E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Jones Das Jahr, in dem wir verschwanden
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-03790-136-6
Verlag: Arche Literatur Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-03790-136-6
Verlag: Arche Literatur Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tayari Jones wurde 1970 in Atlanta geboren und studierte Englisch in Iowa, Georgia und Arizona.Mit ihrem Roman ?In guten wie in schlechten Tagen? wurde sie über Nacht zu einer der erfolgreichsten Autorinnen der USA.2019 wurde sie mit dem Women's Prize for Fiction ausgezeichnet.Tayari Jones lebt heute wieder in Atlanta.
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Teil 1 ~*~
Magische Worte
1979 goss es drei Monate ohne Unterlass, ein kräftiger, hässlicher, die Sommerferien verderbender Regen. Das Wasser, das auf Atlanta niederrauschte, spülte die ordentlich mit Kreide hingemalten Himmel-und-Hölle-Felder vom Asphalt und raubte den in Gärten vergessenen Tennisbällen die Sprungkraft. An den wenigen regenfreien Tagen flitzten die Kinder nach draußen und spielten unter tief hängenden grauen Wolken Ochs am Berg. Die rote Erde Georgias heftete sich an preiswerte Leinenturnschuhe, und die Kinder trugen sie in Wohnzimmer mit hellen Teppichböden. Mütter versohlten schmale Hintern mit Ledergürteln, ehe sie mit feuchten Lappen die verschmutzten Böden abtupften und sich Sorgen machten über die Kosten einer Teppichreinigung oder den Verlust der Kaution. Wenn es regnete, waren Donnergrollen und gezackte lila Blitze die Begleitmusik. Sich langweilende Kinder wurden angehalten stillzusitzen. Die Kinder lauschten, wie das Wasser gegen die Scheiben klatschte, und dachten, dass Gottes Botschaft wohl nichts war, was sie verstehen sollten.
Doch am ersten Schultag mussten die Schülerinnen und Schüler der Oglethorpe Elementary School nicht in gelben Gummijacken schwitzen oder Regenschirme tragen. Die Morgensonne zwinkerte ihnen zu, als sie mit leuchtend bunten Schultaschen und Brotdosen über rissige Gehwegplatten stapften. Das ungewohnte Licht verwandelte die Plastikhaarspangen der Mädchen in Prismen, die Regenbogen auf ihre Wangen warfen. Alle wünschten, die Sonne wäre am Tag zuvor herausgekommen, weil sie dann dem Eismann hätten nachjagen können. Aber das behielten sie für sich.
Vielleicht sagte jemand leise, aber hörbar: Und vielleicht hörte Gott das. Denn selbst wenn Fünftklässler Gottes Sprache nicht verstehen konnten, bezweifelte niemand, dass er ihre verstand.
Zur Mittagszeit war der Himmel wieder so grau wie am Vortag, aber die Fünftklässler gingen trotzdem raus. Eigentlich hatten sie sich darauf gefreut, in die Container umzuziehen, die kürzlich hinter dem alten Schulgebäude aufgestellt worden waren, und sich damit gegen die jüngeren Jahrgänge abzuschotten, aber die fensterlosen Metallräume hatten etwas Beklemmendes und Freudloses, trotz der fröhlichen Willkommensgrüße an den Pinnwänden. Die Kinder stürzten auf den feuchten Schulhof hinaus, wobei LaTasha Renee Baxter den Container als Letzte verließ, weil sie das schwere Springseil trug, das seit dem letzten Schultag im Juni aufgewickelt an seinem Platz gelegen hatte.
Seit LaTasha denken konnte, war Seilspringen die Bewährungsprobe für Mädchen, und genauso lang schon war sie darin beschämend unfähig. Jetzt war das fünfte Schuljahr angebrochen, das letzte Jahr der Grundschule; im nächsten Jahr würde sie zur Southwest Middle School gehen, die näher an ihrem Zuhause lag. Ihre Eltern hatten sich für die Oglethorpe Elementary School entschieden, weil ihre Mutter nicht weit davon arbeitete, was sich als praktisch erwies, als Tasha noch jünger war. Wenn nötig, konnte Mama in weniger als fünf Minuten in der Schule sein. Aber nun, da Tasha zu einer jungen Dame wurde, wollten Mama und Daddy sie lieber auf ihrer Seite der Stadt wissen statt direkt gegenüber von den Sozialwohnungen.
