E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
Joinson Kashgar oder Mit dem Fahrrad durch die Wüste
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-492-98213-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
ISBN: 978-3-492-98213-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Suzanne Joinson, geb. 1974, lebt mit ihrer Familie in Sussex, England. Sie studierte Creative Writing an der Goldsmith University und arbeitet für den British Council. Dort organisiert sie internationale Literaturprojekte, unter anderem im Mittleren Osten, Nordafrika und China. »Reise nach Kashgar« ist ihr erster Roman.
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Einige Punkte, die es zu beherzigen gilt: Studieren Sie die Gegend, die Sie bereisen wollen, und die Beschaffenheit der Straßen, arbeiten Sie sich vorab in die Landkarte ein, um sich Ihre Route, ihren groben Verlauf usw. einzuprägen. Achten Sie stets auf die Straße, auf der Sie unterwegs sind; führen Sie ein kleines Notizbuch, um darin interessante Beobachtungen festzuhalten.
Maria E. Ward, Fahrradfahren für Damen, 1896
Kashgar oder
Mit dem Fahrrad durch die Wüste – Notizen
Kashgar, Ost-Turkestan, 1. Mai 1923
Mit Bedauern muss ich festhalten, dass mir in der derzeitigen Lage nicht einmal Mrs Wards Fahrradhandbuch mit Hinweisen zur Kunst des Radfahrens – Ratschläge für Anfängerinnen – Kleidung – Fahrradpflege – Mechanik – Training – Übungen usw. usf. von Nutzen ist, denn wir sind in eine missliche Klemme geraten.
Beginnen kann ich wohl ebenso gut mit den Knochen.
Von der Sonne schneeweiß gebleicht, sahen sie aus wie winzige Flöten, und ich rief dem Kutscher zu, anzuhalten. Es war früher Abend. Um unser Ziel baldmöglichst zu erreichen, waren wir, törichte Engländerinnen, die wir nun einmal sind, tagsüber gereist, in der brütenden Mittagshitze. Vogelknochen waren es, die in einem Häuflein vor einer Tamariske lagen, und aus dem Muster im Staub könnte, wenn ich es nur zu deuten wüsste, vermutlich mein künftiges Schicksal abgelesen werden.
In dem Moment hörte ich den Schrei. Ein gellendes Jammern, das hinter einer Ansammlung toter Pappeln hervordrang, durch deren Anblick die Trostlosigkeit dieser speziellen Wüstenebene in keiner Weise gemildert wurde. Ich stieg von dem Karren ab und hielt hinter mir Ausschau nach Millicent und meiner Schwester Elizabeth, konnte sie aber nirgends entdecken. Millicent reist lieber zu Pferde als im Karren, so kann sie leichter dann und wann pausieren, um eine ihrer Hatamen-Zigaretten zu rauchen.
Fünf Stunden lang war unser Weg bergab durch einen staubigen Talkessel verlaufen, in dessen tiefstem Teil hie und da verstreut Tamarisken aus den Erd- und Sandhaufen aufragten, die sich, vom Wind herangeweht, rings um die Wurzeln gebildet hatten; und dann diese toten Pappeln.
Zwischen den Baumstämmen wucherte Saksaul, ein knorriges, mit grauer Borke überzogenes Gesträuch, und hinter diesem Gestrüpp kniete vornübergebeugt ein Mädchen und gab die absonderlichsten Laute von sich, die an das Schreien eines Esels erinnerten. Ohne Eile kam nun auch der Kutscher herbei und stellte sich neben mich, und wir betrachteten sie wortlos, wobei er – unverschämt und verschlagen wie alle Burschen seiner Sorte – auf seinem Holzsplitter herumkaute. Da blickte sie zu uns auf. Sie war etwa zehn oder elf Jahre alt, mit einem Bauch, der so rund und prall war wie eine Hami-Melone. Der Kutscher starrte bloß, und ehe ich noch etwas sagen konnte, kippte sie vornüber auf den Boden, mit weit geöffnetem Mund, als wollte sie den Staub essen, und gab weiter ihr grässliches Stöhnen von sich. Endlich vernahm ich hinter mir das Hufgeräusch von Millicents Pferd auf dem losen Schotter der Piste.
