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E-Book, Deutsch

Jäger Theo wird lauter

Roman

E-Book, Deutsch

ISBN: 978-3-89656-681-2
Verlag: Querverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



1993 wird zum wichtigsten Jahr in Theos Leben. Er ist ein ruhiger, leiser Teenager, dessen Leben sich vor dem Hintergrund seiner konservativen Familie nur mühsam gestaltet. Theo versteht, wie sehr er sich selbst schadet, wenn er die Vorurteile seiner Umgebung widerstandslos übernimmt. Erst durch die besonderen Menschen in seinem Leben und vor allem durch die Entdeckung seiner Leidenschaft für die Gitarre und für das Schreiben eigener Lieder schafft Theo es, seine Stimme zu erheben und laut und deutlich den Respekt zu verlangen, der jedem Menschen zusteht. Die Musik bietet ihm dabei endlich das Ventil, um Klarheit zu finden: über sich selbst und seine Zukunft. Durch seine Liebe zur Musik überwindet Theo immer stärker die Langeweile in der Schule, die Verbohrtheit seiner Familie, die Engstirnigkeit seiner Umwelt und schließlich führt ihn die Musik zu Etienne, einem jungen, selbstbewussten Künstler mit zerzaustem Lockenkopf und unwiderstehlichen Grübchen, der Theos Leben für immer verändern wird.

