E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Jentsch Das Schneebrett
5. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7528-3633-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7528-3633-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
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Das Unvorhersehbare trifft Fabian Feuerbach, als er, den Kopf von ungewisser beruflicher Zukunft beschwert, mit seiner Freundin zu seiner Hütte in den Alpen aufsteigt und dabei in ein Schneebrett gerät. Er überlebt ohne Schaden, für sie kommt die Rettung zu spät. Jahre später, im Schutz der Nacht, in der Abgeschiedenheit eines italienischen Bergdorfes und mit der Hilfe seiner Frau, versucht er das Ereignis zu entschlüsseln. Er rekonstruiert die Pfade, auf denen er sich ihm genähert und die Verzweigungen, auf denen er sich wieder davon entfernt hat ...
Volker Jentsch studierte Physik und Geophysik. Er arbeitete an zahlreichen Universitäten und Forschungsinstituten im In- und Ausland und beschäftigte sich mit mathematisch-physikalischen Modellen in der Weltraum- und Klimaforschung. Am Ende der Reise landete er in der Bonner Universität. Dort gründete und gestaltete er, zusammen mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachrichtungen, das Interdisziplinäre Zentrum für komplexe Systeme. Heute befasst er sich, neben anderem, mit den Eigenschaften und Gemeinsamkeiten extremer Ereignisse, indem er die objektive mit der subjektiven Betrachtung konfrontiert.
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Der Aufstieg Er lag ausgestreckt im Liegestuhl auf seiner Terrasse, südlich der hohen Alpen, westlich des großen Sees. Gegenüber den bewaldeten, gerundeten Ausläufern des Gebirges. Umhüllt von der flüchtigen Luft eines trockenen, lauen Spätsommertags. Über den Leinenstoff des Stuhls hatte er, der Behaglichkeit halber, ein aus mehreren Stücken genähtes Schaffell ausgebreitet. Er liebte das Schaffell, es ist für ihn ein Symbol des Natürlichen, und dem Natürlichen gehört seine Zuneigung. Im Übrigen wusste er das Innovative im Künstlichen zu schätzen, war sich bewusst, dass unter gewissen Umständen das Künstliche dem Natürlichen überlegen, ihm womöglich sogar vorzuziehen sei. Da das Künstliche oft in natürlicher Verkleidung daherkommt, hielt er eine genaue Prüfung des Sachverhalts für unerlässlich, um das eine nicht mit dem anderen zu verwechseln. Aber er kam nicht umhin zuzugeben, dass jede Diskussion über das Natürliche und Künstliche, über deren Vor- und Nachteile, Gegensätze und Gemeinsamkeiten, zu kurz greift, wenn die materielle und die immaterielle, respektive die technische und die philosophische Seite der Angelegenheit nicht außer Acht gelassen wird. Von derlei Erwägungen unbeeindruckt hat die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft die Frage längst entschieden. Seinen Beobachtungen zufolge bevorzugen die Konsumenten das Künstliche, oder gleichbedeutend, das Synthetische: man kleidet, ernährt, bewegt sich künstlich, fährt auf Kunstschnee und überlebt mit künstlichen Organen. Wenn unumgänglich, liebt und befruchtet man sich sogar auf künstliche Weise. Und manche meinen gar, der Mensch selbst sei aus Kunststoff. Warum also nicht mitmachen in einer Welt, wo das Künstliche zum Natürlichen gemacht wird? Die lustig, luftig, locker und lebensfroh daherkommt? Nein und nochmals nein. Er war fest entschlossen, sich das Natürliche nicht ausreden zu lassen. Fabian Feuerbach war zutiefst beunruhigt. Die