E-Book, Deutsch, 230 Seiten
Reihe: Edition Periplaneta
Jonathan Akilah und die Legende von Bashir
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95996-169-1
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 230 Seiten
Reihe: Edition Periplaneta
ISBN: 978-3-95996-169-1
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Menschen erschaffen Mythen und Helden, um einschneidenden Ereignissen Sinn zu verleihen. Bashir ist so ein Held. Er ist der Junge, der den Krieg in Syrien ausgelöst haben soll- indem er ein Graffiti an eine Wand in Daraa sprühte. Dies ist die Geschichte dieses Jungen, den es in Wirklichkeit nie gegeben hat: Auf seiner gefährlichen Flucht lernt Bashir die junge, starke Akilah kennen. Je weiter sie sich von ihrem Heimatland entfernen, desto größer wird Akilahs Wunsch, sich von den Zwängen zu befreien, die sie in Syrien als Frau einschränkten. Sie sehnt sich nach einem selbstbestimmten Leben in Sicherheit, nach Freiheit und Bildung. Akilah und die Legende von Bashir ist ein Roman über Flucht, Emanzipation, Krieg und das mediale Phänomen des 'Helden'.
David Jonathan, geboren 1965, studierte Philosophie und Rechtswissenschaften. Noch während seines Studiums erhielt er 1988 den Literaturförderpreis des Landes Niedersachsen. Es folgten verschiedene Veröffentlichungen in Anthologien sowie der Wiener Werkstattpreis Anfang der 1990er Jahre. Als Journalist bereiste er die Welt und schrieb Reportagen aus zahlreichen Ländern. David Jonathan lebt und arbeitet in Hamburg.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Geburt
„Guten Tag, ich bin …“ Damit fängt meine Geschichte an. Ich habe viele Namen bekommen: Bashir, Abdulrahman, Naif, Mouawiya. Ehrlich gesagt: Mir gefällt keiner davon. Aber niemand kann sich seinen Namen aussuchen, die Eltern bestimmen ihn. Ich habe viele Eltern. Vielleicht genauso viele, wie ich Namen habe. Nein, das stimmt nicht. Ich habe eine Mutter und einen Vater wie alle anderen. Nur waren sie zur Zeit meiner Geburt Tausende Kilometer oder mehr voneinander entfernt. Das soll im Februar oder März 2011 gewesen sein, so genau weiß ich das nicht. Ich war damals 13 Jahre alt oder zehn, manche meinen 14, auf jeden Fall unter 17, da sind sich alle einig. Mein Vater kam ein paar Monate zuvor nach Syrien. Ich weiß nicht viel von ihm, nicht einmal, was er genau dachte. Er suchte in Daraa nach Hinweisen auf Thomas Edward Lawrence, der dort vor hundert Jahren den Aufstand der Beduinen angeführt haben soll. Mein Vater hatte Geschichte studiert und schrieb seine Doktorarbeit über den berühmten Lawrence von Arabien, den er heimlich verehrte. Für mich hat mein Vater kein Gesicht und keinen Namen. Er reichte mich an meine Mutter weiter, die er aus dem Studium kannte. Sie hat mich in die Welt gesetzt, nicht einfach geboren, so wie Frauen seit Anbeginn ihre Kinder bekommen, sondern hineingeworfen ins Leben hat sie mich, ohne dass ich darauf vorbereitet war. Wie sollte sie ihren Jungen auch darauf vorbereiten, was später mit ihm passierte? Sie hat es nicht böse gemeint, sie wollte nur, dass es mich gibt. Zurück zu meinem Vater. Bevor er mir begegnet ist, war er fasziniert von der ländlichen Gesellschaft in Daraa. In der umliegenden Region wurden vor allem Weizen und Gerste angebaut. Die Stadt hatte einen Markt und eine Moschee. Was für ein Treiben muss das gewesen sein. Ich vermute, mein Vater hat nichts davon verstanden, aber er liebte die Einfachheit, die er romantisch verklärte, und den persönlichen Handel bei einem Glas Tee, den er mit Freundschaft