Weil dieses Schuljahr die letzte Gelegenheit bot, sich ihren Platz unter den Mädchen ihrer Klasse zu erobern, hatte Tasha fast die ganzen Ferien damit verbracht, an ihrer Seilspringtechnik zu arbeiten. Wegen des schlechten Wetters hatte sie im Keller geübt, wo sie das eine Ende des Seils an einem Holzstuhl festband und ihre achtjährige Schwester DeShaun dazu verdonnerte, es am anderen Ende zu packen und zu schwingen. Tasha hatte sich durch alle Springreime gearbeitet. Am besten klappte »Ice Cream«, und sie schaffte es fast bis ans Ende des Alphabets, bevor sie aus dem Tritt kam. Sie hatte allerdings schon beschlossen, absichtlich bei »P« auszusteigen, weil es in ihrer Klasse keinen Jungen gab, dessen Name mit diesem Buchstaben anfing.
Nachdem sie das Seil entwirrt hatte, hielt sie ein Ende in der Hand und wartete darauf, dass jemand anders sich das andere Ende schnappte, aber niemand griff zu.
»Wollt ihr gar nicht springen?«, fragte sie.
Eine kleine Traube von Mädchen in Kniestrümpfen zuckte synchron mit den Schultern und blickte zu Monica Fisher, der besten Seilspringerin, die Georgia je gesehen hatte. Sie war aus Chicago, wo die Mädchen über zwei Seile auf einmal sprangen und Reime riefen, die manchmal sogar Schimpfwörter enthielten.
»Nee«, sagte Monica. »Ich hab keine Zeit für den Babykram. Ihr bringt mich nur dazu, dass ich mir die Frisur verschwitze.« Sie strich sich über den geglätteten Pagenkopf, der mit einem breiten Haarband zurückgehalten wurde. Tasha bemerkte waagerechte Abdrücke, wo Lockenwickler geklemmt hatten.
Tasha ließ das Seil fallen, als wäre es heiß. Sie hatte sich für den ersten Schultag die Haare gewaschen, aber Mama hatte ihr die Tortur des Glätteisens erspart. Das Ganze traf sie unvorbereitet. »Schon in Ordnung«, sagte Tasha. »Ich wollte auch gar nicht springen. Aber was soll man denn sonst machen.«
»Hört nur, wie sie lügt«, sagte Forsythia Collier, Monicas beste Freundin. Forsythias Haar war ebenfalls geglättet, und ihre öligen eingedrehten Locken ringelten sich bis zu den Schultern. »Sie hat bestimmt den ganzen Sommer geübt.«
Monica lachte etwas lauter als angemessen und gackerte so lange weiter, bis die anderen Mädchen einstimmten.
Tasha beschloss mitzulachen. Hatte Mama ihr nicht erklärt, dass man auch über sich selbst lachen können muss? Außerdem wollte sie keinen Ärger mit Monica und Forsythia.
Dann fing es an zu regnen, und Tasha war erleichtert, obwohl sie genau wie alle anderen stöhnte, als sie wieder auf die Blechdose zurannten, die dieses Jahr ihr Klassenraum sein würde. Sie rief sogar: »Meine Haare!«, obwohl das Wetter ihren strammen Cornrows nichts anhaben konnte.
Im Container erhob sich das Regengeprassel auf dem Dach zusammen mit dem Wind zu einem gewaltigen Crescendo. »Los, wir spielen Jacks«, rief Tasha über das Getöse hinweg.
»Okay«, sagte Monica.