Markus Jäger, 1976 geborener Tiroler. Lebt und arbeitet als Schriftsteller, Kritiker, Blogger und Bibliothekar in Innsbruck. 2009 Promotion in Amerikanischer Literatur- und Kulturwissenschaft. Zahlreiche Texte in Zeitschriften und Anthologien. Nominierung Peter-Huchel-Preis 2014. Helden für immer ist sein erster Roman im Querverlag.
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2. Am Fluss, März
Nachdem wir meine Großmutter endlich im Krankenhaus hatten besuchen dürfen, wollte ich noch am gleichen Abend ein wenig Frischluft schnappen und am Inn spazieren gehen. Ich musste raus aus meinem Zimmer, raus aus unserer Wohnung in der Reichenau. Wir haben eine schöne Wohnung im sechsten Stock in der Reichenauer Straße. In einem siebzehnstöckigen Hochhaus, in dem man allenfalls die Nachbarn in der Wohnung nebenan kannte. Allerhöchstens von einem kurzen belanglosen Gruß im Lift. Mehr nicht. Die Reichenau lag weder im Zentrum der Stadt noch an ihrem Rand. Sie befand sich irgendwo dazwischen. Ja, die Reichenau war ein langweiliger Bezirk, der in jeder Hinsicht immer irgendwie dazwischenlag. Sie war ein bedeutungsloser Bezirk mit ein oder zwei Schulen und zahlreichen Hochhäusern, von denen aber einige erstaunlich bunt gehalten waren. Die Nähe zur Sill und nach der Sillmündung zum Inn gab unserem Stadtteil außerdem sogar etwas Naturverbundenes. Was man sich manchmal einzureden versuchte. Ich fand es ganz okay, in der Reichenau zu wohnen. Es war mir lieber, als in einem weit draußen liegenden Stadtteil in einem der Ghettos zu leben. Im Olympischen Dorf etwa. Wo nicht einmal die Hochhäuser bunt waren. Besonders wohl fühle ich mich in unserer Wohnung in der Reichenau aber vor allen Dingen seit dem glorreichen Tag, als meine Schwester endlich auszog. Denn seit diesem Tag habe ich ein Zimmer nur für mich. Was für mich quasi der Himmel auf Erden wurde. Eigene vier Wände sind eine Freiheit, die man nur versteht, wenn man sie nicht hatte. Nichtsdestotrotz packt mich immer öfter die Lust, hier rauszukommen. Als ob die Wohnung und mein Zimmer wie ein Gefängnis auf mich wirken. Seit vergangenem Herbst lerne ich daher immer öfter im Freien. Entweder ich sitze auf einer Bank am Inn oder – und das ist ganz neu für mich – ich lerne, während ich gehe. Ich habe das nur deshalb begonnen, weil man im Winter auf den Bänken nicht sitzen kann, und bin drauf gekommen, dass ich mich während des Gehens tatsächlich leichter tue, mir Dinge zu merken. Wenn wir feststellen, dass eine bestimmte Strategie zum Erfolg führt, dann sollten wir an dieser Strategie festhalten. Denk ich mir zumindest. Ob nun fürs Lernen oder fürs Luftschnappen. Immer öfter verbringe ich meine Zeit also draußen. Nachdem ich mit meiner Mutter im Krankenhaus gewesen war, um meine Großmutter nach ihrer letzten Operation zu besuchen, überfiel mich zu Hause das Gefühl, dass die Wände meines Zimmers auf mich zukommen. So würde ich das natürlich niemandem beschreiben, aber es war tatsächlich so. Mit den Eindrücken aus dem Krankenhaus kam mir mein eigenes Zimmer plötzlich viel kleiner vor. Ich schaute auf mein eigenes Bett und dachte an das Krankenbett meiner Großmutter. Ich riss zunächst das Fenster weit auf, um Frischluft reinzulassen. Vielleicht habe ich ja nur zu lange nicht gelüftet. Aber nichts half. Also ging ich zum Inn hinunter und marschierte die Promenade entlang. Es war schon Abend. Die Dunkelheit hatte sich langsam über mich und in mich geschlichen, aber ich konnte kaum in Worte fassen, wie froh ich war, dass ich mich an der frischen Luft befand. Als ich zur Mündung der Sill in den Inn kam, hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste mich bewegen. Ich blickte um mich, ob mich jemand beobachten würde. Ich sah niemanden. Und lief los. Einfach so. In meinem schwarzen Wintermantel. In meinen Winterschuhen. Es war mir egal, welches Bild ich abgab. Ich musste mich bewegen. Sonst hätte ich mich nicht mehr in mein Zimmer getraut. Etwas Erstaunliches passierte. Ich lief vielleicht einen halben Kilometer. Schnaubend wie ein Verrücktgewordener. Und fühlte mich besser. Normalerweise hasse ich Sport, weil er mich an die Turnstunden in der Hauptschule erinnert. Eigentlich gehen diese Erinnerungen bis in die Volksschule zurück. Gegen Unfähigkeit beim Sport hat nämlich noch nie etwas geholfen. Wenn dann auch noch lachende Kinder, die mit dem Finger auf dich zeigen, durch das Kichern des Lehrers motiviert werden, dann stellt sich nicht länger die Frage, warum man Sport scheiße findet. Ich war so ungeschickt bei Ballspielen und hatte keine Chance an den Ringen oder am Tau, dass es kein Wunder war, wenn ich im Turnunterricht immer wieder erfolgreich nach Ausreden suchte, um nicht mitmachen zu müssen. Das war dann einer der wenigen Fälle, wo ich das Leben als Randfigur durchaus auch vorteilhaft empfand. Als ich an diesem merkwürdigen Abend plötzlich von dem Wunsch befallen wurde loszulaufen, tat sich etwas in mir, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich fühlte mich zum ersten Mal für kurze Zeit – nur wenige Momente – wohl in meinem Körper, weil ich etwas tat, das mir niemand vorschrieb, sondern nur, weil ich gerade Lust darauf hatte. Am nächsten Abend wiederholte ich meine Übung. Diesmal in meinem alten Jogginganzug, meinem kaputten Lieblingspullover, einer Winterjacke und meinen abgetretenen Sportschuhen, die mir mein Onkel Walter vor Kurzem geschenkt hatte, weil er sich neue gekauft hatte. „Du wirst sie wahrscheinlich eh nicht brauchen, aber bevor ich sie wegwerfe!