E-Book, Deutsch, 185 Seiten
Reihe: Piper Spannungsvoll
Jarosch Alles schläft
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-98579-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein weihnachtlicher Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 185 Seiten
Reihe: Piper Spannungsvoll
ISBN: 978-3-492-98579-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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2. Kapitel
»Constanze.«
Meine Mutter ist die einzige Person, die mich immer mit meinem vollen Namen angesprochen hat, statt ihn abzukürzen. Sehr zu meinem Ärger, denn ich konnte ihn nie leiden. Als ich jünger war, hat mich eine Mitschülerin mal damit aufgezogen, obwohl die blöde Ziege sich besser nicht mit mir angelegt hätte. Aber sie hatte nicht unrecht: Wer heißt heute schon Constanze? Erst als Irene kam, die ihren genauso altmodischen Namen mit Stolz trug und sich nicht um solche Sprüche scherte, habe ich mich damit arrangiert. Dennoch klingt der Name noch immer irgendwie sonderbar in meinen Ohren. Meine Mutter hat ihn ausgesucht, hat mir mein Vater einmal erzählt. Nach einer Schauspielerin, die sie verehrt hat. Und auch, wenn ich ihn trotzdem nicht mochte, war diese Information irgendwie tröstlich. Denn das bedeutete, dass es wahrscheinlich zumindest einen Moment in unserem Leben gegeben haben muss, an dem meine Mutter sich über mich gefreut hat.
Ich lasse die Pflegehilfe, die Marion engagiert hat, an mir vorbei aus dem Zimmer schleichen und komme mit zögerlichen Schritten ans Bett. Je schneller ich das hinter mich bringe, desto besser. Ich atme flach, weil der Geruch von Krankheit in der Luft liegt, obwohl meine Mutter ja nichts Ansteckendes hat und ich mich nicht vor einer Infektion zu fürchten brauche. Ich hasse Elend einfach, ich möchte es weder einatmen noch berühren und eigentlich will ich es nicht mal sehen. Dummerweise brauche ich ihre Hilfe, deshalb überwinde ich mich trotz meines Unbehagens und schaue ihr ins Gesicht. Erschrocken öffne ich den Mund. Sie ist gealtert. Um deutlich mehr als die zwei Jahre, die ich weg gewesen bin. Das schlechte Gewissen überkommt mich unerwartet heftig. Ihre Haut ist so blass und dünn, dass man durch sie hindurchsehen kann.
Mit einer schwerfälligen Bewegung winkt sie mich noch ein Stück näher zu sich heran. Der Blick in ihren Augen kommt mir vor wie immer. Nicht direkt unfreundlich, aber eben auch nicht herzlich.
Sie versucht, etwas zu sagen, aber die Worte zu formen bereitet ihr Mühe.
»Du siehst hübsch aus.« Sie lächelt! Es wirkt etwas schief und angestrengt, aber es soll eindeutig ein Lächeln sein. Mir wird umgehend ein klein wenig leichter ums Herz. Ich habe nicht darauf spekuliert, von ihr etwas Nettes als Begrüßung zu hören. Es hätte mich nicht gewundert, von meiner Mutter genauso abgewiesen zu werden wie von Marion gestern Abend.
»Wie geht es dir?«, frage ich. Schlecht, offensichtlich. Wesentlich schlechter als bei meiner Abreise. Am liebsten würde ich den Kopf wegdrehen, oder gleich raus, an die frische, eisige Luft. Eine Lungenentzündung ist womöglich erträglicher als das hier.
Sie seufzt. »Es ging mir schon mal besser. Aber du weißt ja: Mich bringt so schnell nichts um.«
Mein Blick fällt auf den Rollstuhl, der hinter der Tür bereitsteht. Sie lügt. Ich erinnere mich nur zu gut daran, was für eine stolze Frau sie gewesen ist. Darauf angewiesen zu sein, dass jemand ihr bei den alltäglichsten Dingen hilft, muss die Hölle für sie sein. Aber Jammern ist nicht ihre Art. Das ist Marions Spezialgebiet.
