E-Book, Deutsch, 476 Seiten
Jones Das Vermächtnis von Kilmorna House
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96655-881-5
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman - Eine mitreißende Liebesgeschichte im Irland des 20. Jahrhunderts
E-Book, Deutsch, 476 Seiten
ISBN: 978-3-96655-881-5
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die britische Autorin Alexandra Jones wurde in Indien geboren, wo ihre britischen Eltern die letzten Tage der Kolonialherrschaft erlebten und Indien und Pakistan unabhängig wurden. Auf britischer Seite setzte sie setzt sich für Pakistans Übergang zu einem eigenständigen Staat ein. Später kehrte sie mit ihrer Familie nach England zurück und lebt heute mit ihrem Mann und drei Söhnen in Devon. Sie ist Autorin von zahlreichen historischen Romanen, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Ebenfalls bei dotbooks erschienen sind ihre historischen Romane »Das Vermächtnis von Kilmorna House«, »Mandalay - Der Traum von Freiheit«, »Indara - Über den goldenen Dächern von Siam«, »In den Weinbergen von Vinarosa«, »Die englische Ärztin«, »Der Klang der neuen Welt«, »Der Sommer vor dem Sturm«, »Glengarth - Jahre des Schicksals«, »Glengarth - Zeiten der Hoffnung«, »Glengarth - Tage des Glücks«. Die »Glengarth-Saga« sowie die Exotikromane »Indara«, »Mandalay« und »Samsara« sind auch als Sammelband erschienen. Auch als Sammelband erschienen sind »Die englische Goldschmiedin« und »Der Sommer vor dem Sturm«.
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Kapitel 1
1
Eine dunkel gekleidete Gestalt in einem langen Umhang verschwamm im düsteren Grau des Winternachmittags. Immer wieder schaute Brigid Rose Masters nach rechts und links, um nach Straßenräubern Ausschau zu halten. An ihrem Arm hing ein Korb mit Eiern, Butter und Brot; Lebensmittel für eines der kranken und bedürftigen Gemeindemitglieder.
Brigid ging nicht gern über dieses Stück Brachland zwischen dem Boland’s Mill Kanal und der Mount Street Bridge, aber sie konnte es nicht ändern, hatte sie doch die barmherzigen Werke des Herrn zu verrichten.
Sie war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie die donnernden Hufe hinter sich viel zu spät hörte. Ehe sie sich versah, hatten Ross und Reiter sie eingeholt. »Brrr, Dagi!«, brüllte der Mann, doch es war zu spät.
Mit ihren nagelneuen Knopfstiefeln fand Brigid keinen Halt auf dem rutschigen Pfad und glitt aus. Das große schwarze Pferd streifte sie und warf sie zu Boden. Eier, Butter und Brot wurden unter den wirbelnden Hufen zermalmt, während der Unbekannte versuchte, das Tier unter Kontrolle zu bringen. Ein weniger erfahrener Reiter wäre abgeworfen worden. »Ruhig, Dagi, ganz ruhig …!« Ein Lederbeutel fiel aus seiner Tasche. Er platzte auf, und Diamanten, Rubine, Smaragde und Perlen ergossen sich auf den Boden.
Rodi Serrai beruhigte sein nervöses Pferd und stieg ab. Ohne Rücksicht auf den Schlamm, der seine gut geschnittenen Reithosen beschmutzen würde, kniete er nieder. Doch seine erste Sorge galt nicht der Frau, die er umgeritten hatte, sondern den auf dem Boden verstreuten Juwelen, die er rasch einsammelte und wieder in den Beutel steckte.
Brigid griff sich an den schmerzenden Kopf. Sie war noch ganz benommen von dem Sturz und hatte Angst. Daher war sie sich nur halb bewusst, was geschehen war, doch selbst in ihrem benommenen Zustand spürte sie, dass der dunkelhaarige junge Mann sich höchst seltsam benahm. Sie musterte ihn. Auf eine fremdartige Weise sah er gut aus, aber Ire war er ganz bestimmt nicht.
