Jr. Die Mauern der Welt hoch
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-903061-45-3
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 504 Seiten
ISBN: 978-3-903061-45-3
Verlag: Septime Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
James Tiptree Jr. (1915-1987) ist das männliche Pseudonym von Alice B. Sheldon. Tiptrees geheimnisvolle Identität faszinierte die Fans und gab Anlass zu vielen Spekulationen, freilich glaubten alle, es müsse sich um einen Mann handeln. Die Aufdeckung, noch zu ihren Lebzeiten, war ein Schlag: Diese knappen, harten und frechen Kurzgeschichten, die nur allzu häufig mit dem Tod enden, waren von einer alten Dame mit weißen Federlöckchen verfasst worden. Sie zählt unter Science-Fiction-Fans zu den großen Klassikern, gleich neben Philip K. Dick und Ursula K. Le Guin. Ihre Kurzgeschichten, die sie erst im Alter von einundfünfzig Jahren zu schreiben begann, und von denen einige wohl zu den besten des späten 20. Jahrhunderts gehören, brachten ihr schnell Ruhm und zahlreiche Auszeichnungen ein. Dennoch litt sie ständig unter schweren Depressionen und Todessehnsucht. Nach einem vorab geschlossenen Selbstmordpakt erschießt Sheldon im Alter von einundsiebzig Jahren erst ihren vierundachtzigjährigen Mann und dann sich selbst.
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Kapitel 2
Das Böse trifft Tivonel auf dem strahlenden Höhepunkt ihres Lebens. Doch anfangs merkt sie nichts von dem, was ihr bevorsteht.
Voller Eifer schwebt sie oberhalb der Hoch-Station und wartet auf den Gleiter, der von Tief heraufkommt. Ihre Hülle ist frisch gereinigt und leuchtet, zum ersten Mal seit einem Jahr hat sie wieder ordentlich gegessen. Der Morgen ist wunderschön. Unter ihr treiben drei Weibliche aus dem Stationsteam hinaus bis zum Rand des Aufwindes, der die Hoch-Station trägt, um Ausschau nach dem Gleiter zu halten. Das biolumineszente Geplapper ihrer Hüllen lässt fröhliche Orangetöne erklingen.
Tivonel räkelt sich genüsslich und kostet jeden Augenblick ihres Daseins aus. Ihr starker, anmutiger Astronautenkörper hält in dem heulenden, böigen Luftstrom, der ihr eher wie eine friedliche Wildwiese vorkommt, mühelos das Gleichgewicht. Sie befindet sich dreißig Meilen über der Oberfläche des Planeten Tyree, einer Welt, die noch kein Angehöriger ihrer Rasse je gesehen hat.
Um ihren leiblichen Körper wogt die Aura ihres Lebensenergiefeldes, unbefangen und strahlend vor Glück. Das letzte Jahr war fantastisch und ihr Einsatz in der Hohen Wildnis ein voller Erfolg. Jetzt ist es Zeit für die Belohnung, die sie sich selbst versprochen hat: Vor ihrer Rückkehr nach Tief wird sie Giadoc auf dem nahegelegenen Wachposten der Hohen Horcher besuchen.
Giadoc. Wie schön, wie außergewöhnlich er war! Wie wird er wohl jetzt sein? Denkt er noch manchmal an sie? Die Erinnerung an ihre Paarung lässt unwillkürlich eine sexuelle Verzerrung durch ihr Lebensfeld zucken. Oh nein! Hastig beherrscht sie sich. Hat jemand etwas mitbekommen? Sie sieht sich um, bemerkt jedoch keinen Schimmer von Gelächter.
Also wirklich, schimpft Tivonel sich aus, ich muss mir wieder Manieren beibringen, bevor ich mich unten in Tief unters Volk mische. Hier oben vernachlässigt man die Felddisziplin. Vater würde sich schämen, wenn er wüsste, dass ich Ahura kurz vergessen habe, die seelische Selbstbeherrschung.
In ihrem Überschwang vergisst sie sie dann schleunigst wieder.