»Marcel?«, fragt meine Mutter mit schwerer Zunge.
»Habe ich verlassen«, antworte ich genauso knapp. Das ist nur die halbe Wahrheit, denn er hat schließlich alles dafür getan, dass es soweit gekommen ist.
»Gut, dass du wieder da bist«, sagt meine Mutter. Obwohl das nicht gerade ein Feuerwerk an Emotion und Mutterliebe ist, bedeuten mir diese freundlich-nüchternen Worte etwas. Sie freut sich, mich zu sehen. Das allein ist schon erstaunlich genug, aber in Anbetracht meines Verhaltens während der letzten zwei Jahre grenzt es an ein Wunder. Ich bin gerührt, aber genau wie sie schaffe ich es nicht, ihr meine wahren Gefühle zu zeigen, sie in eindeutige Sätze, Mimik und Gesten zu packen. Weil es einfach ungewohnt ist, mich ihr von meiner verletzlichen Seite zu zeigen, wo sie doch früher immer auf der Suche nach einer Angriffsfläche zu sein schien.
»Ja«, erwidere ich deshalb nur dankbar.
»Sie hat dir nicht vergeben. Auch wenn sie das nicht so sagt«, belehrt mich Marion, als ich kurz darauf das Zimmer unserer Mutter verlasse. »Du hast uns im Stich gelassen.«
Sie deckt den Frühstückstisch. Ich setze mich auf meinen ehemaligen Lieblingsplatz vor dem Kamin, in der Hand eine Tasse dampfenden Kaffee, und lausche stumm Marions Vorwürfen. Es ist keine Lüge: Ich bin gegangen und auch nicht zurückgekommen, als unsere Mutter im Rollstuhl gelandet ist. Meine Gründe dafür interessieren Marion nicht, also lasse ich sie einfach schimpfen, genau wie die Nachbarn und alle anderen in Wetterbach, denen das Familiendrama nicht entgangen ist. Mit meiner Rückkehr gibt es endlich neuen Stoff für Klatsch und Tratsch. Bestimmt hängt Martha von nebenan schon mit dem Handy am Ohr geifernd am Gartenzaun, eine dicke Lage Schnee auf ihrer scheußlichen Pelzmütze.
»Papa würde sich im Grab umdrehen, wenn er davon wüsste«, ätzt Marion.
Ich kneife die Lippen fest zusammen, statt ihr die zornige Bemerkung entgegenzuschleudern, die sie für diese bescheuerte Aussage verdient.
»Kommt noch jemand?«, frage ich stattdessen, als mir auffällt, dass sie ein Gedeck zu viel auf den Tisch stellt. Im selben Moment höre ich, wie die Haustür aufgeht. Marion richtet sich hastig das mausbraune Haar. Sie hat es zu einem Zopf gebunden, was ihr Gesicht noch länger und dünner aussehen lässt.
»Hallo«, ertönt es aus dem Flur, wo unser Besuch offenbar gerade dabei ist, Mantel und Schuhe abzulegen. Die Stimme kommt mir bekannt vor.
Hannes.
Ich stelle hastig die Kaffeetasse zur Seite, stehe auf und verfluche mich dafür, dass ich bisher zu faul zum Duschen gewesen bin. Bestimmt sehe ich furchtbar aus. Aber was soll’s, für Hannes hat es nie eine Rolle gespielt, ob ich gestylt war oder nicht. Hat Marion ihn etwa eingeladen, um mir eine Freude zu machen? Ich mustere sie argwöhnisch, denn das passt nicht zu ihr, aber wer weiß – vielleicht gibt sie sich ja doch etwas Mühe, unser Verhältnis zu verbessern. Häuschen, guter Job und eine wiederhergestellte Familie – alle Kriterien erfüllt, nichts steht der Wahl zur Spießbürgermeisterin von Wetterbach mehr im Wege. Martha, die immer noch mit kaltgefrorener Nase am Zaun hängt, fällt sicher fast drüber, so sehr spekuliert sie auf einen Riesenkrach, aber womöglich unterschätzt sie Familie Berghoff?
