E-Book, Deutsch, Band 17, 160 Seiten
Reihe: edition fünf
Jakob / Hölzl Wenn der Hahn kräht
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-942374-61-3
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwölf hellwache Geschichten aus Brasilien
E-Book, Deutsch, Band 17, 160 Seiten
Reihe: edition fünf
ISBN: 978-3-942374-61-3
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Luísa Costa Hölzl, geboren 1956 in Lissabon, ist Dozentin für Portugiesisch und Publizistin. Wanda Jakob, geboren 1976 in München, hat bei Luísa Costa Hölzl gelernt und ist Literaturübersetzerin und freie Lektorin. Seit einigen Jahren entwickeln die beiden gemeinsam für Lusofonia e.V. Projekte zur Förderung und Verbreitung portugiesischsprachiger Kulturen und veranstalten regelmäßig Lesungen in München.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Beatriz Bracher "Zezé Sussuarana", Deutsch von Maria Hummitzsch
Augusta Faro "Gertrudes und ihr Mann", Deutsch von Renate Heß
Andréa del Fuego "Eine Million Mal", Deutsch von Marianne Gareis
Cecilia Giannetti "Ana und Letícia", Deutsch von Maria Hummitzsch
Claudia Lage "Wenn der Hahn kräht", Deutsch von Marianne Gareis
Ivana Arruda Leite "Frau aus dem Volk", Deutsch von Karin von Schweder-Schreiner
Tatiana Salem Levy "Vertane Zeit", Deutsch von Renate Heß
Ana Paula Maia "Bazille", Deutsch von Wanda Jakob
Tércia Montenegro "Auf offener Straße", Deutsch von Claudia Stein
Cíntia Moscovich "Hunger und Esslust", Deutsch von Karin von Schweder-Schreiner
Livia Garcia Roza "Meine Süße", Deutsch von Barbara Bichler
Paula Taitelbaum "Schach", Deutsch von Claudia Stein
Tatiana Salem Levy
Vertane Zeit
Lúcia vergewissert sich, dass ihr Mann weggefahren ist, bevor sie im Schrank des Dienstbotenzimmers den Koffer mit den Fotos und den Briefen von André sucht. Gleich nach dem ungewöhnlichen Anruf vor einer Woche hatte sie um einen freien Tag gebeten. Sie hatte gerade die Wohnung verlassen wollen und die Tür schon geöffnet, als sie das beharrliche Klingeln des Telefons hörte. Am anderen Ende der Leitung fragte eine vage vertraute Stimme nach ihr, die sie aber nicht identifizieren konnte. Gleich darauf verkündete sie:
»Wir werden André beerdigen.«
André beerdigen? Die Ankündigung hallte in Lúcias Kopf nach wie das leise Rauschen der Wellen nach einem Nachmittag am Meer. Ein einziger Satz und die Zeit hörte auf zu existieren, als wären die fast vierzig Jahre, die Andrés Tod von diesem Morgen trennten, an dem sie einfach zur Arbeit gehen wollte, ein leerer Raum. Ein Vakuum zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, die sich in dem energisch geäußerten Satz trafen. Lúcia ist nicht mehr zwanzig, und fast nichts in ihrem Leben oder an ihrem Körper lässt die junge Frau ahnen, die sie einmal war. Erst dieser Satz konnte wieder an die Oberfläche bringen, was sie lange Jahre als Geheimnis gehütet hatte.
»Aber … Hat man denn seinen Leichnam gefunden?«
Die Beerdigung war auf zwölf Uhr angesetzt. Es hatte viele Jahre gedauert, bis Andrés Familie vor Gericht eine Entschädigung erlangt hatte. Das Fehlen des Leichnams, von Fotos und Dokumenten erschwerte den Prozess: Außer der Gewissheit seiner Verwandten gab es keine handfesten Beweise. Viele Beweise lagen in Archiven mit sieben Siegeln verborgen. Trotz der Hindernisse wurde er schließlich als Verschwundener anerkannt. Der brasilianische Staat hatte sich zur Schuld bekannt, und nun hatte sich Andrés Familie entschlossen, ihn ohne Leichnam zu beerdigen.
