vor und stauten an der Felsbarriere der Zwerchwand. Eine Besonderheit stellte die topografisch bedingte Geschwindigkeit dar, mit der der Vernagtferner nach unten drängte.455 Die nachdrängenden Eisströme bildeten einen Eiswall, der Bäche aus anderen Gletscherzonen und Schmelzwässer zu einem riesigen See aufstaute. In der Folge sprengten die Wassermassen den nicht gefestigten Eisdamm. Nach vier katastrophenreichen Ausbrüchen überfluteten und zerstörten die Wassermassen talauswärts teilweise Ortschaften und Fluren, zeigten zeitweise bis in das Inntal ihre Wirkung. Dieses Szenario wiederholte sich mehrmals und führte dazu, dass sich Gelehrte sowie die staatliche Verwaltung dafür interessierten und diese Naturereignisse in historischen Berichten und Chroniken Aufmerksamkeit fanden. Wegen seiner Ausbrüche berüchtigt, war der Vernagtferner „von jeher ein ganz besonderes Objekt für Gletscherstudien“.456 Er erreichte zusammen mit dem benachbarten, kleineren Guslarferner in der Gletscherhochstandsphase eine Ausdehnung von 9 km2 und gilt als der „mit Abstand historisch bestdokumentierte Gletscher der Ostalpen“.457 Mit den ersten Schriften und Berichten über den Vernagt-Eissee aus dem Jahre 1601 wird in Österreich der Beginn der Gletscherforschung und amtlichen Gletscherbeobachtung datiert.458 Seither bearbeiteten zahlreiche Autoren bis in die Gegenwart naturwissenschaftliche Aspekte dieser Gletschervorstöße. Auf sie wird lediglich im Zusammenhang mit kulturellen Auswirkungen zurückgegriffen.459 Die Vorstoßperiode 1599 bis 1601
Der erste bekannte Vorstoß des Vernagtferners in das Rofental erfolgte im Jahre 1599. Ab dem Frühjahr des Folgejahres wurde Wasser aus dem dahinterliegenden Talbereich angestaut, bis es am 20. Juli zu einem folgenschweren Ausbruch mit einem Schaden von 20.000 Gulden kam.460 Nach der Kuen’schen Chronik461 haben die Wassermassen „durch das Oezthall hinaus in Veldern große Schöden gedan, die weg und Strassen Ruiniert, und alle Pruggen hinweg genomben, […] in Kirchspill Längenfelt […] die gieter iberschwembt“.462 Nach diesem Ereignis dauerte das Anwachsen des Gletschers fort, die Masse des Eises war im folgenden Jahr sechsmal so groß wie im Vorjahr. Damit stieg auch die Angst vor einem neuerlichen Ausbruch. Der aufgestaute See erreichte eine Länge von 1200 m, eine Breite von 330 m und eine Tiefe von 110 m. Am 12. Juli 1601 begann das Wasser an einer zwischen Zwerchwand und Gletscher gebildeten Kerbe überzulaufen, der See entleerte sich folgenlos und war am 9. September 1601 dem Verschwinden nahe.463 Während das Anwachsen des Gletschers vor dem ersten Ausbruch im Jahre 1600 bei den Behörden noch keine Beachtung fand, wurden diese nach dem vorangegangenen Schadensereignis beim neuerlichen starken Vorstoß aktiv. Der Vernagtferner erregte nun öffentliches Interesse, „er [bewog] selbst die Landesregierung zur Untersuchung dieser ungewöhnlichen Ereignisse“,464 „man fürchtete auf das lebhafteste einen neuen Ausbruch, ganz Nordtirol wurde alarmiert“.465 „Krisenmanagement“ durch die öffentliche Verwaltung Die oberösterreichische Regierung466 informierte mit Bericht vom 30. Juli 1601 Kaiser Rudolf II. darüber, dass die Kammer den Hofbauschreiber Abraham Jäger gemeinsam mit dem Hofzimmermeister Georgen Scheiber und Christian Lindacher, einem Fachmann für Uferschutzbau, beauftragt hat, „diesen entstandenen see und ferner alles fleis zu besichtigen und zu bedenken, ob und was gestalt die hievon besorgend gefar abzuwenden, und ob es, wie das gemain geschrai gelaut, mit der gefar fürgebender oder besorgender maßen