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E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Jäncke Mann und Frau - ein Auslaufmodell?
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-456-76410-8
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Warum sie sich ähnlicher sind, als wir vermuten, und wo der wahre Unterschied liegt.
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-456-76410-8
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Existieren zwei Geschlechter oder ist das Geschlechtsspektrum vielfältiger?
Gibt es nur zwei Geschlechter, oder sollten wir von einem Geschlechtskontinuum ausgehen? Steuern wir auf ein Unisex-Wesen zu? Wenn Geschlechtsunterschiede im Verhalten und Denken existieren, wo sind sie zu finden?
Diese Diskussion wird häufig mit großer Vehemenz, Emotionalität und manchmal auch Aggressivität geführt. Dabei werden vor allem die wissenschaftlichen, insbesondere die naturwissenschaftlichen Perspektiven infrage gestellt. Oft werden biologische Erkenntnisse angezweifelt.
In diesem Sachbuch beschäftigt sich der renommierte Neurowissenschaftler Lutz Jäncke mit diesen Fragen. Er legt einen besonderen Fokus auf die bemerkenswerte Lern- und Interpretationsfähigkeit des menschlichen Gehirns. Das Gehirn ist in der Lage, neue Formen des Umgangs der Geschlechter miteinander zu erfinden und das Gefühl zu entwickeln, dass diese vollkommen normal seien. Doch wie weit kann diese Interpretationsfähigkeit gehen? Können wir die Existenz der Geschlechter einfach weginterpretieren?
Lutz Jäncke liefert fundierte, klare Antworten – pointiert, mit Witz und Eleganz und stets auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse.
Zielgruppe
Interessierte Laien; Studierende und Forschende der Psychologie, Neurowissenschaften und Biologie; Pädagog*innen und Bildungsfachleute; Fachkräfte im Bereich Gender Studies und Soziologie; politische Entscheidungsträger*innen und Bildungspolitiker*innen
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologische Disziplinen Sexualpsychologie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Gender Studies, Geschlechtersoziologie
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Neurowissenschaften, Kognitionswissenschaft
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines
Weitere Infos & Material
131 Von Jägern und Sammlerinnen
„Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen.“ Winston Churchill?1
Die Männer waren Jäger und die Frauen Sammlerinnen. So oder so ähnlich stellen wir uns vor, wie unsere Vorfahren in der Steinzeit2 lebten. Männer mussten mutig sein, sich auf die gefährliche Jagd begeben und dort Erfolg haben. Frauen verharrten im Camp und bewältigten dort andere Aufgaben. Männer waren gezwungen, sich in ungewohnten Gegenden zu orientieren, Strapazen zu überwinden, Mut zu beweisen, Speere zu werfen und sich in den Jagdgruppen zu bewähren. Frauen mussten sich um die Nachkommen kümmern, Essen zubereiten, geschickt mit den Gruppenmitgliedern umgehen und wichtige Aufgaben für den Clan organisieren. Dieser Blick auf das steinzeitliche Leben vor vielen 10.000 Jahren wird gerne als Anlass genommen, vermeintliche Geschlechtsunterschiede im Denken, Fühlen und Verhalten in der heutigen Zeit zu erklären.
Die Grundidee dieser Jäger-Sammlerinnen-Hypothese ist, dass sich im Zuge der Evolution Geschlechterrollen biologisch – also genetisch – im Verhaltensrepertoire der Menschen verankert hätten, die noch heute Geschlechtsunterschiede weitestgehend bestimmen würden. Frauen sollen deshalb genetisch für die Kommunikation mit Gruppenmitgliedern vorbereitet sein. Sie wären aus dem gleichen Grund auch den Männern bei der Aufzucht und Pflege der Kinder, im sozialen Umgang und bei der Empathie überlegen. Männer würden hingegen zu mehr Mut, Aggressivität und Risikobereitschaft vorprogrammiert sein. Auch 14müssten sie sich besser in der meist fremden Umgebung orientieren können, um die Jagd und die Rückkehr zum Camp zu gewährleisten.
