E-Book, Deutsch, 706 Seiten
Jones Die englische Goldschmiedin
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98690-008-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman: Eine junge Frau kämpft um ihren Traum und ihre Liebe in den Stürmen des Ersten Weltkriegs
E-Book, Deutsch, 706 Seiten
ISBN: 978-3-98690-008-3
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die britische Autorin Alexandra Jones wurde in Indien geboren, wo ihre britischen Eltern die letzten Tage der Kolonialherrschaft erlebten und Indien und Pakistan unabhängig wurden. Auf britischer Seite setzte sie setzt sich für Pakistans Übergang zu einem eigenständigen Staat ein. Später kehrte sie mit ihrer Familie nach England zurück und lebt heute mit ihrem Mann und drei Söhnen in Devon. Sie ist Autorin von zahlreichen historischen Romanen, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Ebenfalls bei dotbooks erschienen sind ihre historischen Romane »Das Vermächtnis von Kilmorna House«, »Mandalay - Der Traum von Freiheit«, »Indara - Über den goldenen Dächern von Siam«, »In den Weinbergen von Vinarosa«, »Die englische Ärztin«, »Der Klang der neuen Welt«, »Der Sommer vor dem Sturm«, »Glengarth - Jahre des Schicksals«, »Glengarth - Zeiten der Hoffnung«, »Glengarth - Tage des Glücks«. Die »Glengarth-Saga« sowie die Exotikromane »Indara«, »Mandalay« und »Samsara« sind auch als Sammelband erschienen. Auch als Sammelband erschienen sind »Die englische Goldschmiedin« und »Der Sommer vor dem Sturm«.
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Kapitel 1
Wenn Träume wahr werden könnten, würde sie von einem mit Diamanten und Perlen besetzten Diadem träumen, mit passender Halskette, Ohrringen und Armband, so zart und wunderschön wie die Eisblumen, die Väterchen Frost auf alle Fenster der Waterloo Road gezaubert hatte.
Sie würde die Straße in einem wunderschönen Kleid mit einer langen Schleppe hinunterschweben, vorbei an den Häusern von Tante Martha und Dot Fennel. Sie würde echte Juwelen tragen, nicht diesen farbenprächtigen Klunker aus den Weihnachtsknallbonbons, die Joan und Pam, Dot und Tante Martha so gerne mochten. Dann würde sie unter den neidischen Blicken der gesamten Nachbarschaft in das schickste Auto, das man sich vorstellen kann, steigen, ohne im Geringsten auf Tante Martha zu achten, die zu Mama sagen würde: »Deine Irene leidet unter Größenwahn, Lorn, genauso wie Miss Lily mit ihrem Kurzwarenladen.«
Irene hörte das Zuschlagen einer Haustür weiter unten in der Waterloo Road und dachte, Hilfe, da kommt sie!
Tante Martha Mannering verließ das Haus Nr. 27 und überquerte die Straße. Sie trug, wie immer im Winter, ihren schwarzen Strohhut mit der breiten flachen Krempe, der im Sommer gegen ihren weißen Strohhut ausgetauscht wurde. Der Hut war Tante Marthas Markenzeichen, sodass jeder auf dem Markt von Poplar sie als die Dame kannte, der der Obst- und Gemüsestand gehörte.
Tante Martha hatte im Jahr 1908 einen gewissen Ruhm erlangt. Sie organisierte eine Abordnung von Obst- und Gemüsehändlern sowie Gastwirten aus Poplar, die zusammen mit den Farmern aus Kent und Hertfordshire zum Parlament marschierten, um ein Gesuch gegen den Import von ausländischem Hopfen zu überreichen. Tante Martha hatte in der ersten Reihe gestanden; als Transparent trug sie einen alten Hopfensack mit dem Slogan »Kosten £6, Wert £3« auf der einen Seite und dem Slogan »Von Engländern gepflückt, nicht von Chinesen«, auf der anderen Seite.
Sie nannten sie die Mrs. Pankhurst vom Markt in Poplar.
In Wahrheit war Tante Martha vor allem besorgt, auf ihren jährlichen ›Hopfenurlaub‹, der ihr zudem noch viel Geld einbrachte, verzichten zu müssen. Wenn die Hopfenpflanzer aus Kent das Geschäft aufgeben würden, würde Tante Martha ihre Bezugsquelle verlieren, denn im Laufe der Jahre hatte sie trotz der starken Konkurrenz des berühmten Marktes in Covent Garden gute Kontakte mit den Farmern geknüpft und gute Verträge abgeschlossen.
