E-Book, Deutsch, 496 Seiten
James Der Krieg der Worte
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-451-83439-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
16 Schlüsselbegriffe im Kampf um die Weltordnung
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-451-83439-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Harold James, Prof. Dr. Dr. h.c., geboren 1956, ist Professor für Geschichte an der Princeton University und Professor für Internationale Politik an der dortigen School of Public and International Affairs. Harold James hat bahnbrechende Forschungen zur deutschen Geschichte und zur Wirtschafts- und Finanzgeschichte der Zwischenkriegszeit geliefert und beschäftigt sich insbesondere mit der Geschichte der Globalisierung seit dem 19. Jahrhundert.
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Einleitung: Wie aus Wörtern Auseinandersetzungen werden
Wir erleben aktuell, wie das Aufeinandertreffen zweier Prinzipien oder Philosophien die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik radikal verändert. Globalismus, Kosmopolitismus, Internationalismus, Multilateralismus: Es gibt viele Wörter für das Prinzip der Weltoffenheit. Auf der anderen Seite stehen Partikularismus, Lokalismus und Nationalismus. Ein Virus, das 2020 zum Gesicht – zur Verwirklichung – der Globalisierung wurde, hat diese Polarisierung weiter verschärft. Die Coronapandemie hat viele Entwicklungen beschleunigt, die bereits weit fortgeschritten waren. Sie führte dazu, dass Technologien in neue, häufig privatere Anwendungsbereiche vordrangen, und gab (zwischenzeitlich) dem Anti-Globalisierungs-Backlash neuen Aufwind. Sie hat zu ökonomischen und sozialen Spannungen sowie zu neuen und eigenartigen Formen psychischer Belastungen geführt.
In Krisenzeiten muss man umdenken und sich umorientieren: Man kann auf die Grundlagen zurückgreifen. Verrät uns die Geschichte irgendetwas darüber, was uns bevorsteht und wie wir darüber denken sollen? Dieses Buch geht davon aus, dass Zeiten des tiefgreifenden sozialen Wandels neue Fragen aufwerfen und neue Vokabeln hervorbringen. Unser Wortschatz ist ein Spiegel unserer Ideen, und diese bündeln unsere kollektiven Ansichten der Realität. Sie übersetzen individuelle Erfahrungen in ein allgemeineres oder sogar universelles Verständnis. Ein Kernsatz von Ludwig Wittgensteins Philosophie lautet bekanntermaßen: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«1 Es war schon immer die Sprache, die Menschen voneinander trennte: In der Geschichte vom Turmbau zu Babel, einer unserer mächtigsten Mythen, zerstört Gott ein Gebäude, das eine universelle Sprache erschaffen hätte, weil diese den Menschen quasi-göttliche Kräfte verliehen hätte (»Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.«)2. Es hat seitdem zahlreiche Versuche gegeben, Universalsprachen zu erschaffen – zwei Beispiele sind Esperanto und Volapük –, doch diese sind schnell wieder in Vergessenheit geraten. Stattdessen haben wir uns weitgehend an den Gedanken gewöhnt, dass Übersetzungen möglich sind, auch wenn dabei vielerlei Nuancen verloren gehen. Insbesondere wenn wir verstehen wollen, mit welchen Begriffen Menschen über Staaten und Regierungen nachdenken – und inwiefern die internationale Gesellschaft von internationalen Beziehungen und ideologischen Kämpfen geprägt ist –, werden bestimmte Sprachen immer wieder übersetzt, und zwar häufig schlecht oder unzureichend. Dabei bleibt oft unbemerkt, wie groß die Verluste in Übersetzungen sind.
Häufig wird so getan, als sei das Übersetzen ein simpler Tauschhandel, ähnlich dem Bezahlen mit Geld, bei dem Äquivalenzen zwischen Waren, Dienstleistungen oder sogar Versprechungen hergestellt werden. Doch die Wörter, mit denen in den heutigen kulturellen, politischen und ökonomischen Kampfdebatten wie mit Munition ständig um sich geworfen wird – Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Imperialismus und Hegemonie, Multilateralismus, Geopolitik, Populismus, Technokratie, Schuldenpolitik, Globalismus, Globalisierung und Neoliberalismus, um nur einige zu nennen –, sind so unklar definiert, dass sie gar nicht mehr für einen Tauschhandel genutzt werden, sondern für das Verwischen von Argumenten und das Diskreditieren von Menschen mit anderen Meinungen. Alle Begriffe, denen in diesem Buch auf den Grund gegangen wird, wurden im Laufe ihrer langen Geschichte von Befürwortern und Gegnern ausgiebig hin- und hergeschmissen. Nachdem sich mit diesen Begriffen anfangs eine bestimmte Problemlage eines historischen Moments präzise einfangen ließ, beschleunigte sich die Vielfalt ihrer Bedeutungen und sie verleibten sich lawinenartig im Laufe der Zeit immer mehr Konnotationen ein, bis sie schließlich vereisten – oder schmolzen. Präzise Analysen sind mit ihnen nunmehr unmöglich.