Heute ist so ein herrlicher, unbeschwerter Morgen. Der untergehende Klang gleitet hinter die dichte obere Lufthülle von Tyree und verblasst zu einem violetten Raunen. Als es verebbt, tritt Stille ein – für Tivonel gleichbedeutend mit Tag –, die nur vom sanften weißen Zwitschern des Stationssignals unterbrochen wird. Über ihr, in der Hohen Wildnis, flackert schon die farbenprächtige Melodie der Winde von Tyree, die voller Leben sind. Vom fernen Himmel vernimmt sie leise Glockenschläge: die ersten Funken der Begleiter des Tages. Natürlich weiß Tivonel, was die Begleiter in Wirklichkeit sind: die Stimmen von anderen Klängen – von Klängen wie ihrem, nur unvorstellbar weit weg. Doch ihr gefällt die traditionelle, poetische Bezeichnung.
Was für ein schöner langer Tag heute, denkt sie. Die Hoch-Station liegt so nah am Fernen Pol von Tyree, dass der Klang in dieser Jahreszeit kaum den Horizont übersteigt. Direkt am Pol, wo sich Giadoc und die Horcher aufhalten, geht er gar nicht auf; folglich herrscht endloser, stiller Tag. Glücklich und zufrieden beobachtet Tivonel die dunklen Schichten unterhalb der Station. Dort ist fast kein Leben auszumachen. Nur ganz weit unten entdeckt sie auf den Lebensbändern ein schwaches Signal; sicher die Ausstrahlung der fernen, dicht gedrängten Leben in Tief. Wo bleibt nur der Gleiter? Ach – da! Ein naher Lebenspuls, der rasch anschwillt. Das Stationsteam düst hinunter, um zu helfen; Sekunden später hört Tivonel das leise gelbe Hupen des Signalhorns. Zeit für die Männlichen, abzureisen.
Die stattlichen Männlichen versammeln sich neben den gewebten Stationsinseln, ihre Hüllen murmeln in tiefem Rubinrot. Automatisch schwenkt Tivonels Seelenfeld in ihre Richtung. Während des einjährigen Abenteuers waren sie ihre Gefährten, die ganze Zeit hat sie über sie gewacht und sie unterstützt. Doch natürlich nehmen sie keine Notiz mehr von ihr, jetzt, da sie Väter geworden sind. Gut geschützt in ihren Beuteln tragen sie die stolzen Früchte ihrer Mission: die Kinder, die sie aus der Wildnis gerettet haben. Beim ersten Kontakt mit dem vergleichsweise sanften Wind hier unten reagierten die Kleinen ängstlich; Tivonel entdeckt vereinzelte grüne Angstschreie, die unter den Hüllen der Männlichen sichtbar werden. Die riesigen Lebensfelder der Väter ziehen sich zusammen und beruhigen die jungen ungestümen Seelen. Das Stationspersonal schwebt in respektvollem Abstand in der Luft, bemüht, keine ungebührliche Neugier an den Tag zu legen.
Die Männlichen waren großartig, denkt Tivonel jetzt anerkennend. Sie konnte sich ihre Überlegenheit nicht wirklich vorstellen, bevor sie sie in Aktion erlebte. So erstaunlich feinfühlig für alles Lebendige, so kompetent! Natürlich mussten sie sich anfangs an den stürmischen Wind gewöhnen – aber andererseits, wie tapfer sie übten, wie unermüdlich. Wie sie die schwer lokalisierbaren Signale der Verlorenen aufspürten, während sie im freien Fall durch die mächtigen Luftwirbel des Großen Windes stürzten und gar nicht genug davon bekommen konnten, genau wie die Wilden. Sie müssen Tyree wohl hundert Mal umkreist haben, während sie sie suchten, aufspürten, verfolgten, sie verloren und von neuem suchten.
Aber sie hätten das alles nie geschafft ohne mich, ohne dass ich sie führte und den Kontakt zwischen ihnen aufrechterhielt, denkt Tivonel voller Stolz. Dazu braucht es eine Weibliche. Was für ein Jahr, was für ein Abenteuer dort oben! Die unglaubliche Vielfalt des Lebens in der Wildnis, ein endlos vorbeirauschendes Geflecht von unzähligen primitiven Geschöpfen, Pflanzen und Tieren, alle pulsierend vor Energie und Lichtklängen, alle mit größeren Lebensformen verkettet. Die köstlichen ewigen Winde, aus denen unsere Rasse hervorgegangen ist. Aber ach, die lauten Nächte in dieser Höhe! Der Klang, der über ihnen durch die dünne obere Luftschicht dröhnte – das war heftig, selbst für sie. Die feinfühligen Männlichen hatten Qualen gelitten, einige hatten sich sogar ein wenig verbrannt. Doch sie waren tapfer; sie wollten diese Kinder, wie echte Väter.