»Sie steht kurz vor der Niederkunft«, sagte ich, mehr aufs Geratewohl.
Millicent, unsere ernannte Anführerin, Repräsentantin des Missionsordens vom Unerschütterlichen Gesicht – unsere Wohltäterin –, brauchte lange, um sich aus dem Sattel zu hieven. Nach stundenlangem Reiten war sie offenbar etwas steif. Insekten vibrierten um uns herum, herausgelockt von der nachlassenden Hitze. Ich beobachtete Millicent. Nichts passte weniger in die Wüste als sie mit ihrer herrischen Nase, die förmlich die Luft durchschnitt, während sie ohne Anmut von ihrem Pferd absaß, und dem großen Rubinring an ihrer Hand, der einen seltsamen Kontrast zu ihrer eher männlich anmutenden Kleidung bildet.
»Sie ist ja noch ein Kind.«
Millicent bückte sich und flüsterte dem Mädchen etwas auf Turki zu. Was auch immer sie gesagt haben mochte, es hatte einen Aufschrei zur Folge und danach schreckliches Schluchzen.
»Es ist in vollem Gang. Wir benötigen, glaube ich, die Zange.«
Millicent wies den Kutscher an, den Gepäckkarren zu holen, und kramte dann in unserer Habe herum, auf der Suche nach dem Verbandskasten. Während sie damit beschäftigt war, sah ich, dass auf dem Pfad eine Gruppe Frauen, Männer und Kinder – eine große Familie möglicherweise – näher kam. Sie zeigten herüber und stießen sich gegenseitig an, erstaunt über uns ausländische Teufel mit dem schweinestrohfarbenen Haar, die leibhaftig auf ihrem Weg standen. Millicent sah zu ihnen hoch und benutzte dann ihre Predigerinnenstimme:
»Lassen Sie uns bitte Platz, treten Sie zurück.«
Sie wiederholte ihre Aufforderung auf Chinesisch und Turki, was seine Wirkung nicht verfehlte. Sichtlich erschrocken stellten sie sich auf, akkurat wie für ein Gruppenfoto, und verstummten erst, als das Mädchen im Staub sich auf allen vieren vorbeugte und in einer Lautstärke losbrüllte, die ausgereicht hätte, um Bäume zum Verdorren zu bringen.
»Eva, schnell, stütze sie.«
Das weinende Kind bot mit seinem geschwollenen Leib einen abscheulichen Anblick, es wirkte auf mich wie eine geifernde Wildkatze, die ich nur ungern anfassen wollte. Dennoch kniete ich mich in den Staub, zog den Kopf des Mädchens auf meine Knie und versuchte, es zu streicheln. Ich hörte, wie Millicent eine ältere Frau um Hilfe bat, aber die Alte wich heftig zurück, wie aus Angst, sich durch Kontakt mit uns zu verseuchen. Vom Mund des armen Mädchens her, dessen Gesicht auf meinen Beinen lag, spürte ich eine Nässe, womöglich wollte sie beißen, doch dann riss sie sich unvermittelt von mir los, zurück auf die Erde. Millicent rangelte mit ihr und drehte sie auf den Rücken. Das Mädchen schrie jämmerlich.
»Halt ihren Kopf fest«, sagte Millicent. Ich bemühte mich, sie festzuhalten, während Millicent ihre Knie aufbog und mit beiden Ellbogen niederdrückte. Der Stoff um ihren Unterleib herum ließ sich leicht abstreifen.
