E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Jonsberg Der Riss in unserem Leben
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-28365-0
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Spannende und intelligente Near-Future-Dystopie
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-641-28365-0
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Amy und Aiden Delatour führen ein privilegiertes Leben mit liebevollen Eltern. In einer durch den Klimawandel zerstörten Welt, fehlt es ihnen an nichts, während der Großteil der Menschheit unter den Folgen leidet. Die einzige Bedingung dafür: Die Zwillinge müssen immer und ohne jede Ausnahme aufeinander aufpassen.
Doch nachdem Aiden aufgrund dieses Versprechens eine schlimme Verletzung erlitten hat, ist er nicht mehr derselbe. Amy erkennt ihren Bruder, auf den sie sich immer verlassen konnte, kaum wieder. Er ist zwar nach wie vor für sie da, doch etwas hat sich verändert. Etwas, das ihre gesamte Welt auf den Kopf stellen wird.
Ein packender Roman, der unter die Haut geht und seine Leser*innen mit einem mitreißenden Plottwist überrascht. Barry Jonsberg begeistert seine Fans mit dieser einfühlsam erzählten und intelligenten Near-Future-Dystopie.
Barry Jonsberg ist einer der renommiertesten australischen Kinder- und Jugendbuchautoren. Er studierte Englisch und Psychologie und arbeitete als Lehrer, bevor er freiberuflicher Schriftsteller wurde. Seine Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Children's Peace Literature Award für »Das Blubbern von Glück«, und sind außer in Australien und Deutschland in den USA, England, Frankreich, Polen, China, Ungarn und Brasilien erschienen. Barry Jonsberg lebt mit seiner Frau, seinen Kindern und zwei Hunden in Darwin, Australien.
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1
GEGENWART …
Aiden wollte meine Hand halten, doch dafür war ich zu alt. Er auch, logischerweise. Ich trat ihm leicht gegen den Fuß, und er ließ los, aber erst nachdem alle es gesehen haben mussten. Genau das, was ich an unserem ersten Tag brauchte. Ich wischte die Hand, die er gehalten hatte, an meinem Kleid ab und verschränkte beide Hände hinter dem Rücken. Mein Gesicht brannte, und je mehr ich an das Brennen dachte, desto heißer wurde mir. Super. Einfach super.
Mr. Meredith stellte sich hinter uns und legte eine Hand auf meine Schulter und die andere auf die von Aiden.
»Was für ein Glück haben wir, Kinder?«, fragte er die Klasse über unseren Kopf hinweg. Niemand meldete sich, aber ich vermute mal, es war eine Frage, auf die keine Antwort erwartet wurde. »Wir bekommen heute Zuwachs, und das gleich im Doppelpack!«
Die Klasse schaute uns an. Es wäre schön, wenn ich behaupten könnte, dass sie nicht sonderlich interessiert waren, dass sie aus den Fenstern blickten oder an ihren Fingernägeln pulten, doch es war leider so, dass sie uns anstarrten, als kämen wir von einem anderen Planeten. Meine Gesichtstemperatur stieg um ein paar weitere Grad.
»Die beiden sind nicht nur Zwillinge«, fuhr Mr. Meredith fort, »sie sind sogar Zwillinge.« In seiner Stimme schwang ein Staunen mit, als wären wir alle Zeuge eines Wunders. »Wer kann mir etwas zu eineiigen Zwillingen sagen?«
Ein Mädchen in der ersten Reihe meldete sich, doch Mr. Meredith ignorierte sie. Vermutlich meldete sie sich immer, die Alleswisserin der Klasse, die alle anderen dumm dastehen ließ. Ich hatte alte Filme gesehen, in denen so etwas vorkam. Ein Junge ziemlich weit hinten meldete sich, doch die Bewegung war langsam und unsicher. Mr. Meredith nahm die Hand von meiner Schulter, und sie erschien vor meinen Augen, der Zeigefinger ausgestreckt.
»Ja, Daniel.«
»Zwei Kinder, die dieselbe Mutter haben und gleich aussehen«, sagte er, aber seine Stimme klang unsicher und brach. Die Klasse blieb stumm und wartete offensichtlich darauf, dass er weiterredete. »Und gleichzeitig geboren werden«, fügte er hinzu.
»Sehr gut, Daniel«, lobte Mr. Meredith. »Ausgezeichnet.«
Das Mädchen in der ersten Reihe hatte immer noch die Hand oben.