Der harte Lederkoffer ist alt und eingestaubt. Lúcia hat zuletzt vor zweiundzwanzig Jahren hineingeschaut, als sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in das Appartement am Botanischen Garten zog, in dem sie bis heute leben. Im Koffer ruht eine blaue Schachtel mit weißen Punkten, ein Geschenk von André. Die vergilbten Fotos obenauf zeigen eine zierliche Lúcia, anders als die Lúcia von heute, und einen energischen, hübschen André. Unter den Fotos liegen seine Briefe, die Zettelchen, Liebeserklärungen auf zerschlissenem Papier. Sie stülpt die Schachtel um, breitet Fotos und Briefe auf dem Boden aus, gespannt, ob sie finden wird, was sie sucht: ein Amulett in der Form eines Auges, das André nicht mehr abgelegt hatte, seit seine Großmutter es ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Das Amulett, das Lúcia an jenem unseligen Tag trug, an dem das Schicksal ein einziges Mal zynisch ihre Rollen vertauschte. Für immer.
Lúcia und André hatten sich schon auf dem Gymnasium kennengelernt, dem Colégio Pedro II im Zentrum. Sie waren fünfzehn und entdeckten gemeinsam die Liebe und die Politik. Lúcia war eine politisch engagierte Jugendliche. Schon als sie noch klein war und nach dem Staatsstreich das Gemurmel ihrer Eltern hörte, die gegen das Regime waren, hatte sie beschlossen, etwas für die Zukunft des Landes zu tun. Sie engagierte sich zunächst in der Schülervertretung, bis sie sich schließlich von einem Freund überreden ließ, der Kommunistischen Partei beizutreten. Dahin nahm sie André mit, der am Anfang nur ein verliebter Junge war, sich aber bald ebenso für die politischen Fragen interessierte wie sie. Nach der Spaltung der Partei wechselten sie zur Nationalen Befreiungsbewegung ALN, bereit, mit Waffen gegen die Diktatur zu kämpfen.
Waffen? Manchmal fragten sie sich, ob das die beste Lösung war. Und wenn wir besiegt werden? Und wenn wir umkommen? Und wenn? Die Fragen schwirrten ihnen durch den Kopf, vor allem in den seltenen Momenten, wenn sie im Bett oder bei einem ausgedehnten Bad allein waren. Aber die Zeit drängte, und obwohl die Angst sie ständig begleitete, mussten sie sie beiseiteschieben.
Lúcia und André sind in ein zweistöckiges Haus in Jacarepaguá gezogen, wo sie für unbestimmte Zeit bleiben sollen. Das Haus ist relativ groß, aber sehr einfach und ein wenig heruntergekommen. Die weiße Farbe blättert von den Wänden, es gibt fast keine Möbel. Doch das macht ihnen überhaupt nichts aus. Zwei Dinge zählen für sie: die Revolution und die Liebe, gleich, in welcher Reihenfolge.
Seit über drei Jahren befinden sie sich im Kampf. Sie haben wichtige Gefährten verloren und die Schlinge zieht sich jeden Tag fester zu. Die Polizei fahndet nach ihnen, Steckbriefe auf den Straßen und in den Zeitungen zeigen ihre Gesichter. Sie wissen, dass sie sterben können, aber sie sträuben sich, das Land zu verlassen, sie haben noch Hoffnung. In gewisser Weise ist das Haus ein neuer Anfang.
Unter der Dusche erinnert sich Lúcia an alle Einzelheiten ihres Zusammenlebens. Sie denkt an die zärtlichen Umarmungen, die sie freudig, aber auch mit Beklemmung erlebte: Würden sie sich am nächsten Morgen noch umarmen können? Sie waren so jung, hatten so viel Energie, so viel Kampfeswillen und doch schon Angst vor dem Tod. Nach und nach verloren sie liebe Freunde, für Tränen blieb zwischen Diskussionen und Aktionen wenig Zeit. Immer mehr wich die Sicherheit den Zweifeln, aber es war notwendig, den Kampf weiterzuführen.
