E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Juretzka Nomade
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86789-845-4
Verlag: BEBUG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Roadmovie
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-86789-845-4
Verlag: BEBUG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Deutschlands witzigster, respektlosester und originellster Autor von Kriminalromanen", lobt ihn die Welt am Sonntag, und auch Jörg Juretzkas jüngster Krimicoup reizt wieder zu Superlativen. Die Story: In der Hoffnung, zur Ruhe zu kommen, hat sich der Ex-Privatdetektiv, Ex-Kneipier und Ex-Europol-Mitarbeiter Kristof Kryszinski mit einem alten, umgebauten Militär-Lkw in die tiefste Sahara zurückgezogen. Um seinem Fahren Sinn zu geben, sucht er Vermisste, entdeckt aber meist Tote. Das ändert sich, als er die somalische Migrantin Jamilah findet. Leider handelt es sich bei ihr um eine ausgemachte Nervensäge. Doch sie wieder loszuwerden erweist sich als nahezu unmöglich. Kryszinski hat die anspruchsvolle junge Schönheit an der Backe. Und mit ihr zusammen die tödlichen Schwierigkeiten, in denen sie steckt …
In Nomade bietet Jörg Juretzka wieder alles auf, wofür seine Fans ihn lieben: abgründige Charaktere, staubtrockenen Humor und eine Story, kantig wie Steinsplitter.
Autoren/Hrsg.
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Was immer du dir abends mithilfe von Alkohol vom Leib schaffst, es holt dich am nächsten Morgen wieder ein wie ein Bumerang vor die Birne. In meinem Fall war es das zutiefst beunruhigende Gefühl, in die Läufe von gleich zwei Sturmgewehren geblickt zu haben. Warum der Afghane mich verschont hatte, blieb mir schleierhaft, aber die nüchterne Erkenntnis war, dass ich ohne seine Autorität diesen Morgen nicht gesehen hätte. Womit die Frage aufkam, was wohl anstünde, sollte der alte Mann die Nacht nicht überlebt haben. Zeit zu verschwinden, entschied ich. Zeit, mich zu verlieren, bis ich selbst nicht mehr wusste, wo ich war. Ich weiß nicht, ob es gute Orte gibt, um mit einem Wodka-Schädel aufzuwachen, aber selbst im Vergleich zu einer russischen Ausnüchterungszelle gehört die Wüste definitiv nicht dazu. All das unausweichliche grelle Licht und die rasch steigende Hitze haben brutal entziehende Tendenzen. Ich kochte mir einen steifen Pfefferminztee, den ich mitnahm, als Bella und ich noch mal hoch auf die Felsen stiegen, wo ich mich nach allen Seiten umsah. Keine Staubfahnen, überhaupt keine Anzeichen von Bewegung irgendwo. Grandiose Menschenleere, Balsam für die Nerven. Zurück im Truck mischte ich Trockenfutter mit Püree und sah zu, wie Bella sich mit einem Ausdruck nahe der Verzückung darüber hermachte. Mir selbst reichte ein Keks, und noch ein Tee gegen den trockenen Hals. Becher in der Hand, drehte ich eine Runde um den Truck, kontrollierte, ob alles reisefertig ist. Etwas wie ein Schatten war über mein Nomadendasein gezogen, eine neue Verunsicherung, eine gefühlte Notwendigkeit, den Risikofaktoren der Gegend besser gewappnet zu begegnen. Nur einer nachsichtigen Laune des Afghanen gehorchend noch am Leben zu sein, weckte den intensiven Wunsch, nicht noch mal eine solche Ohnmacht erleben zu müssen. Ich musste Mombassa sehen, mir seinen Rat holen. Also zurück nach Tamanrasset, mehr oder weniger meinen Spuren folgend. Eher weniger, beschloss ich. Wir waren so ziemlich mittig durch die beiden großen Ergs hergekommen, doch die Mitte ist in dem Fall die naheliegendste Route, mit den wenigsten Verwerfungen und damit einfacher zu fahren und ökonomischer, was den Spritverbrauch anging, immer ein Thema, wenn liegenzubleiben dich mehr kosten kann als nur ein bisschen Zeit