Tante Marthas Obst- und Gemüsestand war für seine gute Qualität bekannt. Die Äpfel wurden handpoliert, bis sie glänzten; die Birnen war perfekt geformt und weder zu fest noch zu weich; die Kartoffeln waren sauber (Tante Martha wog niemals Erde mit) und hatten keine hässlichen Augen; die Tomaten waren dick, leuchtend rot und ohne Risse; die Zwiebeln waren frisch und gesund; der Sellerie war wohlschmeckend und nicht faserig; Kletterbohnen und Erbsen schmeckten zuckersüß und waren von perfekter Farbe, und die Kohlköpfe und der Blumenkohl waren schön genug, um einen Preis bei einem Gartenbauwettbewerb zu gewinnen. In der Tat hätte Tante Marthas gesamter Stand einen Preis verdient. Tante Martha war eine Perfektionistin.
Sowohl in Tante Marthas Familie als auch in der Familie ihrer Schwester Lorna gab es Zwillinge. Peggy und Percy, die jüngsten von Tante Marthas Brut, waren richtige Nervensägen. Sie spielten gerade fröhlich mit bunten Reifen auf dem rutschigen Pflaster.
Über ihren breiten Schultern trug Tante Martha ihr eigenes Weihnachtsgeschenk, ein warmes Schultertuch aus Wolle. An ihrem Arm ein Korb mit Äpfeln aus Kent, die sie seit Oktober kühl und dunkel in Zeitungspapier eingewickelt aufbewahrt hatte. Die Äpfel waren genauso gut wie an dem Tag, an dem sie von Tante Martha selbst ausgewählt und gepflückt worden waren.
Über den Äpfeln, sorgfältig mit einem Geschirrtuch zugedeckt, befand sich ein großer selbst gebackener Früchtekuchen, den es später bei Lorna zum Weihnachtstee geben sollte.
Tante Martha ging zu Irene, die keinen Mantel trug und zitternd das mit Eis überzogene Fenster des Wohnzimmers anstarrte. Irene passte nirgendwo hin. Zu groß und zu schlaksig für ein Mädchen, seufzte Tante Martha verzweifelt. Irene wirkte manchmal wie ein geistig zurückgebliebener Clown. »Du holst dir noch den Tod da draußen, Irene Druce! Was tust du da?«
»Mama hat mich gebeten, das Fenster zu putzen, damit sie hinausschauen kann. Heute soll alles wie aus dem Ei gepellt aussehen.«
»Dann mach endlich weiter, Mädchen!«, bellte Tante Martha wie ein Hauptfeldwebel. Peg quengelte, weil sie einen Apfel haben wollte, und Perce schlitterte auf einer gefrorenen Pfütze. Die Reifen lagen vergessen im Rinnstein; Percy rutschte aus, fiel mit dem Ellenbogen auf den Randstein und fing ebenfalls an zu quengeln.
»Geschieht dir recht, Perce!«, sagte seine Mutter und wandte sich wieder an Irene. »Ist deine Mama da?«
»’türlich. Sie hat mich ja gerade zum Fensterputzen rausgeschickt.«
»Sei nicht so vorlaut, Irene. Schließlich geht deine Mama um diese Zeit manchmal zur Kirche.«
»Diesmal hat sie eben keine Zeit. Außerdem ist ihr morgens immer schlecht, und sie ist nicht besonders gut gelaunt«, erwiderte Irene mürrisch. Ihre Tante brachte sie immer wieder dazu, sich von ihrer schlechtesten Seite zu zeigen – sogar an Weihnachten.
»Ich kann verstehen, warum deine Eltern von deiner Art die Nase voll haben, Mädchen«, entgegnete Tante Martha und musterte die glotzende Irene von oben bis unten. »Los, tauch deinen Schwamm ins Wasser und schrubbe! ... obwohl Schrubben wahrscheinlich unter deiner Würde ist. Komm, gib mir den Schwamm.« Tante Martha stellte ihren Korb auf dem Pflaster ab, schnappte Irene den schmutzigen Schwamm aus der Hand, tauchte ihn in die heiße Seifenlauge, drückte ihn aus und klatschte ihn dampfend gegen die Scheibe.