Erinnerung an den Aufstieg hatte sich zurückgemeldet. Nah und scharf war er, wie im April 1984. Die Zeit, die große Verbündete im Kampf um das Vergessen können, hatte ihn im Stich gelassen. „Herr Feuerbach, wir haben Sie vorgeladen, da Strafantrag gegen Sie gestellt worden ist. Sie werden wissen, warum. Es ist der Vorwurf der fahrlässigen Tötung erhoben worden. Ich will ermitteln, ob der Vorwurf zu Recht besteht. Ich verstehe, wenn es Ihnen schwerfällt, über das Ereignis zu reden. Dennoch möchte ich Sie bitten, mir einige Fragen zu beantworten, damit ich weiß, wie ich im Weiteren vorzugehen habe. Natürlich haben Sie das Recht, die Aussage zu verweigern. Aber aus der Tatsache, dass Sie gekommen sind, schließe ich, dass Sie sprechen wollen.“ Der Ermittlungsrichter war kaum älter als Feuerbach, um die vierzig Jahre. Sein Hemdkragen geöffnet, ohne Krawatte, darüber ein Jackett. Wäre er Richter, hätte er sich ähnlich angezogen, befindet Feuerbach. Überhaupt hätte er gern die Rollen getauscht. Hätte den Richter zum Physiker und sich selbst zum Richter gemacht. Aber das Leben war anders verlaufen. Der Richter sah über ihn hinweg ins Grüne. „So ist es“, sagte Feuerbach, der ihm gegenüber Platz genommen hatte. „Dann sagen Sie mir doch bitte, ob Sie sich verantwortlich fühlen.“ Feuerbach betrachtete die gegenüberliegende Wand. Er sah keine Unregelmäßigkeiten, sie war weiß und nackt. Aus ihr konnte er nichts herauslesen. „Ich gehe nicht wieder mit dir, wenn du dich so verhältst, es ist mein Ernst.“ Der Rest ihrer Ankündigung war an mir vorbeigeflogen und in den Schnee gefallen. Ich hatte gezögert, wollte ihn aufheben und hatte ihn doch liegen gelassen. Es gab Wichtigeres zu tun. Ich musste mich auf den Aufstieg vorbereiten. Ich hatte nicht den stärksten Tag erwischt. Ich war matt aus den Träumen gestiegen und lehnte jetzt genauso matt an diesem Berg. Der Berg war eher harmlos; unter normalen Bedingungen und flottem Schritt brauchte es eine Stunde. Aber heute ... heute war nichts normal. Der Berg schien schier unüberwindlich. Ich stand unentschlossen im knietiefen Schnee. Die vergangene Nacht war chaotisch gewesen. Alles war durcheinandergefallen, ich sah mich oben und unten zugleich, mal rechts, mal links und irgendwer hatte mir gesagt, sie sei tot. Ich habe geträumt, du seiest tot, hatte ich ihr morgens im Bett berichtet, und du hattest gefragt, wie hast du dich dabei gefühlt. Und ich hatte erwidert, ich habe es nicht geglaubt. War ja eben nur ein Traum. Die Woche hatte viel Schnee gebracht. Fünfhundert Meter höher würde er sich jetzt wohl auf zwei Meter häufen, sich auf dem Dach türmen und den Eingang versperren. Weniger wäre uns lieber, weniger bedeutete eine stabilere Schichtung. Wir sollten warten. Aber sollten wir bis in Ewigkeit warten? Die Ferien neigten sich dem Ende zu, und Ferien ohne den Geschmack von unberührtem Schnee auf den Lippen waren eben keine richtigen Ferien. Ein paar Tage in unserem Elysion, das konnte uns niemand verwehren, schon gar nicht eine zu große Menge Schnee. Zum Teufel mit den Lawinen, versicherte ich mir, wir sind vertraut mit den Gegebenheiten, wir sind den Weg oft genug gegangen, um zu wissen, wann und woher sie kommen. Es ist gut, das zu wissen, schließlich sind wir besonnene Leute, keine Himmelsstürmer, keine Heißsporne, keine Hasardeure. Wir springen nicht vom Felsen ins Wasser, rasen keine Single-Trails bergab, springen nicht Bungee, sind keine Rooftoppers, balancieren nicht auf dem Hochseil, kurzum: Wir vermeiden das Extreme, sind ziemlich normale Bergwanderer. Wir überlegen uns vorab, worauf wir uns einlassen, vergewisserte ich mich. Und zu ihr gewendet: „Bist du bereit?