und Ungemach. Demnach ist die naheliegendste Route aber auch die, auf der man am ehesten Verkehr begegnet, etwas, auf das ich im Moment noch weniger Bock hatte als eh schon. Mein Dieselvorrat war ausreichend, um einen Tag oder auch zwei durch eine der den Ergs vorgelagerten, mittelschweren Dünenformationen in Kauf nehmen zu können. Ich musste mich nur entscheiden, welche. Die südliche würde größere Nähe zur Grenze bedeuten und damit ein höheres Risiko, von misstrauischen Patrouillen gestoppt und unter die Lupe genommen zu werden. Seit die EU Milliarden in die Kontrolle der Grenzregionen der südlichen Sahara pumpt, um schwarzafrikanische Migranten möglichst früh abzufangen und erst gar nicht mehr bis zum Mittelmeer kommen zu lassen, quert man diese Grenzen am besten zügig und im stumpfen Winkel, man jückelt nicht an ihnen entlang. Deshalb fiel es mir nicht schwer, mich für die nördliche Variante zu entscheiden. Also los. Irgendwie fühle ich mich immer besser, sobald ich am Steuer sitze und unterwegs bin. Die Illusion von Kontrolle, wahrscheinlich, das Gefühl, mit dem Lenkrad in der Hand und dem Fuß auf dem Gas Herr über sein Schicksal zu sein. Nun denn, ich gab mich ihm hin. Wir rollten in Richtung Osten, über festen Grund, dem neu aufkommenden Wind entgegen, der die Staubfahne hinter uns verwirbelte. Das Vorwärtskommen verlief problemlos, die Sicht war frei, die Ebene verlassen. Gegen Mittag hielt ich an, kletterte auf den Dachgepäckträger. Wir waren der Mittelpunkt eines kreisrunden Horizonts, und nach wie vor allein. Allmählich löste sich meine Beklemmung. Wie lange war ich hier jetzt schon unterwegs? Und was war mir bisher zugestoßen? Ein paar unangenehme Begegnungen, aber die hat man am Rhein-Herne-Kanal genauso. Ordnungsamtsmitarbeiter, um nur ein Übel beim Namen zu nennen. Gestern war eine Ausnahmesituation gewesen, aber zusammen mit dem Fund der beiden toten Briten auch ein Weckruf. Wollte ich mich und meinen Hund besser schützen, musste ich etwas ändern, das war beschlossene Sache. Nach einem ausgiebigen Nickerchen vertraten Bella und ich uns die Füße, fanden die Gegend aber bald langweilig und nahmen unsere Plätze in der Fahrerkabine wieder ein. Gegen Abend bekamen wir den ersten weichen Sand unter die Reifen. Da sich das die nächsten beiden Tage kaum ändern würde, hielt ich an und holte das Manometer aus der Werkzeugkiste. Die Wüstentruckreifen haben flexiblere Flanken als normale Lkw-Reifen, so dass man Druck ablassen kann, bis sie unten in die Breite gehen, ohne damit die Karkasse zu schädigen. Wer jemals den Fuß eines Kamels betrachtet hat, wird ahnen, woher die Inspiration für diese Konstruktion gekommen sein mag. Reifen weich und breit, fuhren wir weiter, bis die Sterne aufgingen, und stoppten dann hinter einer der ersten richtigen, sich über die wellige Fläche erhebenden Dünen. Die Mondsichel kam über den Horizont gekrochen, ich holte Tisch und Stuhl raus, fütterte Bella. Mir selbst rührte ich eine Paste aus Kräutern, Tomatenmark und Öl zusammen, knetete den tags zuvor angesetzten Hefeteig durch, rollte ihn auf einem Backblech aus, schmierte die Paste obendrauf und schob das Blech in den Ofen. Ein paar Minuten später war die Pizza fertig, dazu eine Kanne Tee. Ich nahm beides mit hinaus. Keine Drogen heute, nur ein vernünftiges Abendessen, ein ausgedehnter Spaziergang, eine lange, kontemplative Betrachtung des Himmels, begleitet vom kaum wahrnehmbaren Zischeln, das der Sand verursacht, wenn ihn der Wind bewegt. Ich erwachte erholt und voller Tatendrang. Wälzte mich aus meinen Decken, stand auf, sah mich blinzelnd um. Der Wind hatte zugenommen, sein Sandgehalt auch. Unsere Spuren vom Vorabend waren