Ich schaue erwartungsvoll zu Marion, und sie lächelt zurück, aber es wirkt irgendwie … komisch. Was ist los?
»Ich habe ganz vergessen, zu erwähnen, dass ich mittlerweile einen Freund habe«, sagt sie und nestelt wieder an ihren Haaren rum. Etwas stimmt nicht, ihre gute Laune versetzt mich in Alarmbereitschaft, mein Körper reagiert mit nervöser Anspannung, ohne zu wissen, warum genau.
Ich runzle die Stirn und sage verwirrt: »Schön. Das freut mich für dich!«
Quatsch, es überrascht mich eher! Marion ist zweiundzwanzig, zwei Jahre älter als ich, aber bevor ich ausgezogen bin, hat sie nie jemanden mit nach Hause gebracht. Ihre Mundwinkel zucken, während ich noch immer dabei bin, dieses eigenartige Lächeln zu analysieren. Hinterhältig. Ja, das trifft es. Sie lächelt hinterhältig.
Trotzdem realisiere ich den Grund dafür erst einen Moment, nachdem Hannes ins Wohnzimmer gekommen ist und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben hat. Danach wendet er sich mir zu.
»Hallo Conni.«
Krampfhaft presse ich die Zähne aufeinander. Ich starre. Muss ich etwas sagen? Irgendwo in meinem Kopf läuft die Mahnung, dass dieser Gruß normalerweise nach einer Erwiderung verlangt. Aber normalerweise küsst Hannes ja auch nicht meine hämisch grinsende Schwester, ich befinde mich gerade offensichtlich in einer Parallelwelt. Und wer weiß schon, was da für Gesetze gelten.
»Hallo Hannes.« Das reicht hoffentlich. Mehr bringe ich nicht heraus.
Hannes fährt sich mit einer verlegenen Geste durchs Haar und lächelt gezwungen. Die Szene ist so absurd, dass ich nicht weiß, ob ich lachen oder kotzen soll. Oder beides, abwechselnd. Gnadenlose Weihnachtszeit.
Hannes also. Von allen Männern Wetterbachs stürzt sich meine Schwester auf den einen, der mir wichtig ist, sobald ich das Feld geräumt habe. Meinen Ex-Freund. Ich wusste zwar immer, dass sie ihn mochte, aber nie im Leben habe ich erwartet, dass Hannes sich eines Tages für sie erwärmen könnte. Er gehörte mir, sogar noch, nachdem ich Schluss gemacht hatte. Jeder wusste das, Marion auch.
Aber jetzt steht er da, in unserem Esszimmer. Mit demselben schlichten Haarschnitt wie früher, den gleichen, unmodern geschnittenen Jeans und dem freundlichen Gesicht mit den hübschen, aufmerksamen Augen.
Die Situation ist ihm peinlich, das kann ich ihm ansehen. Genau wie mir, obwohl ich immer noch eher entsetzt als peinlich berührt bin. Hannes war die Person, auf die ich mich am meisten gefreut habe, aber ich habe mir unser Wiedersehen definitiv anders vorgestellt.
Ich kann Marions Genugtuung angesichts meiner schockierten Reaktion spüren und setze rasch eine ungezwungene Miene auf, weil ich ihr diesen Triumph nicht gönne. Ich tue so, als wäre die Neuigkeit, dass Hannes und Marion ein Paar sind, nicht aufregender als die abgerissene Postfiliale, die ich auf meinem Weg hierher gesehen habe. Das ist also unser Stand. Nichts mit Versöhnung und Annäherung aneinander, meine Schwester konnte es bestimmt kaum erwarten, zu sehen, wie entgeistert ich sein würde. Diese Schlange!
»Ich hab schon gehört, dass du kommst«, sagt Hannes zu mir.
Er nimmt mich etwas unbeholfen in den Arm – obwohl wir uns schon viel, viel näher gekommen und einander...