“ Sie stand auf den Ski und knüpfte den Rucksack fest um ihren Bauch. Sie schwieg. Kein gutes Zeichen. Normalerweise reagierte sie schnell, war um Antworten selten verlegen. Wenn sie schwieg, wurde es ernst. Dann war sie beleidigt, gekränkt oder verletzt. Vielleicht auch nur pikiert. Weil ich ihre in den Schnee gefallene Bemerkung nicht aufgehoben hatte? Ich wollte keine Auseinandersetzung, jedenfalls jetzt nicht. Ich war mir sicher, dass sie mir dieses Versäumnis ins Gesicht werfen würde, sobald wir unser Ziel erreicht hätten. Das war ihr gutes Recht, sie liebte die Auseinandersetzung, insofern nichts Neues, nichts was nach sofortiger Reaktion verlangte. Dann dieses: „Liebst du mich?“ Himmel, auch das noch. Eine derartige Frage vor dem Aufstieg. Immer, wenn Zwietracht aufkam, wollte sie sich der Liebe vergewissern. Aber so richtig ernst war der Test nicht gemeint. Sie tat es wohl eher, um mich zu ärgern. Mich regte auf, dass sie eine so schwerwiegende Frage zu tagheller Stunde aussprechen mochte. Die war, wenn überhaupt, nur einem innigen, ich würde sagen außergewöhnlichen, vor allem abgedunkelten Augenblick vorbehalten. Dieser schneegrelle hier, dessen war ich mir sicher, gehörte jedenfalls nicht dazu. Ich wünschte mir, wie sie, eine Beziehung, in der mehr Einigkeit wäre. Irgendwie harmonischer, was das auch immer sein mochte. Eher merkwürdig, weil ich selbst nicht gerade ein harmonischer Mensch war, vielmehr wohl etwas stachelig, wie man sagte. Aber das schloss ja nicht aus, im Gegenteil, war nur allzu naheliegend, dass ein beständiges Verlangen nach einer gewissen Milde und Einträchtigkeit vorherrschte. Wer die Gefahr scheut, kommt in ihr um. Vor einigen Jahren hatte ich einem Arbeitskollegen diese verführerische Verdrehung der Wirklichkeit gewidmet, in der Absicht, ihn zum Kämpfer zu erhöhen, der er nicht war und auch gar nicht sein wollte. Allerdings war er doch um einiges mutiger und aufrechter als so viele andere. Er war in eine ziemlich erbitterte Kontroverse mit seinem Chef geraten, den es vor etlichen Jahren im Zuge einer allgemeinen Beförderung nach oben gespült hatte. Sein Aufstand war indessen nur von kurzer Dauer; er wurde kraft Amtes niedergeschlagen, und der Kollege sah sich gezwungen, seine durchaus hoffnungsvoll begonnene akademische Laufbahn vorzeitig zu beenden. Dann wurde er Lehrer und kam in den Genuss der unwiderruflichen Sicherheit des lebenslänglichen Beamtentums, um die ich ihn beneidete, wenn ich das Elend meiner eigenen beruflichen Lage vergegenwärtigte. Im Norden hatten sich schöne weiße Wolken aufgebaut. Sie würden herüberziehen, sich verdichten oder auflösen, jedenfalls ihre Form verändern, alles in allem kaum oder nur schwer vorherzusagen. „Lass uns die Gunst des Himmels nutzen und unter der Sonne den Berg ersteigen“, sagte sie. Hatte sie das gesagt? Oder hatte ich? Das ließ sich nach so langer Zeit unmöglich klären. „Geh nur voran, ich komm gleich nach“, rief ich ihr zu. Es war drei Uhr am Nachmittag. Ich wusste, dass die Verantwortung bei mir lag. Ich hatte die Naturwissenschaften studiert, deshalb vertraute sie meiner Einschätzung. Ich war kein Lawinenexperte, aber ich verstand etwas von den zugrunde liegenden Gesetzen. Und auch vom generellen Charakter der Prognosen. Gesetzt den Fall, dass eine Lawine mit einer...