weggeblasen, sowohl die Reifen- als auch die Fußspuren, nicht mal mehr zu ahnen. Was einen beim Anblick von Wüstendünenlandschaften immer am meisten in den Bann schlägt ist dieser Eindruck vollkommener Unberührtheit, die sich am ehesten mit Neuschnee vergleichen lässt. So gesehen fühlt man sich hier jeden Morgen aufs Neue wie der Zeitungsbote nach einem stürmischen nächtlichen Wintereinbruch. Okay, ohne die Kälte, die nassen Socken und die ganzen verfluchten Zeitungen, natürlich. Und ohne dass einem die übereifrigen Räumfahrzeuge die ganze Pracht noch vor dem Morgengrauen zu unansehnlichen Haufen zusammenschieben und den Rest mit Streusalz in Matsch verwandeln. Aber so ähnlich, halt. Vollkommene Unberührtheit, unglaubliche Weichheit der Linien, atemberaubende Schönheit, das war, worauf ich hinausgewollt hatte, bevor es ein bisschen mit mir durchging. Der Tag wurde bei allem Liebreiz der Umgebung fahrerisch hart, lang und zäh. Im weichen Sand musst du dir Zeit lassen, mit einem nervösen Gasfuß kommst du meist nicht weit. Das Beste ist, man schraubt das Standgas hoch, legt sämtliche Sperren ein, wählt einen Gang, mit dem der Motor glücklich zu sein scheint, und lässt den Truck sich seinen Weg durch die Dünen bahnen wie ein Schiff durch raue See. Mein Job dabei war, die Richtung im Auge zu behalten und alles zu umkurven, was mir zu hoch oder zu steil vorkam. Gegen Mittag hielt ich an, stieg aufs Dach und ließ meinen Blick schweifen über eine Welt aus Sand. Zum Glück ist Wüstensand zu rundkörnig für die Betonherstellung, sonst wäre die halbe Sahara wohl schon längst durch den Mischer gewandert und irgendwo auf der Welt zu kantiger Infrastruktur erstarrt. Bella und ich teilten uns eine Decke, rollten uns im Schatten zusammen und verschliefen die Mittagshitze. Danach brühte ich mir einen Instantkaffee, kippte ihn in einen Thermobecher, den ich mit nach vorn nahm. Wir fuhren mit kurzen Pausen weiter, bis die Dunkelheit hereinbrach, und dann noch ein Weilchen. Der Mond nahm jetzt Nacht für Nacht weiter zu, sein Licht hell genug, um bei langsamer Fahrt die Scheinwerfer aus lassen zu können, was ich auch tat. Irgendwann wurde ich müde und Bella unruhig, und ich war drauf und dran, anzuhalten, als es am Horizont vor uns aufblitzte. Dann noch mal. Ich ließ den Truck noch eine Düne erklimmen, stoppte. Scheinwerfer wippten über einen Kamm, verschwanden in einem Tal, leuchteten gen Himmel, in unsere Richtung, in die Tiefe, verschwanden, nur um gleich darauf wieder aufzutauchen. Ein leichtes Geländefahrzeug, das sich mit einigem Tempo auf uns zubewegte. Noch war die Distanz zu groß, als dass sie uns hätten sehen können, unbeleuchtet, wie wir waren, doch schon bald würde das anders sein. Was ich bei meiner Routenwahl möglichst nah am nördlichen Erg vorbei nicht recht bedacht hatte war, hier unter Umständen auf Leute zu treffen, die genau wie ich nicht gesehen werden wollten. Ich kuppelte ein, der Truck senkte seine Nase, ich drehte das Lenkrad nach links, Richtung Norden, Richtung Erg. Wir wühlten uns durch ein mäanderndes Dünental, dessen Hänge links und rechts beständig steiler wurden, unpassierbarer, bis nach einer Biegung Schluss war. Wir hatten uns in einen Trog vorgearbeitet, eine Sackgasse. Ich brauchte die Bremse nicht zu berühren, in Sand von dieser Tiefe trittst du die Kupplung und stehst. Hier würden wir bleiben, entschied ich, und uns morgen bei Tageslicht irgendwie wieder rausackern aus diesem Labyrinth. Ich ließ die Treppe runter und nahm Bella mit auf einen Erkundungsgang. Wir erklommen die nächste Düne, schweißtreibend selbst in der Kühle der Nacht, der Untergrund weich wie Babypuder, so dass längst nicht jeder Schritt...