“ Mit diesem Kommentar hatte er mir das abgetretene Paar Schuhe vermacht. Wenn Walter mich an diesem Abend gesehen hätte, dann wäre er wohl mehr als erstaunt gewesen. Wie ich selbst erstaunt war. An den Händen fror ich, weil wir erst Februar hatten, aber das war mir egal. Ich war stolz auf mich. Für einen kurzen Moment. Es schien fast so, als ob ich wirklich Sportler wäre. Was natürlich lächerlich ist, aber es hat sich so angefühlt. Diesmal lief ich sogar noch fünf Bänke weiter als tags zuvor. Ich war so froh, dass die Innpromenade an dieser Stelle und um diese Uhrzeit so wenig bevölkert war, dass ich mich mehrmals in der Woche traute, laufen zu gehen. Ich gehe laufen. Eine bizarre Aussage für mich. Und doch helfen mir diese kleinen naiven Läufe dabei, in meinem Zimmer nicht länger Platzangst zu bekommen. Wenn ich darüber nachdenke, wie meine Großmutter sich wohl fühlte, nachdem ein weiteres Mal ein künstliches Glied in ihren Körper eingesetzt wurde, damit das Auto weiter Auto genannt werden konnte, auch wenn es schon lange nicht mehr fuhr. Als wir sie im Krankenhaus besuchten, lag sie mit ihrem überdimensional eingegipsten Arm und einem Gesichtsausdruck da, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie blickte mit einer seltsamen Bestimmtheit nach oben, schien zur Decke zu starren, war wohl in eine Unterhaltung mit ihrem Gott vertieft. Ihr Gesichtsausdruck dabei vermittelte eine Demut, die mich rasend machte. Ich kenne sie. Sie würde nicht beten, dass er ihr in ihrem Leid beistand. Sie würde ihm in ihrem Gebet kundtun, dass sie jede Prüfung akzeptierte. Dass sie niemals infrage stellen würde, was Gottes Urteil sei. Weil sie überzeugt davon war, dass ihr Gott „schon wusste, was er tat“. Ich konnte und kann diese Überzeugung nicht verstehen. Wie kann man zu jemandem aufschauen, der so etwas zulässt? Wie kann man glauben, dass Gott allmächtig sei und alle Menschen liebe, wenn er seine Allmacht nicht dazu nutzte, ihr zu helfen? Ihr, die immer seine Gebote befolgte. Wenn er durch dieses Versagen einer Hilfe bewies, dass ihm Menschen einfach egal waren. Ich begriff und begreife es einfach nicht und werde es nie begreifen. Wahrscheinlich hatte ich an diesem Abend auch nur deshalb das seltsame plötzliche Verlangen verspürt loszulaufen. Um meinen unerfüllten Wunsch, es zu begreifen, zu verdrängen. Vorgestern habe ich zum ersten Mal ohne Pause eine Drei-Kilometer-Runde geschafft. Meine Mutter meinte gerade eben, als ich mich wieder aufmachte, um laufen zu gehen: „Das sind ja ganz neue Töne!“ Das war alles. Kein Wort der Motivation oder Begeisterung. Es klang wie ein Urteil. So als ob ich etwas täte, das eigentlich nicht zu mir passte. Aber vielleicht bilde ich mir diesen Tonfall in ihrer Stimme nur ein. Weil es auch für mich neu ist, dass ich immer öfter und immer weiter an der Innpromenade an den zahlreichen Parkbänken vorbeilaufe und dabei auch immer öfter an meinen Onkel Walter denke. Der vor zwei oder drei Jahren noch recht beleibt das übliche Klischee eines Dorfbewohners erfüllt hatte und mittlerweile schlank und sportlich sehnig einen Berglauf nach dem anderen absolvierte. Ich starte meinen Lauf mit der Vorstellung, eines Tages auch so gut wie Walter zu sein, und ärgere mich, dass ich heute in der Schule zu viel geraucht habe. Aber dieser Ärger motiviert mich, schneller zu laufen, um das Stechen in meiner Lunge mit regelmäßigem Keuchen zu übertönen. Meine Gedanken an den Krankenhausbesuch lassen mich auch heute nicht los. Ich habe versucht, die Eindrücke zu akzeptieren, weil mir ohnehin nichts anderes übrigbleibt. Aber nur, weil man versucht, etwas zu akzeptieren, wird es nicht plötzlich gut. Akzeptieren heißt auch Aufgeben. Bei diesem letzten Krankenbesuch vor einigen Wochen habe ich das Gefühl des Aufgebens verspürt. Es wurde klar, dass meine Großmutter bald sterben wird. Aber darüber zu sprechen, was diese Tatsache mit uns machte oder wie wir uns dabei fühlten, wäre nicht möglich gewesen. Denn einmal mehr hieß es, sich daran zu gewöhnen, dass das halt so war. Die Antwort meiner Familie auf alle Fragen. Der Geruch des Krankenzimmers hatte mich umhüllt, während ich neben meiner Mutter so getan hatte, als wäre das alles ganz normal. Die Patientin hatte erleichtert aufgeatmet, als wir näher an das Bett getreten waren, und hatte uns mit leiser, aber...


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