Mr. Merediths Seufzer strich an meiner Wange vorbei. »Ja, Charlotte?«
Charlotte setzte sich aufrechter hin und ruckelte mit den Schultern, als wollte sie sicherstellen, dass auch beide korrekt ausgerichtet waren. »Bitte, Sir«, sagte sie, »eineiige Zwillinge kommen aus einer Zygote, die sich teilt und zwei Embryos ausbildet, was bedeutet, dass diese beiden keine eineiigen Zwillinge sein können, weil eineiige Zwillinge immer dasselbe Geschlecht haben. Sie müssen also zweieiige Zwillinge sein, die aus zwei unterschiedlichen Eiern stammen, die jedes für sich befruchtet wurde.«
Leises Lachen ertönte. Wahrscheinlich wegen des Wortes Eier. Charlotte fuhr mit wütender Miene auf ihrem Stuhl herum. »Es stimmt aber«, sagte sie und drehte sich wieder zu uns zurück. »Nicht wahr? Ich habe recht, Sir, oder? Sagen Sie es ihnen.«
»Ja, du hast recht, Charlotte. Absolut recht.« Der Lehrer trat vor uns und faltete die Hände. »Ich vermute, das Wort Eier hat das Lachen ausgelöst. Harte Eier, Spiegeleier, Rühreier, ja? Köstlich auf Toast. Aber Charlotte hat wie immer recht. Wir kommen alle aus Eiern, Kinder. Doch das macht uns nicht zu Hühnern, oder? Hat irgendjemand das Bedürfnis, das hier zu tun?« Er kauerte sich hin, die Knöchel seiner Hände berührten sich und die Ellenbogen waren abgespreizt. So stolzierte er vor der Klasse auf und ab, die Ellenbogen pumpten, der Kopf ruckte vor und zurück und dabei gackerte er die ganze Zeit.
Anfangs stöhnten die Schüler, doch dann lachten sie und kriegten sich nicht mehr ein, als er sich vor ihnen drehte. Ich musste lächeln. Dieser Lehrer war entweder das Beste, was uns passieren konnte, oder echt nervig. Das würde sich erst noch zeigen, deshalb lächelte ich nur.
Er richtete sich wieder auf.
»Also, hatte das Bedürfnis, wie ihr gesehen habt, aber das bin nur ich, Kinder. Wenn ich Pausenaufsicht habe und euch beim Spielen zuschaue, sehe ich euch rennen, springen und hüpfen. Aber ich sehe ganz bestimmt niemanden, der ein Huhn nachahmt.« Er machte eine Pause. »Zumindest bis jetzt noch nicht.« Mr. Meredith wandte sich uns zu und breitete die Arme aus. »Aber ich verhalte mich sehr unhöflich unseren Gästen gegenüber, die mit ziemlicher Sicherheit nicht länger im Rampenlicht stehen wollen. Bitte heißt unsere neue Mitschülerin und unseren neuen Mitschüler willkommen. Das ist Amanda Delatour und ihr Zwillingsbruder Aiden Delatour. Kann ich hören, wie wir uns freuen, Kinder?«
Alle klatschten, worauf mein Gesicht noch röter wurde. Ich schaute kurz zu Aiden, doch seine Miene war ausdruckslos wie immer.
»Wollt ihr nebeneinandersitzen?«, fragte Mr. Meredith leise. Er hatte sich zu uns heruntergebeugt, als der Applaus verebbt war.
»Nein danke«, antwortete ich, »wir sind völlig eigenständig.« Ich wollte souverän klingen, doch meine Stimme zitterte ein wenig.
Der Lehrer nickte. »Dann sucht euch einen Platz«, sagte er. »Wo immer ihr wollt.«
Ich blickte mich im Klassenzimmer um, aber die Entscheidung war nicht schwer. Ich brauchte dringend eine Freundin, und wie es aussah, war das Mädchen in der ersten Reihe in derselben Situation. Alleswisser, so vermutete ich, blieben in den Pausen auf dem Schulhof allein, da man während des Unterrichts schon genügend von ihnen zu hören bekam. Außerdem war es keine schlechte Strategie, sich vorn hinzusetzen. Nicht nur, dass man hier alles besser hören konnte, die in den hinteren Reihen hatten oft einen Ruf, wie ich gelesen hatte. Und zwar keinen besonders guten. Charlotte strahlte mich an, als ich mich setzte, doch ich legte die Hände flach auf den Tisch und blickte stur geradeaus.