verwechselte. Er fühlte sich in eine alte Zeit versetzt, während um ihn herum die Gesellschaft schon im Verfall begriffen war. Die Menschen murrten, sie waren nicht mehr einverstanden mit der Regierung. In der Moschee redeten die Männer miteinander. Die Hälfte von ihnen hatte keine Arbeit. Große Trockenheit führte zu schlechten Ernten. Die Preise stiegen. Viele flüchteten vom Land in die Städte. Es gab nicht ausreichend zu essen und zu trinken. Die Menschen litten, sie forderten Veränderung. An den Wänden standen plötzlich Schriften. „Nieder mit Baschar!“ Das war mutig. Mein Vater meinte, das sei dumm. Später habe ich Männer sagen hören: „Der Fremde hat uns verraten.“ Ich weiß nicht, ob sie damit meinen Vater meinten. Es könnte sein, denn er fürchtete, ein Konflikt würde alles zerstören, was er an dem Land und der Stadt liebte. Wie wir heute wissen, hatte er Recht. Trotzdem konnte es nicht so weitergehen. Die Menschen wollten doch nur leben. Wegen der Schriften an den Wänden gab es jedenfalls Ärger. Natürlich, Baschar ließ sich das nicht gefallen. Ich kann ihn verstehen. Wenn du deinen Namen überall liest und weißt, dass wirklich du gemeint bist, verletzt dich das. Selbst wenn freundlich über dich geschrieben wird. Ich kann das vielleicht nicht richtig ausdrücken, aber ich habe es selbst erlebt. Also verstehe ich Baschar. Das ändert nichts daran, dass er falsch reagiert hat. Schließlich waren es seine Fehler, die die Menschen missmutig werden ließen. Da hätte er sie ihren Ärger ruhig an die Wände schreiben lassen sollen. Wem schadet es? Offensichtlich glaubte Baschar, dass es ihm schaden würde. Möglicherweise war er auch nur gekränkt. Das verstehe ich. Dennoch hätte er sich vorher überlegen sollen, was passieren kann, wenn er statt auf Wände auf Menschen schreibt. Mit der Schrift der Gewalt. Es gab Prügel. Einige Männer hatten Platzwunden im Gesicht und Narben auf der Seele. Sie waren wütend. Das verstehe ich. Aber auch sie hätten es dabei bewenden lassen können. Soweit ich weiß, hat mein Vater zu ihnen gesprochen und gesagt, sie sollten Geduld bewahren. Da haben die Männer geantwortet: „Unsere Wunden sind frisch und unsere Familien leiden jetzt Hunger.“ Hinter seinem Rücken haben sie ihn ausgelacht, das weiß ich. Er hat sie einfach nicht verstanden. Ich habe mich immer gefragt, ob er zu meiner Mutter Kontakt aufgenommen hat, weil er einen Kampf verhindern wollte. Jedenfalls rief er sie kurz nach seinem Auftritt vor den Männern in der Moschee an. Nach allem, was ich weiß, war es ein kurzes Gespräch. Ich stelle es mir so vor: „Hi, Linda. Ich bin’s, Gregory.“ Das hatte ich vergessen zu erwähnen: Meine Mutter heißt Linda Rodham und mein Vater Gregory Hurst. Zu ihrem Schutz habe ich diese Namen allerdings frei erfunden. Wie es in den Zeitungen heißt: „Die Namen wurden geändert, sie sind der Redaktion bekannt.“ Wenn sie es für richtig halten, können sie selbst an die Öffentlichkeit gehen, ich werde sie nicht verraten. Aber das nur nebenbei. Jedenfalls stelle ich mir ihr kurzes Gespräch folgendermaßen vor: „Hi, Linda. Ich bin’s, Gregory.“ „Was willst du? Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht mehr anrufen.“ „Hör mal! Ich dachte, wo wir uns länger nicht gesehen haben …“ „Das ändert gar nichts. Du hast mich sitzenlassen.“ „Ich bin für meine Forschung nach Syrien gereist.“ „Du hättest mich mitnehmen können, statt mir eine Karte vom Flughafen zu schicken.“ „Wärst du denn mitgekommen? Du hast deine Arbeit bei der Times.“ „Du hast mich nicht gefragt.