Ein bemerkenswerter und bis heute aktueller Aufsatz des großen russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn behandelt diese Art von Wortverwirrung. Für ihn war eine Lüge nicht einfach eine Unwahrheit, sondern die Folge verzerrter und verdrehter Bezeichnungen: »Nicht die toten Knöchelchen und Schuppen der Ideologie zusammenkleben, nicht den vermoderten Lappen flicken – und wir werden erstaunt sein, wie schnell und hilflos die Lüge abfällt, und was nackt und bloß dastehen soll, wird dann nackt und bloß vor der Welt stehen.«3
Der Philosoph William James sorgte vor über einem Jahrhundert mit seiner These für großen Aufruhr, dass sich eine Theorie an dem, so James, »Barwert der Wahrheit in Bezug auf die tatsächliche Erfahrung«4 messen lassen müsse. Laut James hätten Theorien keine eigene Qualität für einzelne Individuen, sondern bezögen ihren Wert aus ihrer Akzeptanz innerhalb eines breiteren Umfelds bzw. durch ihre Zirkulation in einem Markt. Diese Ansicht wurde von John Grier Hibben, einem Philosophen und späteren Präsidenten der Princeton University, scharf angegriffen. Er sagte – kurz nach dem verheerenden Finanzcrash von 1907 –, James’ Forderung würde »in der Welt unseres Denkens eine ebenso große Panik auslösen wie ein ähnlicher Gedanke in der Finanzwelt.«5 Die Diskussion hat nicht an Aktualität verloren, denn tatsächlich greift Panik unter vielen Menschen um sich.
Genau wie Währungen findet man den Ursprung der Begriffe, um die es in diesem Buch geht, in den Machtzentren. In der Geschichte des Geldes waren Großbritannien im 19. Jahrhundert und die Vereinigten Staaten im späten 20. Jahrhundert vorherrschend. Auch Theorien haben ihren Ursprung in Produktions- und Handelszentren – Orte, an denen Ideen entstehen, aufeinandertreffen, weiterentwickelt und verzerrt werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Zeit nach der Französischen Revolution, brachte Frankreich, insbesondere Paris, formbare Begriffe wie Nation, Sozialismus und Demokratie hervor. Im späten 19. Jahrhundert nahm Deutschland nicht nur eine neue politische Rolle ein, sondern wurde auch zu einem intellektuellen Machtzentrum. Hatten deutsche Denker das französische Vokabular zuvor noch begeistert in ihre eigene Sprache übernommen, so entwickelten sie nun selbst neue Begrifflichkeiten wie Machtpolitik und Geopolitik.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts überquerte viel deutsches Vokabular den Atlantik und landete in einem neuen Schmelztiegel. Die Menschen, die diese Begriffe mit sich brachten, waren oft vor dem Nationalsozialismus geflohen – einem System, das teilweise aus jenen Begriffen hervorgegangen war, die sie selbst internalisiert hatten. In den Vereinigten Staaten wurden diese Begriffe Teil einer neuen Sprache, mit der die aufsteigende Supermacht über ihre Vision einer Weltordnung nachdachte.
Die Vergangenheit (und ihre Denkerinnen und Denker) vererben uns die Sprache, mit der wir Meinungen ausdrücken und anfechten. Besonders zwei Epochen haben einen Großteil unserer heutigen politischen Begriffe und damit auch unsere Reaktionen auf die zahlreichen Krisen, die wir der Globalisierung zu verdanken haben, geprägt. Die erste sprachliche Innovationsepoche fand vor rund 200 Jahren statt, nach dem Ende der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege. In der Zeit nach der doppelten Umwälzung durch die Französische und Industrielle Revolution entstand eine neue politische Sprache, in deren Zentrum Nation und Demokratie, später dann Kapitalismus und Sozialismus standen. Der große deutsche Geisteshistoriker Reinhart Koselleck hat diese Phase als Sattelzeit bezeichnet (abgeleitet von einem Bergsattel, von dem Reisende die gegensätzlichen Landschaften zweier unterschiedlicher Täler überblicken können). Es geht hier also um eine Bewegung durch Zeit und Raum. Im frühen 19. Jahrhundert erblickten die Schlüsselbegriffe der politischen Moderne das Licht der Welt: Neben Nation und Nationalismus auch Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, Kapitalismus und Demokratie. Der letzte Begriff, Demokratie, ist natürlich viel älter, doch der Begriff wurde damals auf neue Weise im Kontext einer anderen Organisationsform – großangelegte Wahlen anstelle von Losverfahren für die Vergabe politischer Ämter – wiederentdeckt. Daher hatten die demokratischen Debatten kaum noch etwas mit dem antiken Athen oder den spätmittelalterlichen Stadtstaaten Italiens zu tun. Wir denken auch heute noch in Ismen und aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte sind diese Begriffe auf ebenso seltsame wie komplexe Weise miteinander verflochten und voneinander abhängig. Sie atmen dieselbe intellektuelle Luft.
Sozialismus und Kapitalismus sind ein Beispiel für diese Form der begrifflichen Symbiose – sie sind...