Das war das Aufregendste, erinnert sich Tivonel: als die Männlichen endlich behutsam Seelenkontakt mit den Verlorenen aufnahmen und allmählich ihre primitive Lichtsprache lernten. Schließlich konnten sie ihr Vertrauen gewinnen, wenigstens soweit, um mit ihnen zu verschmelzen und ihre Erlaubnis einzuholen, die Kinder hinunter nach Tief mitzunehmen und ihnen eine ordentliche Erziehung angedeihen zu lassen. Das kann nur ein Männlicher, findet Tivonel; ich habe nicht die Geduld dazu, geschweige denn die Feldstärke.
Und wie ergriffen sie waren, als sie merkten, dass die Verlorenen bruchstückhafte Erinnerungen von früheren Generationen bewahrt hatten, aus der Zeit, als ihre Vorfahren durch die schreckliche Explosion unterhalb von Alt Tief in die Wildnis versprengt wurden. Sie sind zweifellos die letzten Überlebenden, die letzte wilde Schar, die noch übrig ist. Jetzt sind die Kinder gerettet. Äußerst befriedigend! Doch um die Wahrheit zu sagen, irgendwie bedauert sie das auch; sie würde liebend gern eine zweite Reise unternehmen.
Sie wird das alles vermissen, das weiß sie genau. Tief erscheint ihr zunehmend kompliziert und engstirnig. Natürlich möchten die Männlichen dort unten bleiben und von uns ernährt werden, das ist ganz natürlich. Aber selbst manche der jungen Weiblichen wollen sich nicht rühren, wollen nicht hier heraufkommen, in den wirklichen Wind. Und neuerdings kultivieren sie dort auch noch die unterschiedlichsten Nahrungspflanzen … Trotzdem wird sie niemals für immer unten bleiben, niemals. Sie liebt die Wildnis, den nächtlichen Lärm und alles. Ihr Vater hatte das erkannt, als er sie Tivonel nannte, Weit-Fliegerin; ein Wortspiel, das auch unzivilisiertes Kind oder Kind des wilden Windes bedeutet. Ich bin beides, denkt sie, und ihre Hülle lässt rot-gelbe Lachspitzen aufflackern. Sie wirft einen Abschiedsblick nach oben, wo Tyrees Planetenstürme in alle Ewigkeit vorbeibrausen – und keiner ihrer Rasse hat sie je gehört.
»Der Gleiter ist da!«
Das Blinkzeichen kommt von ihrer Freundin Iznagel, der weiblichen Stationsältesten. Sie haben Mühe, das Gefährt im Aufwind der Station ins Gleichgewicht zu bringen.
Der Gleiter besteht aus einem riesigen Gehäuse mit Propellerflügeln und ist ausschließlich aus Pflanzen hergestellt, die aus den tiefsten Tiefen über dem Abgrund stammen. Eine der großartigen neuen Errungenschaften derer von Tief. Ganz nützlich für Situationen wie diese, muss Tivonel zugeben. Sie selbst vertraut jedoch lieber auf die Kraft ihrer eigenen Propellerflügel.
Die Gleiterpilotin deckt das gelbe Signalhorn ab und klettert heraus, um sich zu recken. Es ist eine Weibliche in mittleren Jahren, die Tivonel noch nicht kennt. Iznagel überreicht ihr Lebensmittelpakete, und sie lässt überschwänglichen Dank erstrahlen; es ist eine lange Reise bis hier herauf, und nach den eintönigen Rationen in Tief sind die frischen, wild wachsenden Nahrungsmittel wahre Leckerbissen. Doch zuerst muss sie Iznagel ihre Erinnerung an die Windbedingungen in den tiefer gelegenen Schichten anbieten. Tivonel beobachtet, wie sich die Seelenfelder der beiden Weiblichen im Übertragungsmodus aufbauen, und spürt das Einrasten der schwachen Lebenssignale, als sie verschmelzen.
»Lebewohl, Lebewohl!« Die Stationsbesatzung flackert schon die Abschiedsgrüße. Es ist Zeit für die Männlichen, an Bord zu gehen. Aber man darf sie nicht...