beschaffen seie oder nit“.467 Die Fachleute haben die Situation am Vernagtferner im Juli 1601 in Augenschein genommen. Der schriftliche Bericht des Hofbaumeisters ist mit „11 tag. Juli 1601“ datiert, die Einleitung „Besicht und bericht des großen erschröcklichen wunderwerks“468 lassen die Betroffenheit des Beschauers erahnen. Dem Zeugen war die Beschreibung der Örtlichkeit des Gletschervorstoßes in das Kulturland wichtig, „da vor zeiten anderst nichts alß ein schöne alben und graßpoden, wunn und waidt geweßt“. Zusätzlich wurden die Maße des Sees sowie des Eisdammes nach Breite und Höhe in Klaftern angegeben. Um dem Leser die Ausmaße vorstellbar zu machen, verglich der Schreiber die Eisbarriere mit einem „tham, oder perg, geformiert wie ain große runde paßtey, ungefährlich dem perg Ysel zue Wilthan“ gleich. Weiters wurde das tägliche Anwachsen „eines manns hoch“ angegeben. Die Bäche, die den See auffüllten, wurden der „Sil zu Insprugg“ gleichgestellt. Die Eisstücke des Gletschers seien „so gross als das höchste hauss zue Ynsprugg“, im See sei eine Menge von Eisschollen geschwommen, „das sey ainer statt gross wol zu vergleichen“. Der Sachverständige befürchtete, dass der Eisdamm diesem Druck des Sees nicht mehr standhalten könne, mit Gottes „Gnad“, so die Hoffnung, möge der See links an der Felswand „nach und nach übergehen und verzören“.469 Letztlich sieht der Bauschreiber keinen anderen Ausweg, den drohenden Ausbruch abzuwehren, als Gebet und religiöse Handlungen. Der schriftliche Bericht über die örtliche Situation wurde (vermutlich vom Verfasser Abraham Jäger selbst) mit einer (später aquarellierten) Federzeichnung illustriert und in einem Bericht der Regierung vom 30. Juli 1601 Kaiser Rudolf II. vorgelegt.470 Die Vergleiche des Eiswalls mit dem „perg Ysel zue Wilthan“ oder der schwimmenden Eisschollen mit der Zahl von Häusern in einer Stadt werden in diesem Bild anschaulich.471 Bemerkenswert ist zudem die Darstellung einer Zersetzung der glatten Gletscheroberfläche in eine Vielzahl von Einzelblöcken, wodurch der Betrachter den Eindruck eines Fließens des Gletschers gewinnt. Die Ereignisse am Vernagtferner beeinflussten zudem die ersten kartografischen Darstellungen von Alpengletschern durch Warmund Ygl und Matthias Burglechner. Die von ihnen verwendete Bezeichnung „der Groß Verner“ gilt im Regierungsbericht von 1601 für den Vernagtferner,472 „Glacies continua et perpetua“ sollte den Gletscher als „Ewiges Eis“ kennzeichnen. Beide Kartografen griffen auf Ergebnisse der Kommissionsberichte von 1601 zurück.473 Die Gewalt und Masse der Gletscher nach den Schilderungen der ersten Vorstoßperiode wurde von Ygl anschaulich zu Papier gebracht. Wie ein unheimliches, undefinierbares Wesen droht die Gletscherregionüber den Tälern.474 Historische Kartenwerke Tirol – Warmund Ygl, „Neue Karte der sehr ausgedehnten Grafschaft Tirol und ihrer Nachbargebiete“, 1604/05, Tiris Online. Vernagt-Eissee in der Kupferstichversion der Karte „Die fr. Grafschaft Tirol“ von 1629. In: Brunner 2002, S. 253. In der Kupferstich-Version der Karte von Mathias Burglechner „die fr. Grafschaft Tirol“ aus dem Jahre 1629 sind die Ausmaße des Vernagt-Eissees zum Zeitpunkt seines ersten Ausbruches festgehalten,...


FRANZ JÄGER, Dr. Mag. Ph.D., arbeitete nach seiner Promotion der Rechtswissenschaft als Angestellter der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Tirol. Nach seiner Pensionierung nahm er das Studium der Europäischen Ethnologie auf, in dem er 2016 ebenfalls promovierte.


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