Kann diese Sichtweise wirklich herangezogen werden, um das aktuelle Verhalten von Männern und Frauen zu erklären und zu verstehen? Erklärt sie, warum Jungs lieber mit Spielzeugautos spielen und Mädchen mit Puppen? Welche Erkenntnisse existieren, um diese Sicht auf die vermeintlichen Geschlechterrollen des Urzeitmenschen zu rechtfertigen? Mit diesen und ähnlichen Fragen werde ich mich im Folgenden beschäftigen.
1.1 Geschlechtsdimorphismus bei ausgestorbenen Urmenschen
„Geschlechtsdimorphismus“ ist ein etwas holpriger Begriff. Er wird in der Biologie benutzt, um Unterschiede zwischen den Geschlechtern innerhalb einer Art zu beschreiben. Diese Unterschiede können verschiedene Formen annehmen, einschließlich physischer Merkmale, Verhaltensweisen und Reproduktionsstrategien. Ich werde diesen Begriff noch häufiger verwenden.
Kannten die Urmenschen bereits eine Arbeitsteilung der Geschlechter? Verhielten sich Männer und Frauen, Jungs und Mädchen geschlechtsspezifisch? Genau genommen wissen wir nicht viel darüber, wie die Urmenschen gelebt haben. Wir verfügen kaum über Informationen über eventuelle Geschlechtertrennungen bei den ausgestorbenen Urzeitmenschen. Erst mit den ersten schriftlichen Zeugnissen über die Lebensform des modernen Menschen gewinnen wir mehr Einblicke in das Verhalten von Männern und Frauen. Vor diesen schriftlichen Zeugnissen müssen wir uns auf archäologische und fossile Funde verlassen, die vielleicht Indizien für unterschiedliche Geschlechterrollen liefern.3
15So liefern Untersuchungen von Skeletten Aufschlüsse über Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Körperbau und Muskulatur. Diese lassen Rückschlüsse auf unterschiedliche körperliche Aktivitäten zu. Größere, kräftigere Skelette weisen auf Individuen hin, die möglicherweise anstrengendere Tätigkeiten ausführten, während kleinere, feinere Knochenstrukturen auf weniger physische Beanspruchung hindeuten könnten. Größere und kräftigere Körper sind wahrscheinlich auch imposanter und fördern die Dominanz in den Gruppen. Individuen mit mehr Kraft sind bei sozialen Auseinandersetzungen häufiger siegreich und bei der Jagd auch erfolgreicher, was ihre Stellung innerhalb der Gruppe günstig beeinflussen könnte.
Die Art und Weise, wie Individuen bestattet wurden, inklusive der Gegenstände, die ihnen ins Grab gelegt wurden, liefern weitere Hinweise auf ihren sozialen Status und ihre Rollen in der Gemeinschaft. So könnten etwa Waffen und Jagdwerkzeuge, die mit männlichen Skeletten gefunden wurden, darauf hinweisen, dass Jagd eine männliche Domäne war. Viele Gräber aus der Jungsteinzeit zeigen Geschlechterunterschiede in den Beigaben, mit Werkzeugen und Waffen, die häufig in männlichen Gräbern gefunden wurden, und Haushalts- oder Schmuckgegenständen in weiblichen Gräbern.
Neue archäologische Funde lassen vermuten, dass auch die Damen wie die Männer an der Jagd teilnahmen. Eine kürzlich publizierte Arbeit offenbarte, dass bereits in 9000 Jahre alten Gräbern in Südamerika Frauenskelette gefunden wurden, die mit Steinzeitwerkzeugen bestattet wurden, die man auch für Großwildjagd benötigt hat [10]. Andere Arbeiten lassen vermuten, dass Frauen in Jäger-Sammler-Kulturen bereits vor etwa 12.000 Jahren sogar zwischen 30 und 50?% der prähistorischen Großwildjäger ausmachten [11]. Das klassische Bild des jagenden Mannes und der sammelnden Frau ist offenbar korrekturbedürftig.