Er schaute auf, begegnete ihrem Blick und lächelte verlegen und ziemlich schuldbewusst wie ein Schuljunge, den man bei einem Streich erwischt hat. Er steckte den Beutel wieder in die Tasche, stand auf und trat zu ihr. »Tut mir leid, dass ich Sie umgeworfen habe, aber Dagi und ich haben Sie in dem Nebel, der vom Kanal aufsteigt, nicht gesehen. Sie hätten sich bemerkbar machen sollen.«
Ihre altmodische Kleidung, die durch den Sturz mit Matsch befleckt war, und die Tatsache, dass sie all ein in diesem nicht sehr vornehmen Stadtteil unterwegs war, sprachen dafür, dass sie aus ärmlichen Verhältnissen stammte. Unter normalen Umständen hätte Rodi Serrai der jungen Dame aufgeholfen, sich vergewissert, dass sie nicht schwer verletzt war und sie dann ihrer Wege geschickt, ohne sich weiter Gedanken über den Unfall zu machen, an dem sie ebenso schuld gewesen war wie er.
Doch in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, schaute er genauer hin. Sie war nicht nur außerordentlich hübsch, sondern erschien wie von einer Aura umgeben, was er höchst ungewöhnlich fand. Wie eine Ikone, fuhr es ihm durch den Sinn, eine Madonna, die in den Schmutz gestürzt ist, ohne dabei ihre Anmut zu verlieren. Kornblumenblaue Augen sahen ihn freimütig an. Ihr zierlich geschwungener Mund mit der vollen Unterlippe wirkte ebenso sinnlich wie unschuldig. Aber am erstaunlichsten war ihr silbriges Haar, das sich aus der hässlichen Haube, deren Bänder abgerissen waren, befreit hatte. Eine Gedichtzeile schoss ihm durch den Kopf. Eine Frau, so leuchtend und wunderschön, dass man Männer bei Nacht hat Stroh dreschen sehn, beim Lichte einer gestohlenen Locke … Er nahm sich zusammen. Eine ihrer Wangen war mit Schnitten und Abschürfungen übersät, und aus einer Platzwunde auf der Stirn lief ihr Blut ins Auge. Bestürzt reichte er ihr sein Taschentuch.
An dem Tuch aus feinem irischen Leinen fielen Brigid die von einem Wappen umrahmten Initialen RPS auf. Er war also ein Mann von adliger Abstammung und offensichtlich reich. Schüchtern schüttelte sie den Kopf, denn sie wollte das Tuch, das zu seinem makellos eleganten Äußeren gehörte, nicht beschmutzen. Benjamin, ihr Vater, hatte sie vor solchen Männern gewarnt, die er die »Clique von Dublin Castle« nannte und mit denen er täglich Umgang hatte, wenngleich er als Büroangestellter beim Adelsregister weit unter ihnen stand. Brigid wollte auf gar keinen Fall diesem ausgesprochen selbstsicher auftretenden jungen Mann in irgendeiner Weise verpflichtet sein, auch wenn er noch so freundlich war.
Er ließ sich jedoch von ihrer abweisenden Haltung, hinter der er Angst vermutete, nicht abschrecken, und machte sich selbst ans Werk. Angesichts seiner Kühnheit war sie wie gelähmt, während er fest, aber behutsam die Hand unter ihr Kinn legte und Blut und Schlamm von ihrem Gesicht wischte. Dann steckte er sein Taschentuch wieder ein. »So, schon erledigt«, erklärte er und schenkte ihr ein einnehmendes Lächeln. »So ein Ungeheuer bin ich doch gar nicht, oder?«
Brigid fühlte sich unbehaglich. Sie richtete ihre Haube und schob ihr langes Haar darunter. Ihm fiel auf, dass sie feine, weiche und sehr helle Hände hatte, die so gar nicht dazu passen wollten, dass sie wahrscheinlich ein Dienstmädchen war.
Immer noch hatte sie kein Wort gesprochen.
»Mein Name ist Rodopi Serrai«, sagte er. »Sind Sie verletzt? Sie haben sich aber nichts gebrochen, oder?«
Sie schüttelte den Kopf und stand auf, wobei sie versuchte, einen weiten Bogen um sein Pferd zu machen. Da sie unsicher schwankte, streckt e Rodi hilfsbereit die Hand aus, um sie zu stützen, doch sie schreckte zurück, als könne sie seine Berührung nicht ertragen.
»Sind Sie taubstumm, Miss, dass Sie nicht in der Lage sind, ein Wort mit mir zu sprechen?«, versetzte er scharf, denn ihre stille, märtyrerhafte Ergebenheit ärgerte ihn.
»Ich bin Quäkerin«, gab sie zurück und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er und sein Pferd bloß Abstand halten sollten.