“ „Ich wollte es dir nicht schwerer machen.“ „Feige warst du, das ist alles.“ „Dabei habe ich nur an dich gedacht.“ Warum ich mir die Liebe meiner Eltern tragisch vorstelle? Mein Vater hat mich verlassen. Ich glaube, das hat er nicht zum ersten Mal getan. Er muss schon viele Menschen verlassen haben, so leicht, wie er sich von mir lossagen konnte. Mein Vater muss ein Mensch mit Lebenserfahrung gewesen sein. Natürlich weiß ich es nicht genau. Ich reime mir das alles zusammen. Schließlich war ich nicht dabei. Immerhin muss es meinem Vater gelungen sein, der Frau, die er – jedenfalls in meiner Vorstellung – liebte, von mir zu erzählen. „Einen Dreck hast du an mich gedacht, Gregory, sei wenigstens ehrlich!“ „Vor allem rufe ich dich an, weil ich dir eine Geschichte erzählen will.“ „Verarscht du mich jetzt auch noch, Gregory?“ Ja, meine Mutter ist nicht die feinste Dame. Aber die Frauen im Westen nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie stehen ihren Mann und manchmal sprechen sie auch genau so. Mir ist aber gerade aufgefallen, dass mein Vater mich als Ausrede für seinen Anruf benutzt hat. Ich war nicht der Grund für sein Gespräch mit meiner Mutter. Hätte sie anders reagiert, wäre von mir überhaupt nicht die Rede gewesen. Das enttäuscht mich schon. Ich dachte, ich wäre wichtiger für ihn gewesen. „Nein, Linda. Du weißt, das würde ich nicht wagen. Ich habe wirklich eine Geschichte beobachtet. Du magst doch Geschichten.“ „Ich lebe davon.“ „Dann wirst du diese Geschichte zu schätzen wissen. Du darfst sie weitererzählen, wenn du willst.“ „Schieß los. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit und die Verbindung ist schlecht.“ „Hast du von den Unruhen in Daraa gehört?“ „Ein lokaler Aufstand wegen Hunger und Durst. Das ist nicht neu.“ „Wenn du dabei wärst, würdest du anders darüber denken.“ „Komm zum Punkt.“ „Die Sache könnte sich zu einer Revolution ausweiten.“ „Darüber werde ich zu gegebener Zeit berichten.“ „Ich gebe dir einen Vorsprung.“ „Erwarte keine Dankbarkeit.“ „Vielleicht ein kleines Date, wenn ich zurück bin?“ „Nein.“ „Ein wenig Hoffnung auf ein kleines Date, wenn ich zurück bin?“ „Meinetwegen. Wenn deine Geschichte diese Hoffnung wert ist, du Jammerlappen.“ „Dankeschön.“ „Dafür will ich jetzt aber auch etwas bekommen.“ „Das bekommst du, Linda, das bekommst du.“ Nach allem, was ich von ihm gehört habe, stelle ich mir meinen Vater als unsicheren Mann vor. Er hat es nie gewagt, anderen zu widersprechen. Als der Hunger größer und der Durst unerträglich wurde, hat er nicht mehr versucht, den Kampf zu verhindern. Aber er hat auch nicht geholfen. Sie sagen über meinen Vater, er sei ein Mann des Wortes und nicht der Tat gewesen. Vielleicht hat er sie verraten, ich weiß es nicht. Jedenfalls beeilte er sich, seine Forschung zu beenden. Dabei scheint er mehr und mehr den Kontakt zu Menschen vermieden zu haben. Er suchte nach Dokumenten und trank seinen Tee meist allein. Dabei muss er die Kinder beobachtet haben, von denen er meiner Mutter wenig später berichtet hat. „Ich bin schreibbereit. In weniger als fünf Minuten beginnt die Redaktionskonferenz.“ „So lange brauche ich nicht. Auch wenn ich gerne deine Stimme höre.“ „Komm auf den Punkt.“ „Neulich habe ich eine Gruppe Kinder beobachtet.“ „Früher hast du die übersehen.“ „Das konnte ich diesmal nicht, weil ich gesessen habe. Wir befanden uns auf Augenhöhe, sozusagen.“ „Ich meinte das sarkastisch.“ „Entschuldige, ist mir nicht aufgefallen. Jedenfalls hatten sie Farbe von irgendwoher, rote Farbe, und haben an eine Wand...