Trotzdem: Das meiste, was aus archäologischen und fossilen Befunden bezüglich unterschiedlicher Geschlechterrollen abgeleitet wird, ist (noch) spekulativ. Da wenig strapazierfähige Datenquellen vorliegen, helfen gegebenenfalls auch theoretische Überlegungen wei16ter, um sich die mögliche Arbeitsteilung bei den Menschen zu erklären. Anhand der Analyse stabiler Isotope in Neandertalerskeletten kann man erschließen, dass pflanzliche Nahrungsmittel bei den Neandertalern nur eine geringe Bedeutung für die Ernährung hatten.4 Sie haben vorrangig Tiere gejagt, um sich von deren Fleisch zu ernähren. Insofern ist eine geschlechtstypische Ernährungsversorgung bei den Neandertalern eher unwahrscheinlich. Deshalb vermuten einflussreiche Anthropologen, dass bei den Neandertalern lediglich eine geringfügige geschlechtliche Arbeitsteilung praktiziert wurde. Neandertalerfrauen haben wahrscheinlich ebenso wie Neandertalermänner an Jagden teilgenommen; aber genau weiß man es nicht. Vermutet wird, dass sich erst ab dem Homo sapiens (also vor gut 70.000–150.000 Jahren) die auch bei heutigen Jägern und Sammlern vermuteten Formen geschlechtlicher Arbeitsteilung etabliert haben. Vielleicht könnte dies zu einem Selektionsvorteil des Homo sapiens gegenüber dem Neandertaler geführt haben.
Es sind also einige Anzeichen für Arbeitsteilungen zwischen den Geschlechtern vermutbar, aber nicht belegt. Möglicherweise waren Frauen für körperlich anspruchsvolle Varianten der Jagd weniger geeignet als Männer. Ein weiterer Aspekt ist das mit der Großwildjagd verbundene Risiko. Die Wahrscheinlichkeit, mit leeren Händen heimzukommen, ist recht hoch, und die Jagd ist in der Regel mit tagelangen Streifzügen fern des Heimatcamps verbunden. Zudem ist die Gefahr beträchtlich, bei der Jagd ernsthaft und sogar lebensbedrohend verletzt zu werden. Sammeln und Kleintierjagd sind dagegen weitaus risikoarmer, und man bewegt sich während dieser Beschäftigungen näher am Basiscamp. Die Arbeit kann auch jederzeit unterbrochen werden. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, einen guten Ertrag zu erzielen, beim Sammeln und Jagen von Kleintieren weitaus höher. Diese Unterschiede lassen es sehr wahrscheinlich erscheinen, dass Frauen aufgrund der Sorge für die Aufzucht von Nachkommen eher das Sammeln plus Kleintierjagd wählen. Zudem wäre eine Großwildjagd für eine 17Mutter, die ein Baby zu versorgen hat, oder für eine schwangere Frau zu gefährlich, vorwiegend für das Leben des Nachwuchses. Dafür spricht auch, dass in extremen und nahezu lebensfeindlichen Lebensumwelten die geschlechtliche Arbeitsteilung sogar extreme Formen annehmen kann. So zum Beispiel bei arktischen Jägergesellschaften, bei denen fast ausschließlich Männer die Jagd bestreiten, während Frauen und Kinder sich kaum an der Nahrungsbeschaffung beteiligen. Je reicher und lebensfreundlicher die Lebensumwelten werden, desto geringer ist die Ausprägung geschlechtlicher Arbeitsteilung [12, 13].
Aber Vorsicht: In den neuen Publikationen zu diesem Thema wird sogar vermutet, dass Frauen in der Steinzeit gejagt haben könnten,...