»Und ich bin Bulgare«, entgegnete er gereizt und kramte nach seiner Brieftasche. Er fühlte sich von ihrem verstockten Schweigen zurückgewiesen und vermutete, dass sie auf eine finanzielle Entschädigung aus war. »Hier …«, sagte er und gab ihr eine Guinee, »nehmen Sie das hier für die verlorenen Lebensmittel.«
»Ich will Ihr Geld nicht, Sir!« Ihre Stimme klang freundlich, obwohl ein wenig Verachtung für seine Vorstellung von Mildtätigkeit darin schwang.
»Dann erlauben Sie wenigstens, dass ich Sie nach Hause bringe«, sagte er und steckte sein Geld, das er ohnehin selbst dringend benötigte, wieder ein. »Sie sind ja kalkweiß und sehen aus, als wären Sie ziemlich unsicher auf den Beinen.«
Brigid hob ihren Korb auf. Sie hatte nicht vor, ihm mitzuteilen, dass sie nicht auf dem Weg nach Hause war, sondern zu einer kranken alten Dame. Mary O’Malley hatte ihr ganzes Leben lang in der Mühle gearbeitet und litt durch den Mehlstaub, den sie dabei in die Lungen bekommen hatte, unter Bronchitis und Asthma. Mary freute sich auf diese Besuche und die frischen Lebensmittel, die ihr die Gesellschaft der Freunde, wie der Bund der Quäker hieß, dreimal pro Woche bringen ließ. Sie würde bestürzt sein, wenn Brigid ihr heute nichts mitbrachte.
Höflich, aber bestimmt lehnte sie das erneute Hilfsangebot ab. »Ich bin sehr gut in der Lage, allein nach Hause zu laufen. Trotzdem danke.«
»Das glaube ich nicht«, beharrte er. »Sie zittern wie Espenlaub, und durch die Nachwirkung des Schocks stürzen Sie vielleicht ohnmächtig in den Kanal, wo Sie sicherlich ertrinken würden. Daran will ich nicht auch noch schuld sein.«
»Ich bin ganz und gar wiederhergestellt, ich kann allein weitergehen.«
»Aber ich nicht – wiederhergestellt, meine ich. Und ich hätte ein besseres Gefühl, wenn Sie Dagi erlauben würden, Sie nach Hause zu tragen.«
Um nichts in der Welt wollte Brigid sich auf sein störrisches Pferd setzen. »Nein, vielen Dank, Sir«, sagte sie und wandte sich mit ihrem leeren Korb ab, um zu Mary O’Malley zu gehen.
Rodi blickte der winzigen, stolzen Gestalt in dem langen grauen Umhang und den schlammbeschmutzten Röcken, auf die Butter und zerbrochene Eier gespritzt waren, hinterher und zog ein finsteres Gesicht; doch sein Unmut galt eher seiner eigenen Lage als ihrer.
2
»Du kommst spät, Brigid!«, quengelte Mary bei der Begrüßung. Wie alle kranken, einsamen und sehr alten Menschen wartete sie stets ungeduldig auf Besuch. Sie kniff ihre trüben Augen zusammen und entdeckte plötzlich, in welchem Zustand sich das Mädchen befand. »Meine Güte, was ist denn mir dir passiert, Kind?«
»Nichts. Es war meine eigene Schuld, also erschrecken Sie nicht, Mary O’Malley. Ich bin mit meinen neuen Stiefeln auf dem Leinpfad ausgerutscht.«
»Können dich deine Brüder, diese faulen Bengel, nicht auf deinen Runden begleiten?«
»Ach, die würden mich eher stören, statt mir zu helfen, Mary. Außerdem führen sie alle ihr eigenes Leben. So, da ist Ihr Tee.«
Nachdem Brigid die alte Frau auf den Leibstuhl gesetzt, sie gewaschen und es ihr neben dem frisch angefeuerten Kamin bequem gemacht hatte, verabschiedete sie sich. »Ich komme morgen Nachmittag wieder, um Ihre Vorratskammer aufzufüllen, und später wird Balla vorbeischauen, um Ihnen das Abendessen zu machen und Sie ins Bett zu bringen.«
»Balla? Balla ist doch gar nicht an der Reihe! Ich mag Balla nicht. Sie hat keine Geduld. Immer sagt sie mir, ich soll mich auf dem Leibstuhl beeilen, damit sie vor dem Abendgebet mit mir fertig ist – als ob unser Herr Jesus nicht selbst ab und zu ein menschliches Bedürfnis gehabt...