Tasha wandte den Kopf ab, um ihr Lächeln zu verbergen, während sie aus ihrer Schultasche das lila Filzsäckchen herausfischte, das zwanzig dreidimensionale Metallsterne und einen Flummi enthielt. Seilspringen war nicht das Einzige, was sie den ganzen Sommer geübt hatte.
Die Mädchen schufen eine freie Fläche, indem sie alle Tische und Stühle in eine Ecke schoben. Die meisten Jungs waren unter Aufsicht ihres neuen Lehrers, Mr Harrell, in eine heftige Diskussion über Comics vertieft. Tasha setzte sich im Schneidersitz gegenüber von Monica auf den Boden, während ihre Klassenkameradinnen ihren Kaugummiatem über sie hinwegbliesen. »Will noch jemand mitmachen? Es können bis zu fünf Leute mitspielen.«
»Nein«, sagte Monica. »Lass uns allein spielen.«
»Okay«, sagte Tasha und verstreute mit einem Wurf die kleinen Metallteile.
Tasha gewann wie geplant, aber sie hatte eigentlich aufhören wollen, bevor sie es der eingebildeten Monica so richtig zeigte. Doch sie konnte nicht anders, als anzugeben und sämtliche Techniken vorzuführen, die sie während der langen feuchten Sommerferien perfektioniert hatte. Sie kannte sogar ein paar Manöver, die die anderen noch nie gesehen hatten, Tricks, die ihre Mutter als Kind in Oklahoma gelernt hatte. Im Mittleren Westen war Jacks noch mal eine ganz andere Nummer.
Die Mädchen klatschten, als Tasha den Flummi nach doppeltem Aufprall und Einsammeln der Sterne mit einem besonderen Griff auffing. Sogar ein paar Jungs kamen rüber und sahen zu.
»Wow«, sagte Roderick Palmer, der süßeste Junge der Klasse, hinter vorgehaltener Hand. »Die macht sie fertig.«
Tasha konnte sich nicht verkneifen zu fragen: »Woll’n wir noch ’ne Runde?«, obwohl klar war, dass Monica genug hatte.
Monica stemmte sich vom Boden hoch, verschränkte die Arme vor der Brust und verdeckte damit die Konturen ihres Bustiers. »Schon okay.« Sie klopfte sich energisch die Hose ab. »Ich hab dich nur gewinnen lassen, weil meine Mutter immer sagt, wir sollen nett zu dir sein, weil deine Eltern sich trennen und so.«
»Nee«, stellte Tasha klar. »Sie trennen sich nicht. Sie wohnen nur gerade nicht zusammen. Das ist was anderes.« Sie überlegte, wie sie erklären könnte, was ihr Zuhause von Monicas oder dem der anderen Kinder, die keinen Vater mehr hatten, unterschied. Sie hatte immer noch einen Vater. Er rief sie fast jeden Abend an und holte sie dienstags vom Ballett ab. war was anderes, Heftigeres. Fast so schlimm wie eine Scheidung. Und das Wort hatten ihre Eltern noch nie benutzt.
Monica lachte und stieß Forsythia mit ihrem spitzen Ellbogen an, damit ihre Verbündete einstimmte.
»Es ist nur vorübergehend«, beharrte Tasha. Von der Brust breitete sich ein Glühen bis zu ihrem Gesicht aus, während sie die Jacks einsammelte. »Außerdem«, rief sie Monicas Rücken hinterher, »sagt meine Mutter, dass deine Eltern über ihre Verhältnisse leben!« Keiner der Zuschauer reagierte auf Tashas Konter. Monica, die sich plötzlich sehr für die Comic-Kriege der Jungs interessierte, drehte sich nicht mal um. Nur Rodney Green, das seltsamste Kind der Klasse, schien über ihre Bemerkung nachzudenken. Mit einem durch zwei Wangen voller Bubblegum verbreiterten Gesicht und hinter der Brille zusammengezogenen Brauen betrachtete er Tasha, bis es ihr unangenehm wurde und sie sich wegdrehte.
Sie ging...