Meine Schwester war noch immer nicht eingetroffen. Auch sie reist lieber zu Pferde, um nach Belieben Abstecher in die Wüste machen zu können und »Sand zu fotografieren«. Sie glaubt daran, in den Sandkörnern und Dünen Seinen Anblick festhalten zu können. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen … Diese und andere Worte singt sie mit der eigentümlich hohen Stimme, die sie sich angeeignet hat, seit die Macht des Glaubens vollauf von ihr Besitz ergriffen hat. Ich hielt ringsum nach ihr Ausschau, aber vergebens.
Noch jetzt klingen mir diese grässlichen, angsterfüllten Schreie in den Ohren, als Millicent ihren Finger in Fleisch stieß, um Raum für die Zange zu schaffen, bis ein Gemisch aus Blut und einer anderen Flüssigkeit herausströmte und über ihr Handgelenk rann.
»Wir sollten das besser bleiben lassen«, sagte ich. »Bringen wir sie lieber in die Stadt, dort gibt es gewiss jemanden, der mehr Erfahrung hat als wir.«
»Dazu reicht die Zeit nicht. Barmherziger Jesus, sieh auf uns«, Millicent sah mich nicht an, »Deine Diener, und behüte uns vor Bangigkeit und bösen Geistern, die danach trachten, die Arbeit Deiner Hände zu zerstören.«
Die Zange wurde hineingestoßen, und das Mädchen schrie wie am Spieß.
»O Herr, mildere die Mühsal unserer Schwangerschaft«, betete Millicent laut, während sie zog und zerrte, »und schenke uns die Kraft und Tapferkeit, zu gebären, und ermögliche dies mit Deiner allmächtigen Hilfe.«
»Wir sollten das bleiben lassen«, wiederholte ich. Das Haar des Mädchens war nassgeschwitzt, und Panik stand in ihren Augen, wie bei einem Pferd bei Gewitter. Millicent legte kurz den Kopf zurück, damit ihre Brille wieder den Nasenrücken hinaufrutschte. Dann zerrte sie mit einem heftigen Ruck, als holte sie einen Anker ein, bis ein blaurotes Geschöpf zusammen mit einem Schwall wässriger Substanzen herausgeglitscht kam und wie ein Fisch von Millicents Händen aufgefangen wurde. Aus der jungen Mutter floss Blut, das rasch einen roten Halbmond im Staub bildete. Millicent legte ihr Messer an die Nabelschnur.
Da tauchte Lizzie auf, mit der Leica in der Hand, in unserer Uniform, einer schwarzen, mit einem dunkelblauen Seidenrock bedeckten Satinhose und einem chinesischen Mantel aus leichter schwarzer Baumwolle. An ihrem Rocksaum haftete der rosafarbene Staub, der hier allgegenwärtig ist. Sie blieb stehen und starrte die Szene vor sich an wie ein kleines Mädchen am Rande eines Rummelplatzes, das sich verlaufen hat.
»Lizzie, hol Wasser!«
Millicents Messer trennte das Neugeborene für alle Zeit von seiner Mutter ab, die erschauderte und den Kopf schlaff zurücksinken ließ, während das Fischbaby lautstark danach verlangte, in den Himmel gelassen zu werden. Der Halbmond wurde unaufhörlich größer.
»Sie verliert zu viel Blut«, stellte Millicent fest. Das Gesicht des Mädchens war zur Seite gesunken; sie kämpfte nicht länger.
»Was können wir tun?«
Millicent stimmte ein leises Gebet an, das ich unter dem Geschrei des Babys kaum verstehen konnte.
»Wir sollten sie fortschaffen, Hilfe suchen«, schlug ich vor, aber Millicent reagierte nicht. Ich sah zu, wie sie die Hand der Mutter anhob. Sie schüttelte den Kopf, ohne zu mir hoch zu sehen.
»Millicent, nein.«
Meine Worte waren in den Wind gesprochen, in der Tat konnte ich es einfach nicht fassen: Ein Leben verschwand vor...