Die hauchzarten Frostblumen, in denen sich das Sonnenlicht fing, lösten sich sofort auf. Irene dachte, dass es eine Schande war, die von Väterchen Frost über Nacht erstellten Kunstwerke mit heißer Seifenlauge zu zerstören, vor allem, weil es wieder keine weiße Weihnacht gab. Die Hoffnung auf Schnee konnte man getrost aufgeben, denn der Himmel war strahlend blau, keine Spur von schweren, bleiernen Schneewolken.
Mrs. Fennel aus dem Haus gegenüber schob die untere Hälfte ihres Schlafzimmerfensters nach oben und schrie quer über die Straße, sodass die ganze Nachbarschaft sie hören konnte: »Frohe Weihnachten, Martha. Hast du also endlich das Schultertuch bekommen. Glück gehabt, dass kein anderer ein Auge drauf geworfen hatte! Es lag ja schon seit Ewigkeiten in Miss Lilys Schaufenster.«
»Niemand hier konnte es sich leisten, Dorothy Fennel!«, erwiderte Tante Martha würdevoll. »Irene hat ein gutes Wort für mich eingelegt; sie arbeitet ja samstags bei Miss Lily. Das Tuch ist ein Geschenk meiner lieben Familie. Frohe Weihnachten für dich und deine Familie, Dot. Deine Familie hat dir wohl nur ’nen Haufen Ärger geschenkt an diesem wunderschönen Weihnachtsmorgen, oder?«
»Da hast du verdammt Recht, Martha. Sie haben sich alle Keuchhusten eingefangen.«
»Ich komm’ später mal vorbei, Dot, und bring’ euch ein paar Äpfel mit, wenn ich Lorn ein frohes Weihnachtsfest gewünscht habe. Gehst du später in die Kirche?«
»Nö, so religiös sind wir auch wieder nicht. Außerdem sind ja alle krank. Ich hol’ den Sherry, den Joe bei der Tombola auf der letzten Herbstausstellung in Kent gewonnen hat.«
»Wie du weißt, Dot, trinke ich nicht. Aber weil Weihnachten ist, könnte ich einen kleinen Sherry vertragen.«
Irene fand es ziemlich peinlich, wie Tante Martha und Dot Fennel lautstark ihre Klatschgeschichten quer über die Waterloo Road austauschten. Zum Glück benahm sich Mama nicht wie ein gewöhnliches Fischweib. Mama strahlte Würde und Klasse aus – weiß der Himmel wieso, mit einer Schwester wie Tante Martha!
»Bis später dann, Martha. Wir müssen noch für die Hopfenernte im nächsten Jahr planen, vergiss das nicht!« Dot Fennel knallte das Fenster zu, während hinter ihr drei ihrer Kinder sich den Hals ausreckten.
Irene konnte die Fennel-Kinder husten hören, während Percy und Peggy hastig in den Apfelkorb griffen und dabei fast den Früchtekuchen zerquetschten. Tante Martha ließ den Schwamm fallen, jagte hinter den Kindern her und rettete die kostbaren polierten Äpfel, die sie seit ihrem Arbeitsurlaub gehütet hatte, aus den schmutzigen kleinen Händen. Reifen, Äpfel sowie Vetter, Cousine und Tante landeten schließlich im Haus Nr. 10 der Waterloo Road. Irene seufzte tief auf, weil sie mit einer solchen Familie gestraft war.
Da nun der Schaden bereits angerichtet war, beseitigte sie den Rest der wunderschönen filigranen Muster auf der Fensterscheibe, die sie bewundert hatte, bevor ihre lästige Tante Martha auf der Bildfläche erschienen war.
Tante Martha war immer sehr geschäftig, und Irene wünschte, sie würde nicht mit den Vettern, Cousinen und Onkel Norm zum Tee kommen. Es war auch viel zu eng für alle in dem kleinen Haus.
Sie war es satt, immer mit ihren Schwestern in einem Bett schlafen zu müssen, auch wenn es ein Doppelbett war. Da sie vom Alter her in der Mitte der acht Kinder war, fühlte sie sich oft in die Ecke gedrängt. Gott sei Dank würden Joan und Pam im Sommer heiraten! Dann würden Reen und sie mehr Platz haben. Wenigstens hatten Zillah und Zeb ein eigenes Kinderbettchen in Mamas und Papas Zimmer, wohingegen Charlie und Don unten schliefen, einer auf dem Boden, der andere auf der Wohnzimmercouch mit den durchhängenden Federn. Charlie und Don schliefen abwechselnd auf der Couch – sie wären sicher froh, ihr Zuhause und all das bald...