Aiden setzte sich, wie ich feststellen musste, nach hinten.
»Mr. Meredith kann manchmal ein ziemlicher Spielverderber sein.«
Charlotte und ich saßen unter einem riesigen Ventilator auf der Schulveranda. Mr. Meredith hatte vor der Mittagspause auf seinem Tablet nachgesehen und gesagt, dass wir nicht rausgehen könnten zum Spielen, da die UV-Strahlung eine gefährliche Stärke erreicht hätte. Das war keine Überraschung. Die UV-Strahlung hier war immer gefährlich. Wir hatten gestöhnt und vorgeschlagen, uns mit Sonnencreme mit extra hohem Lichtschutzfaktor einzucremen und Mützen mit Nackenschutz aufzusetzen, aber er wollte uns trotzdem nicht rauslassen.
»Und ein Huhn«, bemerkte ich.
Charlotte lachte. »Ja, er macht solche Sachen ständig. Er ist witzig. Bei manchen Lehrern würde es aussehen, als versuchten sie zu angestrengt, witzig zu sein, aber er ist … ich weiß auch nicht. Bei ihm ist es echt. Er Kinder. Und es gibt zu viele Lehrer, die uns anscheinend hassen.«
Das stimmte, aber bevor Charlotte es ausgesprochen hatte, hatte ich noch nicht wirklich darüber nachgedacht. Von meinen früheren Lehrern hatten recht viele Kinder offensichtlich überhaupt nicht gemocht, gemessen an der Art, wie sie uns behandelten, sogar im Fernunterricht, wenn wir Hunderte von Kilometern voneinander entfernt waren. Ich fragte mich, weshalb sie überhaupt Lehrer geworden waren. Sie sind wie Bauern, die keine Tiere oder kein Getreide mögen, oder wie ein Arzt, der keine Medikamente mag.
»Warum sitzt dein Bruder allein da drüben?«
Ich schaute zu Aiden hinüber. Er saß etwa zehn Meter von uns entfernt, und zwar allein, weil alle anderen so dicht wie möglich bei den Ventilatoren saßen. Die Hitze scheint ihn nicht zu stören. Er schwitzt einfach und tupft sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab. Manchmal, wenn wir einen Spaziergang durch unseren Garten machen, bekommt er große, runde Schweißflecken unter den Achseln. Das ist mehr als nur ein bisschen eklig.
»Er ist lieber allein«, erklärte ich.
Ich sagte ihr nicht, dass er strikte Anweisung hatte, in der Schule auf Abstand zu bleiben. Nur weil wir Zwillinge sind, glauben alle, dass es diese bekloppte Verbindung zwischen uns gibt. Klar, es gibt sie. Es diese Verbindung zwischen uns. Aber sie bedeutet nicht, dass wir jede Sekunde unseres Lebens zusammen verbringen müssen, trotz der Tatsache, dass Aiden glücklich wäre, wenn wir es täten. Er braucht meine Unterstützung. Ich wahrscheinlich auch seine. Aber der Unterschied besteht darin, dass ich auch Raum für mich und meine eigenen Freunde brauche. Es ist Aidens Problem, wenn er weder das eine noch das andere braucht.
»Ich hätte gern einen Zwillingsbruder«, sagte Charlotte. »Ein Einzelkind zu sein, ist schrecklich.«
Das sagten alle, und ich hatte gelernt, dem nicht zu widersprechen. Ich erklärte ihnen nicht, dass Einzelkinder die Liebe ihrer Eltern nicht teilen müssen oder dass Alleinsein sich manchmal anfühlt wie der Himmel auf Erden und dass sie, wenn sie um die Probleme wüssten, wahrscheinlich nicht mehr so erpicht darauf wären, mit jemandem aufzuwachsen, der genauso aussieht wie sie und ähnlich denkt und spricht. Ich habe eine andere Persönlichkeit als Aiden. Eine vollkommen andere. Er ist still und nimmt immer Rücksicht auf meine Gefühle. Ich bin nicht so still, aber auch nehme Rücksicht auf meine Gefühle. Ich habe ihm das einmal gesagt, aber er hat den Witz nicht verstanden.
»Ja, es ist cool«,...