Lúcias Deckname war Vera, André hieß Carlos. Nur heimlich nannten sie sich beim richtigen Namen. Während das warme Wasser über ihren Körper rinnt, hört sie André in ihr Ohr flüstern. Und lächelt. Lächelt und weint gleichzeitig. Manchmal wünscht sie, das Leben wäre anders verlaufen. Wer überlebt, trägt stets den Schmerz der Schuld.
Sie sind schon seit einem Monat allein im Haus und haben den ganzen Tag mit Nichtstun verbracht. Draußen ist gerade ein Unwetter losgebrochen. André steigt hinter Lúcia die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Sie legt sich hin, um auszuruhen. Er bleibt am Fenster stehen und schaut in den Regen hinaus, lauscht dem Trommeln der Tropfen unten im Hof. Der Himmel ist blaugrau und wird bald, mit Einbruch der Nacht, schwarz werden.
»Komm her, leg dich zu mir.«
André verharrt schweigend, mit den Gedanken weit weg. Lúcia gibt nicht auf.
»Komm her, komm.«
André wendet sich ihr mit einem zärtlichen Lächeln zu.
»Ja, Genossin, deine Bitte ist mir Befehl.«
»Blödmann!«
»Soll ich das Licht löschen?«
»Nein, lass es an.«
»Brasiliens meistgefürchtete Revolutionärin hat Angst vor dem Dunkeln?«
»Ich habe keine Angst vor dem Dunkeln …«
»Warum soll das Licht dann anbleiben?«
Das Auge des Amuletts, das auf dem Bett liegt, beobachtet Lúcia beim Anziehen. Sie zieht ein schwarzes Kleid aus dem Schrank, ein Geschenk von ihrem Mann Roberto. Plötzlich erschrickt sie über ihre eigene Geste. Ein undeutliches Gefühl überfällt sie, ein Zögern hält sie zurück: Soll sie zu Andrés Beerdigung mit dem Geschenk eines anderen Mannes gehen? Das Amulett schaut sie forschend an, und sie hat irgendwie das Gefühl, den Mann, dem sie so vieles geschworen hatte, verraten zu haben. Das schwarze Kleid dehnt die Zeit wieder aus. Ja, sie hatte ein Leben. Zwischen Andrés Tod und seinem Begräbnis hat sie viel erlebt. Fast zehn Jahre war sie in Mexiko im Exil. Dort hat sie Volkswirtschaft studiert und ein erstes Mal geheiratet, Gabriel, den Vater ihres einzigen Sohnes, der dann von Roberto aufgezogen wurde. Sie hat ganz Mittelamerika bereist, war unzählige Male in Kuba. Während ihrer Zeit in Mexiko kämpfte sie weiter und hörte erst auf, als sie wieder nach Brasilien zurückkehrte, als wäre sie hier einfach nicht mehr dazu imstande. Sie arbeitete in Unternehmen, unterrichtete, sie führte ein Leben, das sie einst abgelehnt hatte, das ihr aber mittlerweile recht war. Sie interessierte sich nicht mehr für große Veränderungen, sondern begnügte sich mit kleinen Freuden.
Lúcia spürt die Last der Zeit: die Zeit, in der sie so vieles gemacht hat, die Zeit, in der sie nichts gemacht hat. Nie hat sie André vergessen, ihr innerstes Geheimnis, eine Geschichte, die sie niemandem erzählte und die nur das Amulett kennt. Das Amulett, das sie jetzt mit der gleichen Intensität beobachtet wie vor vierzig Jahren. Sie wünscht sich, dass die Ereignisse anders verlaufen wären, dass sie nicht unwiderruflich wären. »Ich hätte sterben sollen, nicht er.«
Die Haare zum Knoten gebunden, die Augen leicht geschminkt und etwas Rouge auf den Wangen, räumt Lúcia ihre Habseligkeiten von einer Tasche in die andere. Diese banalen Gesten...




